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»Mit Napoleon: Die Politik ist das Schicksal«

Rudolf Augstein über Hans Blumenbergs Buch »Arbeit am Mythos« Mancher möcht im Leben was erreichen, mancher möcht im Leben etwas sein, der will sich mit Napoleon vergleichen, und sei es auch Herr Gänseklein. Der Entertainer im Cabaret »Rote Mühle«, Hannover 1943
Von Rudolf Augstein
aus DER SPIEGEL 6/1981

Hat Napoleon zu Goethe gesagt: »Voila un homme?« Das wäre so, als wollte jemand in England den Spruch des Afrika-Reisenden Henry Morton Stanley in Zweifel ziehen, der da lautet: »Dr. Livingstone, I presume«.

Die Begegnung der beiden Heroen im Schloß, in der Statthalterei zu Erfurt am 2. Oktober 1808 wird ausführlich in einem Buch des Mythen- und Goethe-Forschers Hans Blumenberg

( Hans Blumenberg: »Arbeit am Mythos«. ) ( Suhrkamp Verlag; 699 Seiten; 68 Mark. )

ausgelotet, das nun freilich nichts weniger will, als Anekdoten zu widerlegen, und das für den Philologen wie für den Mythen-Liebhaber ein ungetrübtes Vergnügen sein kann; vorausgesetzt, er läßt sich die »Arbeit am Mythos«, die schon der Titel dem Leser korrekterweise androht, nicht verdrießen. Dies müßte also ein geneigter Leser sein. Der Autor gibt sich als (oder ist ein) Pedant. Sein geneigter Leser findet Pedanterie plötzlich zwingend und ertragreich.

Die Bedeutung des Mythos im Leben und Schaffen Goethes zeigt sich an allen Ecken, in allen Ritzen. Gleichwohl wäre der Erfurter Empfang beim Revolutions-Kaiser für sich betrachtet keine Zeile mehr wert als Goethes angeblich letzte Silben »Mehr Licht!« Schließlich war Napoleon einer, »der sein Leben lang Schriftsteller beim Dejeuner zu sich kommen ließ« (Heinrich Meyer: »Goethe«, 1967).

Dieser Dichter hier, mit Recht berühmter als alle seine dichtenden Zeitgenossen und immerhin 20 Jahre älter als Napoleon, durfte dem beim Frühstück sitzenden Korsen stehend Auskunft geben ("Sind Sie verheiratet?"), trat dann bescheiden und halb beleidigt beiseite in einen ihm seit dreißig Jahren wohlbekannten Erker, wohin ihm Napoleon nach Erledigung anderer Geschäfte folgte, um sich mit ihm noch eine Weile stehend zu unterhalten. Das war''s.

Nun behauptet Blumenberg nicht, daß Goethe im Leben Bonapartes eine große Rolle gespielt habe. Napoleon kannte den »Werther«, soll ihn siebenmal gelesen und sogar auf St. Helena bei sich gehabt haben. Schließlich war er in seiner Jugend selber ein erfolgloser Verfasser sentimentaler Romane. Das ist wiederum alles. Auf seiner Flucht aus Rußland 1812 soll sich der Kaiser, als er Weimar passierte, nach Goethe erkundigt haben.

Umgekehrt behauptet Blumenberg, und belegt es, daß Napoleon für Goethe die wichtigste geistige Beziehung überhaupt war, ausgenommen die mythischen Figuren des Prometheus und des Faust. Goethe fühlte sich in den Jahren zwischen 1802 und 1807 ausgelaugt. Daß erst Napoleon ihm die schwankend gewordene Übereinstimmung mit seiner Identität zurückgegeben, daß Goethe diesem Erlebnis Umdeutung und Vollendung des Faust und Umdeutung des Menschen überhaupt zu danken habe: Alles dies ist besser des längeren und breiteren zu lesen als hier zu beschreiben.

Er, der »Stabilitätsnarr« (Ludwig Börne), er, dieses »Zeitablehnungsgenie« (Heinrich Heine), er, der große Unpolitische, der Napoleons Wort »Die Politik ist das Schicksal« sogleich in seinem Sinne umdeutete, wettete auf den Sieg Napoleons in der später sogenannten Völkerschlacht bei Leipzig 1813 (wettete und verlor). Dem bei ihm nach der Schlacht einquartierten österreichischen Grafen Colloredo trat er mit dem Ritterkreuz der Ehrenlegion entgegen, ihm vom Kaiser in Erfurt verliehen: »Eine elementare Geste der Selbsterhaltung« (Blumenberg).

