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Hans Strotzka über Horst-Eberhard Richter: "Die Gruppe" Mit Begleitung aus der Krise

Professor Hans Strotzka, 54, ist Vorstand des Instituts für Tiefenpsychologie und Psychotherapie der Universität Wien. Im Zsolnay-Verlag erschien jetzt sein neues Buch »Gesundheit für Millionen: Sozialpsychiatrie heute«. -- Horst-Eberhard Richters »Die Gruppe« gehört zu den Erfolgsbüchern dieses Frühjahrs: Von dem broschierten Band (die SPIEGEL-Bestsellerliste erfaßt nur Hardcover-Bücher) konnte Rowohlt bis jetzt 27 000 Exemplare absetzen.
aus DER SPIEGEL 17/1972

Die Öffentlichkeit hat sich daran gewöhnt, im Psychoanalytiker einen Therapeuten zu verstehen, der in seiner Ordination einige wenige bemittelte Patienten über lange Zeit mit dem Ziel der Bewußtmachung unhewußter Inhalte behandelt. Die Gruppe der Analytiker galt lange Zeit als ein elitärer, esoterischer Geheimbund mit strengen Initiationsriten, der sich möglichst jeden Kontaktes mit der Umwelt oder eines aktiven Engagements enthält.

Es blieb daher recht unbemerkt, daß viele Psychoanalytiker in den letzten Jahrzehnten einen ganz erheblichen Teil ihrer Zeit anderen, sozial relevanteren Aufgaben widmeten. Sie wendeten auf der Basis der Theorien Freuds auch kürzere, ökonomisch tragbare Behandlungsmethoden an, wie die sogenannte psychoanalytisch orientierte Psychotherapie; sie wirkten als Supervisoren für Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte, als Konsulenten und ganz besonders in der Ausbildung von Gesundheits- und Sozialberufen.

Auch Gruppentechniken wurden zunehmend eingesetzt, nicht in erster Linie aus Gründen der Zeitersparnis, sondern weil sich die Gruppe für viele Aufgaben als besonders effektiv erwies. Der kürzlich verstorbene ungarische, aber seit Jahren in London wirkende Psychoanalytiker Michael Balint zum Beispiel hat sich durch die Gruppenausbildung praktischer Ärzte ein unvergängliches Verdienst erworben. Sein Modell hat weiteste Verbreitung gefunden.

Es wäre nun durchaus möglich, daß Horst-Eberhard Richter mit seinem neuen Buch eine neue Ära legitimer psychoanalytischer Tätigkeit einleitet, die von größter Bedeutung nicht nur für die Psychoanalyse, sondern auch für unsere Gesellschaft sein könnte, die »psychoanalytische Begleitung« von Initiativgruppen.

Professor Richter, Dr. med. et phil., 1923 geboren, in Berlin zum Psychiater und Psychoanalytiker ausgebildet, hat zehn Jahre eine Beratungs- und Forschungsstelle für seelische Störungen im Kindesalter in Berlin-Wedding geleitet und ist seit 1962 Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik in Gießen. Obwohl er nicht als typisch für den Psychoanalytiker im alten Sinn bezeichnet werden kann, war er zeitweilig Leiter des Berliner Psychoanalytischen Institutes und Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV). Seine Arbeiten umfassen einen weiteren Bereich von einer akademischen medizinischen Psychologie bis zu neuen theoretischen und praktischen Einsichten in die Familientherapie ("Eltern, Kind und Neurose«, »Patient Familie«, beide Bücher bei Rowohlt). Seine innere Haltung ist charakterisiert durch ein wachsendes Unbehagen am Zustand unserer Zivilisation mit ihrer Ausschließungstendenz gegenüber Unterprivilegierten, durch seine Offenheit für neue Entwicklungen sowie ein starkes soziales Engagement.

Wie er in seinem neuen Buch beschreibt, begegneten ihm nun einige Initiativgruppen junger Menschen, die versuchten, neue Wege in der Lösung sozialer Probleme zu gehen.

Solche meist von Studenten getragenen Gruppen sind in den letzten Jahren an verschiedenen Stellen entstanden und haben als gemeinsames Charakteristikum ein hohes Maß von rücksichtsloser Wahrhaftigkeit, kritischer Reflexion ihrer Erfahrung und politischem Engagement. Sie stehen in ständiger Gefahr, an den Frustrationen in der Kleinkinder-Erziehung und der sozialen Aktivierung von Randgruppen -- das sind die beiden Aufgaben, denen sie sich besonders widmen -- zu scheitern oder in rein politischer Aktivität und Indoktrination zu erstarren.

