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PSYCHOMONTAGE Menschen von Morgen

aus DER SPIEGEL 47/1965

Elf Millionen Mark brachte dem

Atlas-Filmverleih das schwedische »Schweigen«. Das Reden deutscher Halbwüchsiger soll nun einen ähnlichen Atlas-Erfolg provozieren.

Der holländische Regisseur Kees Brusse, 40, arbeitet im Atlas-Auftrag an einer Psychomontage: Zwölf von der Straße aufgelesene Twens beichten vor der Kamera Jugendsünden, berichten über Eltern, Beruf, Politik, Sex und Gott.

Atlas-Chef Hanns Eckelkamp, 38, hatte im Oktober 1964 im Amsterdamer Kino »Alhambra« den Film »Menschen von morgen« gesehen - ein holländisches Lichtspiel ohne Stars und ohne Handlung von Produzent Rudi Meyer, 63, und Regisseur Brusse. Eckelkamp: »Es war unglaublich, obwohl ich das Holländische nur halb verstanden habe.«

Das Unglaubliche: 13 junge Holländer, darunter eine Dirne und eine Novizin, ein Student und ein Homosexueller, kehrten vor der Kamera ihr Inneres nach außen.

Die Bekenntnisse der Männer und Jungmänner, der Jungfrauen und Jung -Frauen erregten Holland: Binnen drei Wochen sahen 323 000 Zuschauer das Intim-Theater. Dann klagten die Eltern eines Beichtigers: Der 19jährige Loekie hatte sein asoziales Zuhause allzu deutlich geschildert.

Ein Amsterdamer Gericht verbannte die holländischen Menschen von morgen - Eckelkamp beschloß, nach ihrem Bilde ein deutsches Ebenbild zu schaffen: mit Kees Brusse als Regisseur und Rudi Meyer als Atlas-Koproduzent. Statt eines Drehbuchautors beschäftigte Atlas einen Psychologen: den Professor Dr. Josef Hitpaß, 39, Kölner Dozent der Pädagogischen Hochschule Rheinland.

Der PH-Professor schickte Psychologen aus, um die deutschen Menschen von morgen zu finden. Seine Interviewer verhörten mit Tonband hundert repräsentativ ausgewählte junge Leute zwischen 18 und 24 Jahren. Interviewthemen: Lebenslauf, Elternhaus, Schule, Beruf, Zukunftserwartung, Leitbilder, Politik und »Probleme um Sexualität, Freundschaft und Partnerwahl, nicht zuletzt auch um Religion und Kirche«.

Atlas zahlte für den Test 18 500 Mark. Die Ergebnisse publiziert Professor Hitpaß Ende November im Godesberger Verlag »Wissenschaftliches Archiv«. Fazit der Film-Vorarbeit: »Die jungen Menschen unserer Untersuchungsgruppe sind nüchtern, kühl, tolerant und liebenswert.«

Brusse wählte aus der repräsentativen Hitpaß-Schar das Dutzend, »das die besten Geschichten zu erzählen hatte« (Eckelkamp): Brusse interessierte sich mehr für jugendliche Typen als für typische Jugendliche.

Als Menschen von morgen traten unter anderen vor seine Kamera:

- das Mädchen Anna, 24, von der Reeperbahn ("Mein Pflegevater . . . hat etwas getan, das man nicht vergessen kann");

- die Oberhausener Unternehmertochter Ute, 21, samt Mercedes 220 SE Coupé;

- die jungfräuliche Bauerntochter

Kläre, 18;

- das Mannequin Renate, 20, aus der niederrheinischen Kleinstadt ("Ich falle auf");

- die (in) Paris liebende Doris, 21 («... und dann ist es dunkel geworden, und dann wurde er ganz Mann");

- der Berliner Beatle und arbeitsscheue Pennbruder Werner, 21 ("Eijentlich laß ick mir jerne anpöbeln");

- das balkanesische Findelkind Roland,

18, mit Selbstmordabsichten;

- der Duisburger Maschinenschlosser und Autoknacker Anton, 23. Er sitzt gegenwärtig im Gefängnis.

Brusse setzte jeden der zwölf Modellmenschen für 500 Mark Gage einen Tag lang in den Amsterdamer Cinetone -Studios auf einen Stahlrohrstuhl, ließ pausenlos drei Kameras laufen und fragte. Der Inquisitor brachte seine Kandidaten zum »persönlichen Erleben der eigenen Emotionen« (Brusse). Lobte Eckelkamp: »Brusse ist ein sehr sympathischer Kerl. Die Leute werden phantastisch warm bei ihm.«

So belichtete Seelenwärmer Brusse binnen zwei Wochen 82 Kilometer Film. Seit Mai sitzt der Regisseur im Schneideraum, um die »Menschen von morgen« auf 2500 Meter zu kürzen. Er operiert so bedächtig, daß die Premiere vom 8. Oktober 1965 erst auf den 12. November und dann auf den 28. Januar 1966 verschoben werden mußte.

Der Zuschauer wird die Stimme des Regisseurs nicht mehr hören: Brusse montiert die Aussagen der Twens, als diskutierten sie anderthalb Stunden lang miteinander. Eine geklebte Psychomontage hatte schon 1963 Regisseur Bertrand Blier, 26, hergestellt. In Paris drehte er mit elf 18jährigen Franzosen den ähnlichen Film »Hitler, connais pas« (Hitler - kenn' ich nicht).

Atlas-Chef Eckelkamp rechnet damit, daß ein bis zwei Millionen Menschen von heute sich die preiswürdigen »Menschen von morgen« (Produktionskosten: 350 000 Mark) ansehen werden. Er glaubt, daß die Diskussion der Nutte mit dem Bauernmädchen und des Autoknackers mit dem Pennbruder vor allem Jugendliche anziehen wird.

Eckelkamp: »Die jungen Leute werden sich identifizieren.«

Autoknacker Anton: »Und dann ist es dunkel geworden . ..

...und dann wurde er ganz Mann": Beatle Werner, Reeperbahndame Anna

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