Es gibt Tausende von Menschen, denen man einen Napoleon-Komplex S.174 nachsagt, eine leicht komische Sucht, sich mit dem intelligenten Gewalttäter zu vergleichen, wenn nicht gar zu identifizieren. Bei Goethe gewann diese Sucht produktive, wenngleich nicht minder komische Züge. Als Schlachtenlenker war er eben doch nur »Herr Gänseklein«.

* Napoleon hatte die Pestkranken in Ägypten besucht. War das für einen Oberkommandierenden nicht zu gefährlich? Nein. Napoleon hatte ja den moralischen Willen, auf den alles ankommt, und wußte, daß er deshalb nicht angesteckt werden konnte. Er wagte nichts, laut Goethe, wenn er seiner Armee dies imposante Beispiel gab. Auch er, Goethe, hat ja, so erzählt er Eckermann, durch seinen entschiedenen Willen die ansteckende Faulfieberkrankheit von sich abgewehrt.

* Dem mittelmäßigen Musiker und getreuen Freund Zelter, dem er einmal »etwas Prometheisches in Ihrer Art« attestiert, berichtet er am 3. Mai 1816: » Er sei krank zu Bett gelegen und es sei ihm beinahe unmöglich » » erschienen, an einer großen Zeremonie bei Hofe teilzunehmen. » » Da sei ihm glücklicherweise ein Napoleontischer Spruch ins » » Gedächtnis gefallen: I''Empereur ne connoit autre maladie que » » la mort. Daraufhin sagte er dem Arzt, er werde, wenn nicht » » tot, pünktlich zur Stelle sein. Es scheint, daß der Arzt und » » die Natur sich diesen tyrannischen Spruch zu Gemüte genommen » » haben, denn ich stand Sonntag zur rechten Stunde an meinem » » Platze ... »

Blumenberg bohrt natürlich weiter, um welche große Zeremonie es sich gehandelt habe. Es war die Huldigung der Stände für den durch Napoleons Untergang zum Großherzog erhobenen Karl August. Durch dämonische Induktion hatte Napoleon dem durch seinen Sturz gleichfalls avancierten »Staatsminister« Goethe geholfen.

* Napoleon war immer in seinem Element und jeden Augenblick und jedem Zustand gewachsen, »so wie es Hummeln hinten gleichviel ist, ob er ein Adagio oder ein Allegro, ob er im Baß oder im Diskant spielt« -- der Komponist und Klaviervirtuose Johann Nepomuk Hummel, seit 1819 in Weimar Hofkapellmeister. Seine Kompositionen, Sonaten und Konzerte, zeichnen sich, laut Brockhaus, »durch Flüssigkeit und Eleganz« aus. Goethe behandelte, wie Hummel seinen Flügel, sein Weimarer Theater, und ebenso hatte er früher die Weimarer Szene zu beherrschen gemeint; der Vergleich mit Napoleon bedarf keiner Erläuterung, Karajan täte es auch.

* Wenn Eckermann sich übel und unlustig fühlt, wird er auf Napoleon verwiesen. Der ist »ein Kerl, dem wir es freilich nicht nachmachen können«, aber er habe sich in einem Zustand dauernder Erleuchtung befunden. Eckermann scheint dem anfeuernden Vergleich nicht gefolgt zu sein. Er entgegnet etwas säuerlich, dem Napoleon sei im höheren Alter, Eckermann war damals fünfunddreißig Jahre alt, die Erleuchtung doch wohl abhanden gekommen. Der letztere erlebte sein Waterloo mit 46 Jahren.

Ja, so stimmt Goethe ein, auch er habe seine Liebeslieder und seinen »Werther« nicht ein zweites Mal gemacht. Göttliche Erleuchtung finde sich immer mit der Jugend und mit der Produktivität im Bunde.

Eckermann tritt die Flucht nach vorn an und liefert das Stichwort »Genie«. Das Stück scheint geprobt. Genie, dem Napoleon wie dem Goethe eigen, läßt Taten entstehen, die, laut Goethe, »vor Gott und der Natur sich zeigen können«. Auf die Beschaffenheit dieser Taten kommt es, so zumindest Goethe über Napoleon, nicht an.

