INSEKTEN Mehr gepiekt
Dem Pianisten Claudio Arrau verpaßten sie eine dicke Unterlippe, den Flensburger Zahnarzt Harm Wilkening molestierten sie am großen Zeh, den Hamburger Jäger Gundolf Rissmann trafen sie an der Stelle der Tapferen - »zweimal, rums, bums, mitten zwischen die Augen«.
»Diese Wespen«, klagte die »Westdeutsche Allgemeine« letzte Woche, »sie können einem das Leben schon ganz schön zur Hölle machen.« Im Norden der Republik registrierte die »Hamburger Morgenpost« eine »gefährliche Wespenplage«; »Bild« warnte: »Die wilden Wespen greifen an« - als sei plötzlich ein Stamm mordlustiger Killerwespen über die Deutschen gekommen. Und für die »Welt am Sonntag« ist nicht etwa Franz Josef Strauß die größte »Plage des Sommers«, nein, »die Wespen« sind es.
Vornehmlich in Nord- und Westdeutschland, aber auch in Teilen von Bayern und Baden-Württemberg gibt es in der Tat so viele Wespen wie seit Jahren nicht mehr. »Und wo viel herumfliegt«, so der Biologe Hermann Geffken vom Niedersächsischen Landesinstitut für Bienenforschung, »da werden nun mal mehr Menschen gepiekt.«
Dutzende von Patienten, denen nach Stichen in Zunge oder Hals der Erstickungstod droht oder die gegen Wespengift allergisch sind, werden derzeit täglich in die Krankenhäuser eingeliefert - manchmal freilich kommt die Hilfe zu spät: Ende vergangenen Monats starb in Berlin ein Mann am allergischen Schock, nachdem er von einer Wespe in den Fuß gestochen worden war.
Allein an Berlins Seen müssen die Helfer der Arbeitsgemeinschaft Wasserrettungsdienste jedes Wochenende rund 200 Wespenopfer ärztlich versorgen - bisweilen an delikater Stelle, denn angesichts der Freikörpermode bleibt kein Glied verschont.
In verseuchten Regionen fallen die Tierchen aus der Familie der bestachelten Hautflügler scharenweise über Marmeladenbrötchen und Kuchen her, Fleischstücke schrumpfen unter dem massierten Einsatz ihrer Kieferzangen zu unappetitlichen gräulichen Klumpen, so eklig wie eine Beuyssche Fettplastik.
»Auf dem Balkon oder im Garten«, so ein Hamburger, »konnte man zeitweise nur mit der Fliegenklatsche oder wild fuchtelnd essen.« Gerade solche Hektik freilich macht die Wespen, von Hause aus eher friedfertige Naturen, nervös und aggressiv: Wespen stechen nur, wenn sie sich bedroht fühlen.
Lästig werden ohnehin nur zwei der acht in Deutschland verbreiteten Arten: die deutsche (germanica) und die gemeine (vulgaris) Wespe, die in einem Staatengebilde organisiert sind, an dem radikale Feministinnen ihre Freude hätten. Allein die Weibchen zählen, die Männchen fliegen bald aus dem Nest und sterben, wenn sie ihre kopulativen Pflichten erledigt haben.
Weitgehend rätselhaft hingegen ist den Wissenschaftlern bislang, weshalb bei den Wespen von Zeit zu Zeit Bevölkerungsexplosionen wie in diesem Jahr stattfinden. Eine der Ursachen könnte - so meinen sie - die milde Witterung während der letzten zehn Monate sein: *___Wegen des warmen Winters haben überdurchschnittlich ____viele der befruchteten Weibchen überlebt, dann im ____Frühjahr als Königinnen Nester gebaut und Eier gelegt - ____so entstanden mehr Völker als in normalen Wespenjahren. *___Der extrem warme Sommer ermöglichte es den Wespen, ____regelmäßig zur Nahrungssuche auszuschwärmen - ____Hungerkatastrophen blieben aus, die Populationen ____vermehrten sich ungebremst.
Doppelt so oft wie im vergangenen Sommer mußten deswegen die Feuerwehren etwa in Rheinland-Pfalz ausrücken, um Wespennester aus Wohnhäusern oder von Kinderspielplätzen zu entfernen - mal auf die sanfte Tour mittels einer Dusche aus dem Schlauch, mal nach dem alten Kammerjäger-Rezept: »Bringen Wespen dich in Not, sprühe Gift, dann kommt der Tod.«