»Mein Nachfolger muß sich von selbst hervortun«
SPIEGEL: Herr von Karajan, nach Ihrer schweren Operation vor über drei Jahren sind Sie nach Ihren eigenen Worten ein völlig anderer Mensch geworden. Wieso?
KARAJAN: Ich bin als Bub einmal 25 Meter tief hinuntergefallen. Vermutlich habe ich mir damals den ersten Knacks in der Wirbelsäule geholt. Ende 1975 wurde dann jene achtstündige Operation erforderlich, durch die im letzten Augenblick eine Querschnittslähmung verhindert werden konnte.
SPIEGEL: Letzten Herbst stürzten Sie vom Podium ...
KARAJAN: ... und hatte meine Nerven von oben bis unten eingequetscht. Ich mußte wieder richtig gehen lernen. In ein paar Monaten hoffe ich das wieder völlig überstanden zu haben.
SPIEGEL: Was an Ihnen ist denn nun nach alldem anders geworden?
KARAJAN: Ich habe ein ganz neues Lebensgefühl. Jeder Bissen Brot, jeder neue Tag, die Natur vor allem machen mich glücklich. Über zehn Jahre lang habe ich mich mit körperlichen Leiden herumschlagen müssen. Jetzt verstehe ich das Buch Hiob.
SPIEGEL: Dieser von Schmerzen Gewandelte paßt aber kaum zu dem Bild, das in der Öffentlichkeit von Ihnen verbreitet wird.
KARAJAN: Wie meinen Sie das?
SPIEGEL: Während der Salzburger Osterfestspiele war Ihre Geburtsstadt mal wieder mit Photos tapeziert, die Sie in der drahtigen Pose des Piloten und Porsche-Fahrers zeigten.
KARAJAN: Es mag da Ausrutscher geben. Aber da müßten Sie die Leute fragen, die derlei ausstellen und damit Reklame machen. Ich bin für den Unsinn nicht verantwortlich, der über mich verbreitet wird.
SPIEGEL: Gehört dazu auch die Meldung, Sie würden in die Karibik auswandern?
KARAJAN: Auch so ein Blödsinn, an dem nichts stimmt. Man hat ja auch gesagt, mein Esel sei in eine Jauchegrube gefallen. Darauf habe ich erwidert, er ist nicht hineingefallen, sondern ich habe ihn persönlich hineingeworfen, wieder herausgeholt und mit Eau de Cologne abgerieben.
SPIEGEL: Wer lanciert solche Enten?
KARAJAN: Seit wenigstens 30 Jahren verfolgen mich immer dieselben Klischees. Das fängt mit der Behauptung an, ich hieße Karajanopoulos. Ich heiße Karajan und trage diesen Namen mit größter Freude und Stolz.
SPIEGEL: Noch mal -- wer bringt denn die Klischees in Umlauf?
KARAJAN: Das ist irgendeine Gruppe von Leuten, die sich gleich nach dem Kriege geschworen haben: Wir müssen diese Karriere stören und zerstören. Das war genau geplant.
SPIEGEL: Welche Gruppe hat da geschworen?
KARAJAN: Diese Leute greifen alle negativen oder negativ dargestellten Sachen auf, weil ich eine Karriere ohne oder gar gegen die Presse gemacht habe.
SPIEGEL: Also war es wieder mal die Presse?
KARAJAN: Es war vor allem die Wiener Presse. Die haben gewisse Personen gefördert, weil sie gesagt haben: Wir wollen bestimmen, wer gut ist und wer durchkommt. Aus meiner Lebenserfahrung weiß ich heute, daß es gegen solche Machenschaften nur eine einzige Waffe der Verteidigung gibt: die Qualität der Arbeit.
SPIEGEL: Aber die Presse hat schließlich ja auch die Qualität Ihrer Arbeit anerkannt.
KARAJAN: Sicher. Aber manche Leute hat diese Qualität erst recht wild gemacht, und die haben angefangen, sinnlos um sich zu schlagen und die Qualität herunterzureißen. Aber in den Jahren, die mir zu arbeiten noch vergönnt sind, werde ich unbeirrt weitermachen.
SPIEGEL: Fühlen Sie sich denn von der Presse mißverstanden?
KARAJAN: Nein. Aber es ist doch interessant zu beobachten, daß viele deshalb über den hohen qualitativen Standard nur deshalb schimpfen, weil sie ihn selbst nicht erreichen. Was ich erschreckend finde, ist der heute so ungeheure Grad der Unprofessionalität.