Die Durchsetzung seines eigenen Lebensentwurfs ging Goethe über alles, soviel weiß man. Die resolute Mutter Christiane seines einzigen Kindes August heiratete er, als sie ihn 1806 gegen plündernde Franzosen schützte. Aber für sein Befinden stand weit mehr auf dem Spiel.

Mit der Heraufkunft Napoleons war seine gesamte geistige und weltliche Existenz in Frage gestellt. Sein fest gegründeter Boden wankte. So läßt denn Goethe die Trauringe auf den 14. Oktober, den Tag der Schlacht von Jena, datieren. Er rechnete von diesem Tage an eine neue Epoche seines Lebens und nannte die davorliegende die »antediluvianische« Zeit.

Der Eroberer bedrohte den Staat, dessen Minister Goethe war, mit der Auslöschung, das Herzogtum Weimar. Auf dem Schlachtfeld von Jena hatte Goethe 1807 zum erstenmal den, in seiner Fassung, »ungeheuren« Gedanken geäußert, »nur ein Gott könne einem Gott widerstehen«. Und er, der früher Göttliche, der als Prometheus den Göttern Konkurrenz gemacht hatte, gerade er hatte dem Blick des siegreichen Zerstörers, der sein existentielles Weltbild vernichtete, standgehalten, standgehalten im Erker zu Erfurt 1808.

Es war der Blick des Kaisers, nicht des Mannes der Revolution. Man sitzt Jahre später im Goethe-Haus beisammen. Es ist von Anschaffungen der »Frau von Goethe« die Rede, die nicht die Zustimmung ihres Mannes August S.176 gefunden haben, von Anschaffungen also der Schwiegertochter Ottilie.

Ja, meint Goethe, da muß man es machen wie der Napoleon. Man darf der weiblichen Begehrlichkeit nicht zu leicht nachgeben (hier kannte er den anderen Genius schlecht).

Goethe erzählt eine Anekdote. Als ein geschäftstüchtiger Unternehmer (Schneider oder Juwelier) dem Napoleon zu verstehen gegeben habe, er, der Napoleon, tue für seine Gemahlin nicht genug, habe ihn der mit einem solchen Blick angesehen, daß der Mann seine Sachen gepackt habe und verschwunden sei. So sehr sei ihm der Schreck in die Glieder gefahren.

Die gescholtene Ottilie fragt arglos, ob das noch zu Zeiten des Konsulats gewesen sei. Der Schwiegervater antwortete, wohl mit Stolz in der Stimme, wahrscheinlich sei vom Kaiser die Rede. Denn sonst wäre der Blick nicht so furchtbar gewesen.

Heinrich Heine, der Goethe besucht haben will, schreibt über die Augen Goethes, sie seien »ruhig wie die eines Gottes« gewesen. Es sei nämlich überhaupt das Kennzeichen der Götter, daß ihr Blick fest ist und ihre Augen nicht unsicher hin und her zucken. So seien auch die Augen des Napoleon beschaffen gewesen (den Heine hat vorüberziehen sehen). Daher sei er überzeugt, daß Napoleon »ein Gott war«. Göttliche, Heinesche Ironie?

* Goethe scheint von Napoleon geradezu besessen. Sogar für die (falsche) Goethesche Farbenlehre mußte die »Weltseele zu Pferde« (Hegel),

( »Den Kaiser -- diese Weltseele -- sah ) ( ich durch die Stadt zum Rekognoszieren ) ( hinausreiten; -- es ist in der Tat eine ) ( wunderbare Empfindung, ein solches ) ( Individuum zu sehen, das hier auf einen ) ( Punkt konzentriert, auf einem Pferde ) ( sitzend, über die Welt übergreift und ) ( sie beherrscht.« )

einstehen, noch als Toter. Aus Straßburg schickt Eckermann seinem Mentor eine kleine Napoleon-Büste, aus opalisierendem Glas. Goethe, schriftlich: »Man sieht hier wirklich den Helden auch für die Farbenlehre sieghaft.« Am 2. Mai 1824 hatte er zu Eckermann gesagt: »Napoleon erbte die Französische Revolution ..., und mir ist der Irrtum der Newtonischen Lehre zuteil geworden.«

* Von den Schreib-Genies schien in Goethes Augen allein Shakespeare der Kategorie des Dämonischen anzugehören, die Goethe für sich nicht in Anspruch nahm und die er dem Napoleon zusprach. In frühen Jahren hatte er Shakespeare mit Prometheus gleichgestellt. Nun schien Napoleon auf dem Felsen von St. Helena angeschmiedet, bestraft für seinen Frevel, ein Gott sein zu wollen.

