Meinungs-App The Buzzard Alles lässt sich immer so oder so (oder sogar so!) sehen

Die App The Buzzard will den kaputten Diskurs in Deutschland reparieren - und aggregiert deshalb gezielt unterschiedliche Meinungen. Problem aber: Feindbeobachtung ist nicht gleich Feindverständnis.
Gründer Dario Nassal: Es ist ein drängendes Problem, auf das The Buzzard reagiert

Gründer Dario Nassal: Es ist ein drängendes Problem, auf das The Buzzard reagiert

Foto: Britta Pedersen/ dpa

Schicksalsschwer schlägt ein menschliches Herz im Introvideo der App The Buzzard. Demonstranten marschieren, Barrikaden brennen. Eine Stimme verkündet: "Unsere Demokratie ist in Gefahr", den "radikalen Worten" im vergifteten Diskurs mit seinen verhärteten Fronten "folgen mittlerweile auch radikale Taten". Bald tauchen Gesichter auf. Entschlossene junge Leute vor dunklem Hintergrund, während die Musik sich zu hollywoodtauglichem Optimismus aufschwingt: "Wir brauchen einen Diskurswandel. Und wir haben eine App entwickelt, die ihn möglich machen soll". 

Dario Nassal und Felix Friedrich versprechen, mit "einem Team talentierter Journalistinnen und Journalisten, Entwicklern und Designern" diesen Diskurswandel anstoßen zu können. Damit der Blick sich weite "für Perspektiven des ganzen Meinungsspektrums". Mit einem "Medium, das nicht spaltet, sondern versöhnt". Mit einer App.

Es ist ein drängendes Problem, auf das The Buzzard hier reagiert. Der öffentliche Diskurs ist vergiftet, wie die aktuellen "Hygienedemos" zeigen, und die Fronten sind verhärtet. In diesem Kampf nimmt The Buzzard die Position des neutralen Beobachters ein, sichtet und ordnet die Quellen ein. Klassische Aufklärung, unterstützt wurde das Projekt von prominenten Journalisten wie Richard Gutjahr.

Schwieriges Vorhaben

Wie schwierig das Vorhaben aber ist, wurde schon während der Testphase deutlich.  Die Frage, ob Marine Le Pen "eine gute französische Präsidentin" wäre, wurde aus allzu unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Neben der Meinung eines seriösen US-Mediums wie VOX war da auch zu lesen, was "das deutschsprachige Zentralorgan rassistischer und islamfeindlicher Niedertracht" (Stefan Niggemeier über "PI-News") sich so denkt. Nassal und Friedrich wollten korrigieren.

"Kenne die wichtigsten Argumente der relevanten Akteure und fühle dich sicher in Gesprächen", heißt es jetzt bei The Buzzard zum offiziellen Start. Und: "Beschäftige dich mit den Motiven von Andersdenkenden, um die eigene Position zu schärfen." Anders, möchte man meinen, kann es nicht gehen. Aber geht es so?

Zunächst sind noch Formalitäten zu erledigen. Ermäßigt kostet das Jahres-Abo für Studierende oder Arbeitslose 42 Euro, reguläre "Unterstützerinnen" zahlen 60 Euro. Es folgen weitere Stufen des Idealismus, von der "Idealistin" (96 Euro) über den "Familienmensch" (240 Euro) bis zur erleuchteten "Visionär*in" (960 Euro). Wer will, kann aber auch mehr zahlen. Das Abdichten unserer Gesellschaft gegen "Hassbotschaften" sollte schon etwas wert sein. 

In der Praxis bekommt man nun für 42 bis 960 Euro nun täglich "zum Feierabend" eine kuratierte Liste mit Links aufs Smartphone. Sollte Fleisch teurer werden? Milliarden für die Lufthansa? Zunächst wird das "Thema in 30 Sekunden" für einen kurzen Text aufbereitet, eine Handvoll Meinungen aus "1700" für valide befundenen Quellen sind repräsentativ nach "Pro" und "Kontra" sortiert, paraphrasiert und verlinkt.

Vielleicht ist nicht die vielbehauptete Filterblase das Problem, sondern ihre Durchsichtigkeit.

Selbstverständlich fällt zum Beispiel zur israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland einem linken Blog etwas anderes ein als der "Jerusalem Post". Unklar bleibt, welchen Mehrwert die Meinung der "Times Of India" haben soll - wenn die sich kaum davon unterscheidet, was auch in "Le Monde" oder der "Neuen Osnabrücker Zeitung" stehen könnte. Eiligen Menschen, die sich "in 30 Sekunden" einen Überblick über die Frontverläufe machen wollen, mag The Buzzard damit ein weitgehend ideologiefreies Angebot machen. "PI News" kommen auch nicht mehr vor. Das ist gut.

Vom bulligen Aufschlag, die gefährdete Demokratie reparieren zu wollen, bleibt aber nicht viel übrig. Was womöglich am technizistischen Ansatz liegen könnte, dass das, wenn überhaupt, mit einer App möglich wäre.

The Buzzard setzt ganz auf die Kraft des Arguments und voraus, dass weltanschauliche Vorprägungen sich damit mühelos aushebeln lassen. Könnten wir nur lesen, was die jeweils "andere Seite" liest, würde gegenseitiges Verständnis sich schon von selbst einstellen. Der Wunsch ist fromm, zeugt aber auch von einer Selbstüberschätzung. Und einem entleerten Begriff von Journalismus.

Eine "taz"-Leserin kann sich schon denken, was zum gleichen Thema in der "NZZ" zu lesen ist. Wenn nicht, kann sie die Probe aufs Exempel machen. Wer echte Feindbeobachtung machen möchte, kann jederzeit auf die einschlägigen Blogs zugreifen. Ein Leser wiederum, der schon von der angeblichen Allmacht der Algorithmen überfordert ist, wohlig eingesponnen in seine "sozialen" Netzwerke, der wird ohnehin kaum jemals die Schwelle zu The Buzzard überschreiten. 

Vielleicht ist nicht die viel behauptete Filterblase das Problem, sondern ihre Durchsichtigkeit. Unter Stress setzt uns nicht die Abwesenheit "anderer Meinungen", sondern ihre aufschäumende Omnipräsenz und anstrengende Dauerdialektik. 

Alles lässt sich immer so oder so (oder sogar so!) sehen. Die eigentliche Arbeit ist nicht das geordnete Aufmarschierenlassen widersprüchlicher Ansichten, sondern daraus eine eigene Meinung zu destillieren. Die App ist so ein grober Kompass für Leute, die neu im Dschungel der Meinungen sind und offen dafür, wo die Reise hingehen soll. Nicht weniger. Aber auf keinen Fall mehr. 

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