SPIEGEL: Inwiefern?
KARAJAN: Jeder macht im Grunde genommen das Gegenteil von dem, was er eigentlich machen sollte und vielleicht auch kann. Sänger und Pianisten fangen mir nichts dir nichts an zu dirigieren, als brauchte man das nicht zu lernen.
SPIEGEL: Aber Ihren Marktwert haben solche modischen Tendenzen doch niemals schmälern können, oder?
KARAJAN: Da heißt es immer: Der sahnt bloß ab. Aber warum wird denn gerade mein Orchester, die Berliner Philharmoniker, die ich jetzt rund 25 Jahre leite, immer wieder verlangt? Soll man Mercedes etwa vorwerfen, daß sie gute Autos bauen? Als wir die Schallplatten-Kassette der »Neuen Wiener Schule«...
SPIEGEL: ... mit Musik von Schönberg, Berg und Webern ...
KARAJAN: ... fertig hatten, da hat man den Absatz so auf 800 Stück geschätzt. Nach drei Monaten war ein Stapel verkauft von der doppelten Höhe des Eiffelturms.
SPIEGEL: Und was beweist das?
KARAJAN: Daß das Publikum durchaus das richtige Empfinden für Qualität besitzt. Wir haben an diesen sehr schweren Werken ein halbes Jahr intensivst gearbeitet und sie nicht einfach, so mit drei Proben, heruntergespielt, wie das manchmal bei Veranstaltungen für Neue Musik der Fall ist.
SPIEGEL: Sie, Herr von Karajan, besitzen aber auch ein recht gesundes Empfinden für Quantität und haben allein die populären neun Beethoven-Symphonien schon dreimal eingespielt.
KARAJAN: Warum wirft man mir immer vor, er macht pausenlos Platten? Ich gehe ja nicht mit vorgehaltener Pistole zu einem Manager und erpresse mir die Verträge. Sie werden mir angeboten. Das macht die Leute wild. Wenn die neuen Erfindungen, zum Beispiel das digitale Aufnahmeverfahren, kommen, werden wir dieselben Sachen wieder machen, weil mir durch die technische Entwicklung immer neue Möglichkeiten geboten werden, deren ich mich bedienen will und muß, zum Wohle dieser Meisterwerke. Ich wehre mich gegen das Klischee, als ob ich mit einem Musterkoffer daherkäme und flott ein paar Stücke abziehen würde.
SPIEGEL: Sie haben eben die heutige Unprofessionalität beklagt. Was tun Sie denn dagegen?
KARAJAN: Im Rahmen meiner Berliner Stiftung halte ich seit 1969 regelmäßig Dirigenten-Wettbewerbe ab, von deren Preisträgern heute schon viele einen Namen haben. In Berlin gibt es daneben eine Orchester-Akademie, die den Nachwuchs an Orchestermusikern fördert. Im vorigen Herbst veranstalteten wir zum fünftenmal ein internationales Treffen der Jugendorchester.
SPIEGEL: Spielt Deutschland bei diesen internationalen Begegnungen eigentlich noch eine erste Geige?
KARAJAN: Als ich das bundesdeutsche Jugendorchester probte, da habe ich zu einer Gruppe von acht Instrumentalisten gesagt, die die Sache reichlich einfach nahmen: Meine Herren, soviel Ton wie Sie gibt bei den Philharmonikern ein einziger Musiker her. Ensembles aus Polen und Rußland beispielsweise haben gespielt, daß uns der Atem wegblieb. Ein wenig herrscht in Deutschland der Trend, die Dinge gehenzulassen. Die jungen Deutschen müssen begreifen, daß harte Arbeit nötig ist, sonst werden sie total überrannt.
SPIEGEL: Haben Sie ähnliche Erfahrungen auch in der Orchester-Akademie gemacht?
KARAJAN: Nein, diese Sache geht inzwischen so gut, daß wir ganz Deutschland beliefern. Manchmal ruft irgendein großes Orchester an und fragt nach einem Pauker oder Flötisten. Dann sage ich: Ja, den haben wir, er kann zu Ihnen kommen und probespielen. Und dann wird mir oft entgegnet: Nein, das braucht er nicht, er wird schon gut sein, wenn er von Ihnen kommt. Und mein Nachfolger bei den Philharmonikern ist derzeit für wenigstens 20 Jahre sicher, den besten Nachwuchs zu haben.