Sogar an Wundern fehlt es nicht. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig fiel in Goethes Zimmer Napoleons Bild »ohne bekannte Veranlassung« vom Nagel herab. »Was sagen Sie dazu?« Was soll man dazu sagen? Vielleicht war der Nagel zu lose eingesteckt?

Meinten andere, wenn sie im Zusammenhang mit Napoleon von Hunderttausenden sprachen, jene Toten, die von ihm sinnlos und ohne bedeutende Ereignisse hingeopfert waren, so Goethe anders: »Es ist nur das Schlimme, daß ein Mann wie Napoleon nicht sobald wieder geboren wird, und ich fürchte fast, daß noch einige hunderttausend Menschen daraufgehen, ehe die Welt wieder zur Ruhe kommt.«

Dazu meint Hans Blumenberg: » Denn zu dessen (Napoleons) Folgen gehört auch, daß der tätige » » Mann nur noch im stillen für die Zukunft manches Gute » » vorbereiten könne, an literarische Wirkung aber auf Jahre gar » » nicht zu denken sei. Erstaunlicherweise enthält Goethes Fazit » » keine Bitterkeit gegenüber dem, der sich selbst für die Welt » » zum Mangel gemacht hatte. Obwohl die Bilanz von Größe und » » Opfern durch den »Schreckensmann« erst eröffnet worden sei, » » erscheine er dem Goethe nun als das, was der Welt wiederum » » fehlt, um diese Bilanz endlich abschließen zu können: ein » » neuer Napoleon muß her, um den Dichter und die Phantasie der » » Menschen zu entzücken. »

Hier wird das zu philosophisch, und darum Schluß. Aber worüber haben denn nun die beiden Weltgenies sich, wenn überhaupt, unterhalten? Über einen gemeinsamen Jugendtraum, von dem keiner wußte, daß der andere ihn träumte.

Aufgeführt hatte man in Erfurt, zu Ehren des Welt-Cäsaren, das Stück »Der Tod Cäsars«, 1732 von Voltaire geschrieben, ein Thema, das auch Primaner sich ungern entgehen lassen. Goethe solle dies Thema behandeln, meinte der neue Cäsar, was, ohne daß einer vom anderen wußte, beide in ihrer Jugend erwogen hatten.

Über den »Werther« sollen sie auch gesprochen haben. Der Kaiser fand eine Stelle zu bemängeln. Goethe gab ihm nach, nahm das Zugeständnis aber sogleich wieder zurück.

Dazwischen wollte Daru, Napoleons Generalintendant für die Plünderung der preußischen Länder, Instruktionen. Daru machte den Kaiser darauf aufmerksam, daß Goethe Voltaires »Mahomet« ins Deutsche übersetzt habe. Napoleon tadelt das Stück, weil der Weltüberwinder von sich selbst eine so ungünstige Schilderung mache (aha!).

Überhaupt, er kritisiert die französische Tragödie. Solche Schicksalsstücke gehörten einer dunkleren Zeit an. Nicht das Fatum, die Politik sei jetzt das Schicksal.

Goethe scheint diese Kritik richtig verstanden, nämlich auf den Schicksals- und Politikmacher Napoleon bezogen zu haben. »Er, der ein anderer Mahomet war, mußte sich wohl darauf verstehen«, wird er sieben Jahre später zu Sulpiz Boisseree sagen. Er, selbst die Verkörperung des Gegenteils, wird noch 1832, kurz vor seinem Tode, dem Eckermann bekennen: »Wir Neueren sagen jetzt besser mit Napoleon: die Politik ist das Schicksal.«

Goethe wird von Napoleon, so berichtet er später, dringend nach Paris eingeladen: »Dort gibt es größere Weltanschauung!«

( Friedrich von Müller: »Erinnerungen aus ) ( den Kriegszeiten von 1806 bis 1813«, ) ( 1851 veröffentlicht. )

Man fragt sich ernsthaft, welchen französischen Ausdruck Napoleon wohl hätte gebrauchen mögen für ein Wort, das erst nach seinem Tode in Mode kam und das sich bei Goethe erstmals 1815, entwickelt aus seinem früheren Begriff »Weltansicht«, findet.

