POP »Meine Wut ist mein Kapital«
SPIEGEL: Miss Morissette, seit Ihrem 1995 erschienenen Album »Jagged Little Pill«, von dem Sie weltweit sensationelle 28 Millionen Stück verkauften, werden Sie zum Inbegriff der »wütenden jungen Frau« stilisiert. Was verstehen Sie darunter?
Morissette: Natürlich ist das ein Stereotyp. Aber es stimmt, dass sich in mir eine Menge Wut angestaut hatte, und vielen anderen Frauen ging es offenbar ähnlich. Unsere Gesellschaft verdammt Frauen dazu, liebevoll und sanft zu sein. Wie sollte ich diese Wut ausleben? Ich habe also in meinen Songtexten das formuliert, was ich im Alltag nicht sagen konnte.
SPIEGEL: Auf »Jagged Little Pill« und dem ebenfalls millionenfach verkauften Werk »Supposed Former Infatuation Junkie« von 1998 sangen Sie sehr offen über private Verletzungen und auch ziemlich drastisch über Oralsex im Kino. Ihr neues Album heißt »Under Rug Swept«. Was haben Sie bisher »unter den Teppich gekehrt«?
Morissette: Vieles, und zwar aus Angst vor Konflikten. Das gilt vor allem für die Beziehung zu dem Mann, über den ich den Song »Hands Clean« geschrieben habe.
SPIEGEL: Er sagt darin: »Ich werde dich vielleicht heiraten, wenn du auf dein Gewicht achtest und deinen Körper fit hältst.« So was bekamen Sie wirklich zu hören?
Morissette: Na klar. Der Kerl hat mich ausdrücklich gebeten, nicht über uns zu schreiben, und ich habe mich zehn Jahre lang daran gehalten - mit Mühe. Inzwischen ist mir selber klar, dass die Geheimniskrämerei falsch war. Schließlich wissen die Männer vorher, auf was sie sich einlassen: Ich bin eine Künstlerin, die autobiografische Lieder schreibt. Und meine Wut ist mein Kapital. Wem das nicht passt, der kann gleich verschwinden.
SPIEGEL: So, wie es um die Liebesbeziehungen stehe, haben Sie mal behauptet, stehe es auch um den Zustand der Welt. Also miserabel?
Morissette: Man muss sich doch nur ansehen, wie mein Freund und ich manchmal aufeinander losgehen. Wie soll man große politische Probleme lösen, wie sollen zwei Religionen, zwei Ideologien, zwei Rassen miteinander auskommen, wenn noch nicht mal zwei Menschen miteinander vernünftig reden können?
SPIEGEL: Wie ernst meinen Sie Ihren wohl skurrilsten neuen Song »21 Things I Want in a Lover«, eine Art Checkliste für den idealen Liebhaber? Der soll nach Ihren Wünschen witzig und athletisch sein, die Todesstrafe ablehnen und über »große intellektuelle Kapazitäten« verfügen.
Morissette: Das ist doch sehr praktisch. Lange Zeit war ich mir über meine Kriterien gar nicht im Klaren und überließ alles dem Zufall und meinem Herzen. Ich war mit einigen egomanischen Typen zusammen, und da wird man auf Dauer ziemlich sauer. Jetzt habe ich mir diese Liste zusammengestellt, und die gehe ich durch, wenn ich einen Mann kennen lerne. Und seit kurzem bin ich mit einem Mann zusammen, der tatsächlich alle diese 21 Eigenschaften zu besitzen scheint. Mal sehen, ob sich das bestätigt.
SPIEGEL: Sie haben Ihre Showkarriere als Zehnjährige begonnen, als Sie in der kanadischen Fernsehserie »You Can't Do That on Television« auftraten - und sich später beklagt, man habe versucht, Sie zu manipulieren. Wie sah das genau aus?
Morissette: Als ich mit 16 Jahren mein erstes Album »Alanis« aufnahm, musste ich mir anhören, ich sei zu fett. Ich nahm mir das so zu Herzen, dass ich fünf Jahre lang unter Magersucht und Bulimie litt. In dem Geschäft zählt eben vor allem Ästhetik, musikalische wie physische. Für weibliche Solokünstlerinnen ist der Druck am größten. Meine Form von Rebellion dagegen war, mich hinter meinen langen Haaren zu verstecken und weite T-Shirts zu tragen.
SPIEGEL: Und erst Ihr Erfolg hat Sie von Ihren Komplexen geheilt?
Morissette: Ja. Der Erfolg gab mir die Freiheit, mir die Leute auszusuchen, mit denen ich zusammenarbeiten will. Und die Freiheit, andere Dinge zu tun, als Musik zu machen. Ich reise, male und habe sogar an einem Triathlon teilgenommen. Heute betrachte ich das Showgeschäft als ein Spiel und fühle mich nicht mehr als Opfer.
SPIEGEL: Warum haben Sie, anders als viele Kolleginnen, noch kein explizit politisches Lied geschrieben?
Morissette: Ich mache doch nichts anderes: Das Private ist politisch.
INTERVIEW: MARIANNE WELLERSHOFF