SPIEGEL: Sie finden es also nicht mehr pietätlos, über Ihren Nachfolger zu reden?
KARAJAN: Unsinn, ich tue ja nichts anderes, als mich darum zu kümmern. Ich habe in meiner Jugend sehr darunter gelitten, daß in einem erbarmungslosen Konkurrenzkampf jeder Kollege versuchte, seinen Einfluß dahingehend auszuüben, die Karriere des anderen zu behindern.
»Nachfolger
aus natürlicher Auswahl.«
SPIEGEL: Und wie wollen Sie das jetzt im Alter verhindern?
KARAJAN: Ich habe vielen jungen Musikern geholfen, irgendwie sind sie alle durch meine Schule gegangen. Und zu denen habe ich gesagt: Ich werde euch keine Schwierigkeiten machen, aber ich jage euch eine neue Generation von Dirigenten nach, und mit denen werdet ihr es zu tun haben, nicht mit mir.
SPIEGEL: Die Jagd ist also offen in die Berliner Philharmonie?
KARAJAN: Wir wollen jetzt ganz bewußt eine kleine Anzahl von bekannten Dirigenten dazu bringen, einen längeren Zeitraum wenigstens fünf oder sechs Konzerte im Jahr -- in Berlin zu dirigieren.
SPIEGEL: Konkrete Namen, bitte!
KARAJAN: Das sind immer dieselben: Herr Zubin Mehta, Herr Seiji Ozawa und auch Herr Klaus Tennstedt, der sich kolossal macht. Was ich vermeiden möchte, ist eine große Ratlosigkeit, wenn
ich mal nicht mehr dirigieren kann. Dann könnte nämlich durch falsche Verbindungen oder eine falsche politische Situation der Falsche kommen. Mein Nachfolger muß sich aus einer natürlichen Auswahl selbst und von selbst hervortun.
SPIEGEL: Eskaliert das nicht aber zu einem bitteren Machtkampf?
KARAJAN: Wieso denn? Die sollen ruhig eine gewisse Zeit nebeneinander dirigieren. Dann wird sich das von selbst ergeben. Ich stelle allerdings eine einzige Bedingung: Derjenige, der"s wird, darf leitend nicht ein anderes Orchester haben. Ich habe seinerzeit auch praktisch alles aufgegeben, um Chefdirigent auf Lebenszeit zu werden. Das hat sich bewährt, daran muß sich auch mein Nachfolger halten.
SPIEGEL: Und was wird aus Ihren Salzburger Osterfestspielen?
KARAJAN: Das muß jemand machen, der nicht nur die Autorität der Führung hat, sondern auch das Risiko der Finanzierung trägt. Sonst verkümmert es zu einer billigen Palette von Konzert und Oper, um die sich die Agenturen rangeln. Den Namen ...
SPIEGEL: ... Osterfestspiele Salzburg« ...
KARAJAN: ... nehme ich allerdings mit mir ins Grab.
SPIEGEL: Ihr Nachfolger, in Berlin und in Salzburg, könnte eines Tages vor dem Dilemma stehen, überhaupt keine Sänger mehr zu finden. Wollen Sie nicht etwas gegen das Defizit an guten Stimmen unternehmen?
KARAJAN: Sie haben recht, die Situation ist erschreckend. Deshalb will ich jetzt endlich ein Projekt für junge Sänger starten, das ich seit Jahren mit mir herumwälze.
SPIEGEL: Würden Sie das bitte mal erläutern?
KARAJAN: Zunächst lassen wir uns von den Bewerbern Tonbänder schicken. Diese Stimmproben bewertet eine Kommission von Fachleuten. Die Top-Talente werden dann drei Wochen zu Ostern, zwei zu Pfingsten und vier bis fünf Wochen im August nach Salzburg eingeladen, von der Stiftung. Ich werde Lehrer engagieren, die hervorragend mit Sängern arbeiten können, natürlich auch Italiener für das italienische Fach, und neben Oper auch für Konzert und Oratorium.
SPIEGEL: Welche Rolle spielen Sie?
KARAJAN: Die Leitung liegt bei mir. Ich höre mir die Gesangsvorträge an und werde selbst mit den jungen Leuten arbeiten. Am Schluß findet ein Wettbewerb statt.
»Talente
gibt es genügend.«
SPIEGEL: Erster Preis ein Auftritt mit Karajan?
