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Romandebüt "Meine dunkle Vanessa" Die Lolita-Lüge

Die US-Autorin Kate Elizabeth Russell erzählt in ihrem Debütroman von Verführung und Manipulation - und von der Illusion, eine 15-Jährige und ein erwachsener Mann könnten ein Liebespaar sein.
aus DER SPIEGEL 36/2020
Autorin Russell: Unerbittliche Wahrheiten

Autorin Russell: Unerbittliche Wahrheiten


Foto: David Kasnic

Vanessa Wyes ist 15 Jahre alt, als sie zum ersten Mal Sex mit ihrem Englischlehrer hat. Das Mädchen hatte ihre Eltern angebettelt, sie auf ein privates Internat in Maine zu schicken, im Prospekt sah die Schule perfekt aus, schneeweiße Holzfassaden, Backsteinmauern.

Wirkliche Freundschaften hatte sie im Laufe des ersten Jahres zwar nicht schließen können, doch zu Beginn des zweiten Jahres ändert sich alles: Jacob Strane hält die Eröffnungsansprache, ein 42-Jähriger, groß, bärtig, mit einer etwas überkorrekten Sprechweise. Vanessa hatte ihn bis dahin nicht wahrgenommen. Ihr neuer Literaturlehrer.

Es beginnt fast unmerklich: Ihre Gedichte seien bemerkenswert gut, sagt Strane, und ihre Haare hätten die Farbe von herbstlichen Ahornblättern. Er gibt ihr Bücher, die sie lesen soll, Gedichte von Sylvia Plath, "Lolita" von Vladimir Nabokov. Und er gibt ihr das Gefühl, interessanter zu sein als die anderen.

Wie zufällig drückt er einmal sein Bein an ihres und spricht davon, dass er sie gern in einem großen Bett einmummeln würde. Vanessas Gedanken kreisen bald um diesen Lehrer, um den fast 30 Jahre älteren Mann. Der erste Kuss geht dann von ihr aus, ein ungelenker Versuch, endlich jenen Schritt zu tun, auf den seine wochenlangen Manipulationen und Verführungen hinauslaufen.

Dem Roman "Meine dunkle Vanessa" - der ein Debüt ist - hat die Autorin Kate Elizabeth Russell einen kurzen Text vorangestellt, in dem sie nachdrücklich betont, dass ihre Geschichte fiktiv und nicht autobiografisch sei. Sie erzählt dann mit entschiedener Genauigkeit davon, wie ein Mädchen, das sich unter Gleichaltrigen nicht wohlfühlt, von einem erwachsenen Mann ausgesucht und in eine obsessive Liebesgeschichte verstrickt wird.

Nichts darf die Illusion erschüttern

Die Handlung entwickelt sich auf unterschiedlichen Zeitebenen, die Kapitel sind nur mit Jahreszahlen überschrieben, was die Orientierung beim Lesen erleichtert, denn Russell arbeitet mit vielen Vor- und Rückblenden. Es beginnt im Jahr 2017, Vanessa arbeitet als Rezeptionistin in einem Hotel und verfolgt über die sozialen Medien, dass Jacob Strane von einer anderen ehemaligen Schülerin sexueller Übergriffe beschuldigt wird.

Schnell wird deutlich, dass Vanessa noch immer Kontakt zu ihm hat, dass sie auch mit Anfang dreißig noch davon überzeugt ist, ihrer beider Liebesgeschichte sei etwas Einmaliges gewesen. Nichts kann und darf diese Illusion erschüttern, kein Skandal und kein anderer Mann, nur so sind die Erinnerungen für Vanessa erträglich.

Der andere Handlungsstrang beginnt im Jahr 2000 mit der ersten Begegnung zwischen Vanessa und Strane und setzt sich bis ins Jahr 2007 fort, da ist sie 22 und zu alt, um für ihn noch begehrenswert zu sein. Das Buch enthält einige unerbittliche Wahrheiten, und weil Russell ihr Thema emotional durchdrungen hat, kann sie leicht einen größeren Bogen spannen. Das romantische Klischee, nur eine Liebe, die Hindernisse überwindet, die von Verboten und Leiden begleitet wird, könne eine große Liebe sein, entlarvt Russell als eine Voraussetzung für solche pädophilen Missbrauchsgeschichten.

In der "Lolita"-Ausgabe, die Vanessa am Anfang von Strane geliehen bekommt, bleibt sie an der Formulierung von der "mythischen Macht" hängen. Das Buch ist für sie ein Hinweis auf die Absichten des Lehrers, nach der Lektüre glaubt sie aber auch, sie könnte ihm ebenbürtig sein. "Ich habe Macht. Macht, es geschehen zu lassen. Macht über ihn. Dusselig, dass ich darauf noch nicht selbst gekommen bin."

Obsession, die einen jungen Menschen zerstört

Ohne plump oder vordergründig zu werden, zeigt Russell, wie sehr das Lolita-Motiv die Popkultur geprägt hat - die Sängerin Fiona Apple wird erwähnt, Britney Spears oder die Schauspielerin Kirsten Dunst in "The Virgin Suicides" - lauter nymphenhafte Heldinnen, die dieses Rollenbild für junge Mädchen erstrebenswert machen können.

Man kann "Meine dunkle Vanessa" als Kommentar zu Nabokovs "Lolita" und zu dessen Rezeption lesen (der Romantitel zitiert eine Zeile aus einem anderen Nabokov-Roman, aus "Fahles Feuer"). Die Freude an der Musikalität von Nabokovs Sprache und an der Raffinesse seiner Romankonstruktion überstrahlt den Einwand, dass "Lolita" aus der Perspektive eines Mannes von einer Obsession erzählt, die einen jungen Menschen zerstört. Dass Russell ihre Heldin zur Icherzählerin macht, gibt dieser Erfahrung eine Stimme.

Nachdem "Meine dunkle Vanessa" im Frühjahr in den USA erschienen war, sah Russell sich mit Plagiatsvorwürfen durch die Autorin Wendy C. Ortiz konfrontiert. Sie wies das von sich. Doch der Vorwurf, eine weiße Autorin bediene sich der Erfahrungen einer unbeachtet gebliebenen mexikanischstämmigen Autorin, war so erheblich, dass Russell in knappen Worten bekannt gab, ihr Roman basiere auf persönlichen Erlebnissen in ihrer Teenagerzeit.

Der dem Roman vorangestellte Text, der das Gegenteil behauptet, sollte ihre Privatsphäre schützen. Es geht ihr in "Meine dunkle Vanessa" nicht nur um die eine Missbrauchsgeschichte, die sie selbst erlebt hat, um den Einzelfall. Ihr Roman erzählt, wie gegenwärtig die verführerische, kindliche Frau in unserer Kultur ist, wie sehr sie künstlerisch überhöht wird und wie verhängnisvoll das sein kann.

Kate Elizabeth Russell: "Meine dunkle Vanessa". Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer. C. Bertelsmann; 448 Seiten; 20 Euro.

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