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FERNSEHEN / FERNSEH-SPIEGEL Mit Gewalt / Von Telemann

aus DER SPIEGEL 44/1959

Wer mit Genehmigung des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen eine Fernseh-Rundfunk-Sendeanlage betreibt, der möchte, daß man ihm dabei zuschaut. Teils aus Eitelkeit - eine Schwäche, von der auch gemeinnützige Körperschaften nicht völlig frei sind -, teils aus der Erwägung, daß ein Fernsehsender kein »Ding an sich«, sondern eine »Erscheinung« ist, von der erwartet wird, daß sie »die Sinne affiziert« (Kant).

Wie aber bringt man andere dahin, zuzuschauen?

Bis vor kurzem hatte sich das Deutsche Fernsehen darauf verlassen, daß seine Abonnenten dieser Tätigkeit aus freien Stücken obliegen. Es arbeitete sozusagen auf Vertrauensbasis; was ihm um so leichter fiel, als die Umsätze der Rundfunkindustrie und die Testergebnisse der Meinungsforscher solcher Haltung keineswegs Hohn sprachen.

Doch muß da unlängst,etwas passiert sein, was dieses Vertrauen erschüttert und ernste Zweifel an des Volkes bedingungsloser Schaubereitschaft hervorgerufen hat. Und zwar muß es im Bereich des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbands passiert sein. Denn diese Sendergruppe wendete - statt unsere Neugier wie bisher auf gütliche Weise zu wecken - erstmals rohe Gewalt an: Sie startete die Kriminalserie »Der Andere«.

Unter einer Kriminalserie versteht man diejenige Art drahtloser Zerstreuung, die Menschen aller Intelligenz- und Bildungsgrade dazu zwingt, an bestimmten Wochentagen fernzusehen. Ohne Rücksicht auf Gemütsverfassung, lieben Besuch oder schöngeistige Vorsätze. Dieser Zwang wird nicht so sehr durch die Qualität des Gebotenen als vielmehr dadurch verursacht, daß einem, falls man auch nur eine Fortsetzung versäumt, alles weitere Geschehen auf der Scheibe unklar bleibt. Und Unklarheit über kriminal-literarische Details kann selbst hartgesottenen Schöngeistern die Ruhe rauben.

Bevor der NWRV das Gesetz der Kriminalserie in Kraft treten ließ, blickte er wachen Auges nach England, wo das Abstottern von Räubergeschichten ehrwürdige Funktradition ist. Und weil er seinen ersten Gewaltstreich nicht von Unkundigen führen lassen wollte, ging er gleich zum Spezialisten, nämlich zu Francis Durbridge.

Francis Durbridge, 47, den die Angelsachsen als Gebrauchsautor etwa auf die Rangstufe der Agatha Christie stellen, verdankt solche Wertschätzung einer Detektivstory-Serie ("Call Paul Temple"), die dem BBC-Hörfunk Sendestoff für mehr als zwei Jahrzehnte lieferte und deren Dauererfolg im In- und Ausland (auch das Kölner Funkhaus brachte die Temple-Storys als Hörspielreihen) das BBC-Fernsehen schon bei seiner Gründung bestimmte, den Meister der Kriminal-Kurzstrecke fest, in sein Programm einzuplanen. So entstanden seit 1946 zehn Fernsehserien.

Durbridge, der ursprünglich Schauspieler werden wollte, jedoch aufgrund seiner Frühbegabung, unzureichende Songs im Noel-Coward-Stil zu schreiben, davor bewahrt blieb, bezeichnet sich selbst als Handwerker, verbringt täglich 14 Stunden am Schreibtisch, läßt von, jedem Manuskript 99 Kopien anfertigen und scheut, wenn es gilt, die Lebensweise bestimmter Berufs- oder Gesellschaftsgruppen zu erforschen, weder Zeit noch Mühen.

Sein literarisches Leitbild ist »der Alltagsmensch in abenteuerlichen Situationen«, wogegen sein eigenes Verhältnis zur - Umwelt des Abenteuerlichen entbehrt; was sowohl an Äußerlichkeiten (Durbridge trägt nur einfarbige Krawatten) als auch daran erkennbar ist, daß er seit 21 Jahren mit dem gleichen Produzenten zusammenarbeitet. Auch mit dem Fernsehen der BBC lebt er in anhaltend gutem Einvernehmen. Nicht zuletzt deshalb, weil die BBCLeute den Schauspielern noch nie verraten haben, wie die Geschichte weitergeht Durbridge macht das nämlich in seinen Verträgen zur Bedingung. Sogar der Darsteller des Mörders darf keine Ahnung haben, wer der Mörder ist. Auf diese Weise glaubt der Autor die Erbfeindin aller Schauspielkunst, die Routine, in Schach halten zu können.

Ob auch der Sender Hamburg diese Vorschrift befolgte, als er Durbridges Serie »Der Andere« ("The other man") in Szene setzte, erscheint zweifelhaft. Denn dem bösen Sergeanten Broderick (Heinz Klingenberg) stand die Missetäterschaft schon ab der dritten Folge deutlich im Gesicht geschrieben.

Indes, was tat's? - Das Fernsehvolk, weit davon entfernt, die sechsteilige Gewaltmaßnahme als Tort zu empfinden, reagierte wunschgemäß: Es pfiff aufs »Kino nebenan«, tauschte Dienstmädchen-Ausgang und Nachtdienste, sagte Kegelabende ab, ließ Telephone und Hausglocken klingeln - ja, in einer Wilhelmsburger Maschinenfabrik führten Unstimmigkeiten hinsichtlich der Person des Mörders zu einer soliden Schlägerei. Friedfertigere Naturen schickten wenigstens Briefe. (NWRV Produzent John Olden: »Der Versuch ist so ausgegangen, daß man nur sagen kann: Also schnell wieder eine Serie.")

Telemann, der für jede Lehre, die ihm das Leben erteilt, dankbar ist, darf also vermerken: Das Interesse war groß. Und es war trotz des organisierten Ungemachs kein grimmiges, es war ein freudiges Interesse. Wenn man von den paar unabkömmlichen Nachtbediensteten absieht. Der deutsche Fernsehzuschauer will gar kein Zuckerbrot, er will die Peitsche.

Dennoch sollte der Nord- und Westdeutsche Rundfunkverband beim nächsten Einkauf darauf achten, daß ihm die Firmia Durbridge Ltd. die Gebrauchsanweisung mitschickt. Darin steht nämlich, daß eine Fernsehstation, die auf sich hält, niemals mehr als eine Filmfolge pro Woche in den Äther funkt. (Die BBC hat dafür den Montag reserviert.) Nicht aus Geiz, sondern weil sich der Normalkonsument wohl einen, nicht aber drei Abende freihalten kann.

Merke: »Je glücklicher eine Nation ist, desto neugieriger, ist sie.« (Ferdinando Galiani: »Gedanken, Beobachtungen, Dialoge.")

telemann

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