KARAJAN: Wenn die jungen Leute diesen Punkt erreicht haben, brauchen sie mich nicht mehr. Talente -- das wird sich da zeigen -- gibt"s genügend, man muß ihnen nur zeigen, wie"s gemacht wird. Das, ehrlich gesagt, können die heutigen Dirigenten nicht.
SPIEGEL: Und warum nicht?
KARAJAN: Ganz einfach: Wenn einer es könnte, dann ist er bereits irgendwo Generalmusikdirektor und macht nur noch Karriere.
SPIEGEL: Wann soll Ihr Sängerkrieg auf der Salzburg beginnen?
KARAJAN: Ich hoffe, im kommenden Jahr bereits. Das wird auch hochinteressant für die Schallplatten-Industrie
SPIEGEL: ... und wohl auch für jene Ihnen angeblich mißgesonnene Gruppe, die Ihnen erneut die Vermarktung der Musik vorwerfen wird.
KARAJAN: Was heißt denn das! Immer das Gerede. aus allem würde ich Geld schlagen. Kein Mensch fragt danach, wohin das Geld geht.
SPIEGEL: Doch, wir. Wohin geht es denn?
KARAJAN: ich habe drei Stiftungen. Die kosten viel Zeit und noch mehr Geld. Ich gebe ihnen beides, durch Vorbereitung, Durchführung und Erhaltung. Ich sehe meine Berufung nicht darin, wie meine Kollegen von einem Konzert ins andere zu rasen und die letzte Mark zusammenzukratzen, während ich Unterricht gebe, die Osterfestspiele organisiere und dirigiere.
SPIEGEL: Wieviel dirigieren Sie denn eigentlich?
KARAJAN: 14 bis 16 Konzerte in Berlin, achtmal zu Ostern in Salzburg. viermal zu Pfingsten, dann bei den Salzburger Sommerfestspielen und auf zwei Konzertreisen. 60mal im Jahr, das ist alles. Ich kenne viele Kollegen, die machen 220 Abende pro Jahr.
SPIEGEL: Und sind doch nicht so mächtig wie Sie.
KARAJAN: Was heißt denn das --
mächtig? Genauso ein Klischee wie: Der jagt mit seinem Turbo-Porsche durch die Welt und gehört zum Jet-set.
SPIEGEL: Der Porsche-Fan Karajan prangt in Salzburgs Gassen.
KARAJAN: Am Porsche fasziniert mich die Technik und daß sie funktioniert. Das ist wohl auch erlaubt. Und ich gehöre nicht zum Jet-set, was immer das überhaupt ist. Ich gehe auf keine Party. Was ich liebe, ist das Gespräch mit einem oder zwei Menschen, bei dem ernsthaft diskutiert wird. Mich interessieren eigentlich nur Leute, von denen ich was lernen kann. Mein ganzes Leben lang habe ich nur lernen wollen. Party-Geschwätz paßt nicht in mein Dasein. Ich habe Besseres zu tun.
SPIEGEL: Besseres wäre vielleicht auch mal eine Oper außerhalb Salzburgs und Wiens. Warum haben Sie seit Jahren kein anderes Opernhaus mehr betreten?
KARAJAN: Was ich im Salzburger Festspielhaus in 15 Tagen schaffe, dafür brauchte ich in einem Repertoire-Theater 60 Tage, 60 Tage in einem Theaterkalender entsprechen vier Monaten. Das ist schlicht unmöglich.
SPIEGEL: Wie soll ein Kollege von Ihnen jemals die von Ihnen gepriesene Qualität erreichen, wenn er nicht unter solchen Idealbedingungen arbeiten kann wie Sie in Salzburg: als Alleinherrscher?
KARAJAN: Ich habe diese Bedingungen selbst herausgefunden, selbst perfektioniert, und ich habe gedacht, es werden einige so klug sein, es nachzumachen. Es ist ja ein gutes Rezept. Nichts, kein Mensch. Manche hinken eben 60 Jahre hinter der Zeit. Alle Künstler, die wir nach hier einladen, haben genau dieselben Bedingungen. Kein Mensch kann mir da je irgendeinen Vorwurf machen. Alle haben Chancengleichheit.
SPIEGEL: Fasziniert Sie an Salzburg aber nicht auch Ihr elitäres Publikum?