Bei den drei Gruppen, die Richter aus einer gleichberechtigten Zusammenarbeit heraus beschreibt, handelt es sich um zwei Elterngruppen, die Kinderläden gegründet hatten, und einen sozialpolitischen Arbeitskreis, der sich eines Slumgebietes am Stadtrand angenommen hatte. Diese Mitarbeit unterscheidet sich nun ganz wesentlich von den konventionellen Systemen. Es sind keine Patientengruppen. die behandelt werden, und der Analytiker dient auch nicht als Supervisor, das heißt als ein von der tatsächlichen Feldarbeit distanzierter fachlicher und persönlicher Berater, sondern er arbeitet ganz einfach mit der Gruppe mit.

Es ergeben sich dadurch für alle Teilnehmer ungewohnte schwierige Situationen. Einerseits wird der Analytiker aus eigenem Bedürfnis oder von der Gruppe her in die Therapeutenrolle gedrängt, andererseits wird er mit Mißtrauen als Hemmschuh der vorwiegend politischen Orientierung betrachtet. Die technischen Probleme, die sich dabei ergeben, werden bei Richter ebenso eingehend an konkreten Beispielen diskutiert wie die ideologischen und emotionellen Hintergründe dieser spezifischen Gruppendynamik.

Kein Zweifel, daß diese »Begleitung« eine völlige Umorientierung erfordert und daher vielfach vom Scheitern bedroht sein wird. Richter und seinen Mitarbeitern gelang es offenbar, bei den beschriebenen Gruppen die Hauptgefahr des Aufgebens oder der Erstarrung solcher Gruppen, nämlich »das Verfallen in masochistische Selbstzerfleischung gegenüber den selbstgesetzten überhöhten Idealen, zu vermeiden. Ob dies auch bei anderen Personen und Gruppenkonstellationen in einem hinreichenden Maße gelingen kann, ist fraglich. Der Versuch wird jedoch gemacht werden müssen, da derzeit kein anderer Weg zur sozialen Aktivierung, zur experimentellen Erprobung neuer Gesellschaftsformen und zum Abbau der Gettos Diskriminierter bekannt ist.

Die Öffentlichkeit und die etablierten Institutionen stehen den Initiativgruppen mit großer Skepsis gegenüber, wobei die Angst vor politischer Unterwanderung oder Aufhetzung bewußt oder unbewußt im Vordergrund steht.

Richters Buch trägt hier wesentlich zu einer Klärung bei. In einem Anhangkapitel wird sein Gutachten über das »Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg« wiedergegeben und kommentiert. Dieses Beispiel zeigt die Gefahren des Scheiterns einer solchen Gruppe in politischer Selbstzerstörung. Es wäre wohl nicht übertrieben zu vormuten. daß zu einem frühen Zeitpunkt eine »Begleitung« dieser Gruppe die spätere deletäre Entwicklung für alle Beteiligten hätte verhindern können. Mir ist keine andere Technik bekannt, mit der die Chance bestünde, die Eskalation der Gewalt in einem solchen Falle zu verhindern.

Richters Buch ist, vielleicht mit Ausnahme der Einleitungskapitel, trotz des hohen theoretischen Anspruches leicht zu lesen. Es konfrontiert den Leser einem echten sozialen Notstand sowohl in der allgemeinen Erziehung als auch in bezug auf die Randgruppen. deren Existenz von den meisten. Menschen in unserer Gesellschaft mit Hilfe einer »Sündenbockstrategie« verleugnet wird.

Man weiß noch nicht, ob sich jene Technik der »Begleitung« wiederholen läßt. Es wird schwierig sein, Kontinuität zu erreichen, auch andernorts das notwendige Engagement aufzubringen und eine Finanzierung zu schaffen, die nicht wieder in Institutionalisierung fesselt. Trotzdem: Hier ist ein Schritt gemacht worden, dessen Spuren unauslöschlich sind.

Das Individuum ist in einer unbestreitbaren Krise. Die Gruppe als Heilmittel wird nicht das Gesellschaftsspiel von Selbsterfahrungs- und Begegnungsgruppen im Sinne jener »Spiele von Pubertierenden« sein, wie sie jetzt so Mode geworden sind; sie wird sich vielmehr in Aktivitäten bewähren, die sich an sozialer Ungerechtigkeit entzünden --Gruppenaktivitäten. wie sie Richter hier beschreibt.

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