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MIT DER JULIE IN DEN AKTSAAL

aus DER SPIEGEL 14/1971

OK war mit seinen Gedanken schon voraus: »Wenn ich nur das mit Ölfarben gemalte Bild der Julie hätte!«

»Ich habe es!« rief ich. »Auf dem Dachboden ist es.« »Ah!« machte mein Bruder, ebenso erstaunt wie erfreut, und lief mit.

Ich zog es zwischen Gerümpel, wo es versteckt lag, hervor, löste es aus der Verpackung, und er riß es mir aus der Hand. Es war vollkommen unversehrt, und Julie lächelte ihm zu. Ich war schon auf der Stiege, OK stand noch immer da, wo er das Bild mit beiden Händen ergriffen, es betrachtend. Endlich, auf meinen Zuruf, kam er mir nach und herab in die Wohnung. Hier betrachteten wir alle, Mutter, OK, die Schwester und ich, die schöne Julie und waren uns einig, daß sie mit In die Kunstakademie kommen müßte.

»Diese Julie muß doch überall ihre Hand Im Spiel haben!« sagte die Mutter abends. »Ihretwegen ist er in Physik durchgefallen, mußte aus der Donau gefischt werden und eine Nachprüfung machen. Jetzt, hoffentlich, macht sie mit ihrem Bild das alles wieder gut.«

OK kam bleich aus der Akademie zurück, mit allen seinen Zeichnungen und auch der Julie. Wir erschraken: »Hat man dich nicht aufgenommen?« »Nein!« erwidert er und lacht. OK setzt sich: »,Das haben Sie gezeichnet und das gemalt?' sagte der Rektor. »Gehen Sie hinauf in den Aktsaal ...'«

»Aktsaal!« wiederholte die Mutter leise und riß die Augen auf und zeichnen Sie dort den Akt!«, Die Mutter: »Einen Mann?« »Nein!« schreit OK. »Ein Weib!« Die Mutter bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»Wenn Sie fertig sind«, sagte er, »bringen Sie Ihr Produkt daher zu mir!' Ich fragte mich durch bis zum Aktsaal. Eine Menge junger Leute und ein Wald von Staffeleien. Man half mir einen Riesenbogen Papier an einer solchen festzumachen, und Ich, ein Stück Kohle in der Hand, begann. Man schaut mir zu, tuschelt hinter mir, ich aber beeile mich, ich wollte rasch fertig sein damit. Es fiel mir nicht schwer, hatte ich es doch vor Augen.«

»Ein nacktes Weib . . .« schüttelt die Mutter den Kopf.

»Mit dem Riesenbogen, wie mit einer Fahne, eile ich die breiten Stiegen hinunter und in die Kanzlei des Rektors. »Legen Sie es nur da auf dem Fußboden auf, gleich schau ich es mir an. Nach einer Weile steckt er die Schreibfeder in das Tintenfaß, steht auf, und, die Hände auf dem Rücken, betrachtet er meine Arbeit. Der Rektor zwirbelt mit seiner Linken an seinem Schnurrbart, bis er endlich zu reden beginnt, und er lächelt: »Jetzt glaube Ich Ihnen, daß die Arbeiten, die Sie mitgebracht haben, auch das Mädchenporträt, von Ihnen sind. Ich werde Ihnen einen Brief mitgeben für die Kunstgewerbeschule, am Stubenring. Enttäuscht frage ich: »Kann Ich nicht aufgenommen werden?' »Nein, bei uns können Sie nichts mehr lernen', hat er gesagt. »Gehen Sie in die Kunstgewerbeschule am Stubenring. Dort können Sie freier arbeiten, und ich glaube, das ist für Sie das Richtige!' Damit übergab er mir hier diesen Brief. Schade, die fast lebensgroße Aktzeichnung mußte ich dort lassen!«

»Die soll bleiben, wo sie ist!« sagte die Mutter.

OK packte Brief, Zeichnungen und Bild zusammen und ging zur Türe.

»Bleich bist!« sagte die Mutter, als er schon draußen auf der Stiege war. OK, sein Paket über seinen Kopf haltend, stürmte die Stiege hinunter und rief zurück: »Mutter, es war kein nacktes Weib, es war der nackte Mensch.«

Bohuslav Kokoschka
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