KARAJAN: Als ich die Orchester-Akademie eingerichtet habe, sagte mir jemand: Es wird so wahnsinnig viel bei Ihnen verlangt. Wollen Sie das auch nach dem elitären Prinzip aufziehen? Ich antwortete ihm: Nein, nicht nach dem elitären, nach dem superelitären Prinzip. Wem das nicht paßt, der muß sich einfach nicht melden.
SPIEGEL: Also fasziniert Sie Ihr superelitäres Publikum?
KARAJAN: Ach, wissen Sie, das Cup-Finale ist auch nicht billig. Mich interessieren die Perlen und die Abendkleider nicht. Die Arbeit, die ich mache, und die Perfektion, die ich anstrebe, kosten eben Geld. Ich könnte es billiger machen, und wir haben's auch schon versucht, beispielsweise mit der kostenlosen Generalprobe. Da haben die Leute die Eintrittskarten auf dem schwarzen Markt gehandelt. Man hat auch festgestellt, daß die Leute bei Gratis-Veranstaltungen die Nase rümpfen: Was nichts kostet, sagen die dann, das kann auch nichts wert sein. Qualität ist eben teuer, sie muß bezahlt werden. Ohne Frage ist unser Publikum vom Verständnis her fabelhaft, eine wirkliche Familie.
SPIEGEL: Und was eint diese Familie außer dem Magneten Karajan?
KARAJAN: Vor allem ist es der Positivismus, der in der symphonischen Musik den Menschen das gibt, was sie im heutigen Alltag vermissen. Das Wühlen im eigenen Elend führt doch zu nichts. Aber die Beschäftigung mit etwas, was einen innerlich erhöht, bringt wahren Gewinn.
SPIEGEL: Führen Sie deshalb auch immer wieder die Schlager des klassisch-romantischen Repertoires auf?
KARAJAN: Wenn ich mir heute irgendein Werk erarbeite, dann müssen Sie doch damit rechnen, daß in Deutschland vielleicht Hunderttausende das Stück auf der Platte hören, an
* Karajan (r.).
dere wollen es live erleben, folglich muß ich es ihnen geben. Manche mögen auch ganz klug kalkulieren und sagen: Eines Tages ist Herbert von Karajan tot, und wir haben ihn nicht gehört. Das ist ja auch jetzt, in meinem Alter, für viele Menschen eine Anziehung. Deswegen kann man doch nicht sagen, er macht immer dasselbe. Mit einer ganz geringen Einbuße an Qualität könnte ich 35 bis 40 Abendprogramme dirigieren, eins nach dem anderen, weitere 40 bis 50 mit zwei Proben.
SPIEGEL: Welches Werk haben Sie sich denn neu erarbeitet?
KARAJAN: Beispielsweise die Vierte Symphonie von Mahler. Dafür nehme ich mir eineinhalb bis zwei Jahre Zeit. Ich könnte es in zwei Wochen auswendig lernen, aber ich mag so etwas nicht routinemäßig abziehen. Am Zen-Buddhismus fasziniert mich ja auch, daß die sagen, was du tust, tu in dem Moment und denke in dem Moment nur daran. Die meisten Menschen denken beim Essen an die Arbeit und bei der Arbeit ans Essen. Das ist falsch.
SPIEGEL: Aber in der Oper denken Sie doch auch beim Dirigieren an die Bühne. Müssen Sie eigentlich immer selbst Regie führen?
KARAJAN: Schon vor vielen Jahren ist mir klargeworden, daß ich Musik machen kann nur zu einer Inszenierung, die ich als optischen Ausdruck der Musik sehe, die ich dirigiere. Ich brauche die vollständige Harmonie. Heute ist die Bühne doch oft reiner Selbstzweck.
SPIEGEL: Meinen Sie das moderne Regietheater?
KARAJAN: Da ist doch nichts mehr normal. Die Herren machen irgend etwas Verrücktes, vielleicht ein halbes geschlachtetes Kalb auf die Bühne hängen, und darüber wird dann lang in den Zeitungen geschrieben. Über den Dirigenten braucht man bei solchen Anlässen ja kein Wort mehr zu verlieren, der steht ja unten im Graben und dirigiert bloß.
SPIEGEL: Ist das nicht übertrieben?
KARAJAN: Überhaupt nicht. Neulich fragte mich jemand: Wo siedeln Sie das Stück an? Ich habe geantwortet: Ich siedle es in der Musik an, daraus ist es nämlich entstanden, und da soll es auch bleiben.
SPIEGEL: Ist modernes Regietheater demnach Scharlatanerie?
KARAJAN: Die Leute sind nicht imstande, die Bedingungen zu erfüllen, die die Werke stellen. Oft kennen sie sie überhaupt nicht. Bitte, von mir aus kann jeder machen, was er will; nur würde ich ihn mir nicht als Partner suchen. Deshalb konnte ich auch mit Wieland Wagner nicht zurechtkommen. Er lehnte alles Frühere ab, die Wunde saß sehr tief, und so hat er einfach alles weggelassen, was eigentlich hingehörte.
»Rheintöchter --
wirklich in den Tiefen.«
SPIEGEL: Der Regisseur Karajan braucht zwar kein geschlachtetes Kalb, wohl aber die ganze Trickkiste Hollywoods.
KARAJAN: Wie meinen Sie das?
SPIEGEL: Für die Verfilmung von Wagners »Rheingold« haben Sie doch den Trick-Spezialisten Dick Parker aus den USA engagiert.
KARAJAN: Die Verfilmung einer Oper folgt ganz anderen Gesetzen als die Bühne. Der Opernfilm kann und muß tausendmal mehr zeigen als das Opernhaus.
SPIEGEL: Und was zeigt Dick Parker, der Bastler am »Weißen Hai«, auf dem Grunde von Wagners Rhein?
KARAJAN: Er, dieser Meister seines Faches, hat alle technischen Möglichkeiten geschaffen, daß der Zuschauer erstmals den Eindruck hat, die Rheintöchter würden wirklich in den Tiefen schwimmen, und das ist eigentlich eine Voraussetzung dieser Szene und ihres Verständnisses. Wir haben die technischen Errungenschaften des Films genutzt, um eine optisch glaubhafte Form des »Rheingold« zu finden, um den Sinngehalt dieses Werkes wirklich verständlich zu machen.
SPIEGEL: Geht das tatsächlich nur im Leinwand-Flimmer?
KARAJAN: Ich habe mich mit dem ganzen »Ring des Nibelungen« ein Leben lang auseinandergesetzt. Der Kernpunkt dieses riesigen Werkes ist und bleibt das gesprochene Wort, und dessen Verständnis wiederum macht im Opernhaus fast unüberbrückbare Schwierigkeiten. Wenn der Zuschauer aber im entscheidenden Moment die Nähe des Sängers verspürt und ihn folglich wirklich versteht, dann erscheint das Werk plötzlich in einem ganz neuen Licht.
SPIEGEL: Im Kino versuchen Sie Neues, im Fernsehen halten Sie"s weiter mit dem Alten. Was versprechen Sie sich eigentlich von Symphonien und Messen auf dem Bildschirm?
KARAJAN: Es sind Millionen, die zuschauen und zuhören können, bis in den Busch, und es kostet sie praktisch nichts. Um die Zuschauerschaft eines einzigen Televisionskonzerts live erreichen zu können, müßte ich 50 Jahre lang jeden Tag dirigieren.
»Am Anfang einer
gigantischen Entwicklung.«
SPIEGEL: Aber die Millionen Karajan-Fans am Bildschirm täten besser daran, eine Stereo-Platte oder Stereo-Rundfunk zu hören.
KARAJAN: Wie meinen Sie das?
SPIEGEL: Musik im Fernsehen klingt wie zu Zeiten des Dampfradios. Das müßte den Klangfanatiker Karajan doch eigentlich schmerzen.
KARAJAN: Zugegeben, es ist höchst unbefriedigend. Aber warum soll ich dem Fernsehpublikum die großen Meisterwerke vorenthalten, wenn wir die technischen Möglichkeiten auch der bildlichen Übertragung besitzen?
SPIEGEL: Dieses Publikum sieht vor allem schwitzende Sänger, blankgeputztes Blech und Herbert von Karajan. Lenkt das nicht von der Musik ab?
KARAJAN: Gegenfrage -- was wollen Sie denn sehen?
SPIEGEL: Musik, die Oper ausgenommen, ist doch zum Hören gemacht. Und wenn ein Bild, dann ein weitgehend ruhiges von einer starren Kamera aus dem mittleren Parkett, der Perspektive eines Konzertbesuchers entsprechend.
KARAJAN: Sie haben keine Ahnung. Der Konzertbesucher im Parkett sieht viel mehr als nur ständig die Totale. Das menschliche Auge schweift umher. Als die Berliner Philharmonie zum Abonnement ausgeschrieben wurde, waren als erstes die Plätze gegenüber dem Dirigenten vergriffen. Die Leute wollen sehen, wie"s gemacht wird.
SPIEGEL: Bei der Übertragung der »Missa solemnis« aus Salzburg am Karfreitag sahen die Fernsehkunden in der letzten Pause einen verinnerlichten Karajan mit geschlossenen Augen, über dessen Bauch das Insert eingeblendet wurde »Agnus Dei«, »Lamm Gottes«. Ist das nicht peinlich?
KARAJAN: Natürlich, solche Pannen müßten vermieden werden, und ich bin der erste, der daraus gelernt hat. Wir stehen hier erst am Anfang einer gigantischen Entwicklung.
SPIEGEL: Diesen Anfang machen Sie exklusiv mit dem ZDF. Warum eigentlich nicht mit der ARD, die Ihre Musik gleichzeitig stereophon über Radio verbreiten könnte?
KARAJAN: Weil mich von der ARD bislang noch niemand gefragt hat. Im übrigen halte ich es für einen ausgemachten Skandal, daß in einer Kulturnation wie Deutschland da kein Übereinkommen möglich ist. Ich finde es grotesk und beschämend, daß das ZDF keine Möglichkeit hat und ihm keine Möglichkeit eingeräumt wird, gleichfalls stereophon die Musik zu verbreiten.
SPIEGEL: Das ZDF ist eine reine Fernsehanstalt.
KARAJAN: Und wenn -- Musik gehört doch zum Fernsehen wie die Butter zum Fisch. Aber wenn die Gesetze der freien Marktwirtschaft auch im deutschen Rundfunkwesen wirksam werden und der kommerzielle Rundfunk sich durchsetzt -- das ist nur noch eine Frage der Zeit -, dann wird es solche Engstirnigkeiten nicht mehr geben.
SPIEGEL: Mit vier Live-Konzerten im Jahr macht das ZDF Sie jedenfalls zum größten TV-Dirigenten.
KARAJAN: Was sollen immer diese Superlative und diese Vergleiche? Man sollte so wenig wie möglich vergleichen, der ist so gut wie oder besser als der und das singt dem keiner nach. Jeder hat"s in seiner Weise.
SPIEGEL: Lehnen Sie Interpretationsvergleiche denn ab?
KARAJAN: Ich sage den Leuten immer: Was streitet ihr denn eigentlich? Seid doch froh, daß es zwei, drei oder vier gibt, anstatt zu sagen, der ist der Beste oder der Größte. Musik ist kein Sport.
SPIEGEL: Musikkritiker sehen das aber anders. Vergleiche im Künstlerischen enden ja nicht unbedingt mit einem Knockout.
KARAJAN: Mir kommt das immer so vor, als ob sie eine Alfetta mit einem Golf GTI vergleichen. Gut, da kann man noch messen, wer schneller fährt, und feststellen, wer billiger ist. Natürlich gibt es bestimmte Standards. Aber darüber hinaus hat das ganze Hin und Her überhaupt keinen Wert. Solche Rekordlust ist, glaube ich, auch eine typische Zeiterscheinung, denn wenn man einen zum Besten macht, kanzelt man viele andere ab. Ich hoffe, daß mal wieder eine Zeit kommt, in der die Zeitungen wenigstens 50 Prozent Anerkennung drucken. Heute lesen Sie zu 90 Prozent Krampf und Krach.
SPIEGEL: Übersehen Sie Ihre Karriere rückblickend etwa auch so pessimistisch?
KARAJAN: Nun, ich habe es mir niemals leichtgemacht und eine sehr lange Lehrzeit auf mich genommen, wenigstens 20 Jahre. Mein ganzes Leben war ein unentwegter Lernprozeß, bis heute. Aber ich würde mit niemandem auf der Welt tauschen.
SPIEGEL: Warum haben Sie eigentlich immer nur Musik interpretiert und niemals selbst komponiert?
KARAJAN: Da halte ich es mit Goethe: »Wenn ich so viel auszudrücken habe und mein Körper verweigert mir in diesem Punkte den Dienst, dann ist es wahrhaft Pflicht der Natur, mir einen zweiten Körper in einem neuen Leben zu geben.«
SPIEGEL: Sie glauben also an eine Wiederkehr?
KARAJAN: Daran glaube ich wie an eine Religion.
SPIEGEL: Herr von Karajan, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.