Goethe lehnt die Einladung ab; wie das Napoleon wohl auch nicht anders S.179 erwartet hat. Überhaupt scheint er nicht gemerkt oder sich nicht eingestanden zu haben, daß die Begegnung in der Erfurter Statthalterei inszeniert war, »um ihm zu imponieren«. So jedenfalls hat Sulpiz Boisseree sich das 1815 nach einer Unterhaltung mit Goethe zurechtgelegt. In der Tat: Der Generalintendant Daru, mit Deutschland betreffenden Staatsgeschäften zur Hand, dazu mit der deutschen Literatur vertraut; Napoleon, auf eine bestimmte Stelle im »Werther« bestens präpariert. Wir erfahren nicht, welche. Denn über den Wortlaut der Unterhaltung machte Goethe zeit seines folgenden Lebens ein Gewese und Geheimnis, so daß er nicht zu rekonstruieren ist.

Seiner Christiane teilt er mit, daß der Kaiser »sich auf die gnädigste Weise lange mit mir unterhielt«; Cotta erfährt: »Ich will gerne gestehen, daß mir in meinem Leben nichts Höheres und Erfreulicheres begegnen konnte, als vor dem französischen Kaiser, und zwar auf eine solche Weise, zu stehen.«

Goethe sah zuvor schon in Napoleon, wie er unter dem 3. Januar 1807 an seinen Freund Knebel schreibt, »die höchste Erscheinung, die in der Geschichte möglich war«. Sein Stehen und Bestehen vor Napoleon geht in die autobiographischen Schriften nicht ein, steht nicht in »Dichtung und Wahrheit«. Sechzehn Jahre danach, 1824, schreibt er erstmals eine Disposition. Dazu Blumenberg: »Die szenische Anweisung für eine Liturgie der Initiation.«

»oethe 1824: Die Menge entfernte sich ... Ich werde in das Kabine"t » des Kaisers gerufen. In demselben Augenblick meldet sich » » Daru, welcher sogleich eingelassen wird. Ich zaudere deshalb. » » Werde nochmals gerufen. Trete ein. Der Kaiser sitzt an einem » » großen runden Tische frühstückend ... Der Kaiser winkt mir » » hereinzukommen. Ich bleibe in schicklicher Entfernung vor ihm » » stehen. Nachdem er mich aufmerksam anblickt, sagte er: Vous » » etes un homme. Ich verbeuge mich ... »

Demnach wäre der berühmte Spruch nicht nach Goethes Abgang als Nachrede, sondern quasi zur Begrüßung gefallen. Das macht aber wenig Sinn. Friedrich von Müller, der von sich sagt, Goethe habe ihm »nach und nach die Einzelheiten jener Unterredung« mitgeteilt, übermittelt das Wort als eine Nachrede.

Hans Blumenberg hält sogar -- allen Ernstes? -- für möglich, das Ganze könnte auch eine Art Vernehmung zum Personenstand gewesen sein. Denn der frühstückende Kaiser schließt die Frage an: »Wie alt seid Ihr?«, und dann »Seid Ihr verheiratet?« -dank Napoleons Soldaten war er''s.

So scheint die eigentliche Bedeutung in Goethes Augen denn auch darin gelegen zu haben, daß er gewürdigt worden war, das Weltgenie zu sehen, und daß er dem Blick des Alleszermalmers standgehalten hatte, anders als dessen Schneider oder Juwelier.

1826 stieg der Herzog von Wellington auf der Durchreise nach St. Petersburg in Weimar ab. Der getreue Eckermann sah ihn leibhaftig und hat nun auch sein Napoleon-Erlebnis. Dem Goethe berichtet er: »Man braucht ihn nur ein einziges Mal anzusehen, um ihn nie wieder zu vergessen, ein solcher Eindruck geht von ihm aus.«

Natürlich muß Goethe nun trachten, Eckermanns Erlebnis herunterzustufen, schon um die Einzigartigkeit seiner eigenen Begegnung mit Napoleon zu behaupten. »Da haben Sie einen Helden mehr gesehen«, entgegnet er leicht abschätzig, und so etwas wolle ja immer etwas heißen.

Wie eingelernt kommt er auf Napoleon zu sprechen, und wie eingelernt »edauert Eckermann, diesen nie gesehen zu haben. Eckermann: » » Freilich, sagte Goethe, das war auch der Mühe wert. Dieses » » Kompendium der Welt! - Er sah wohl nach etwas aus? fragte » » ich. Er war es, antwortete Goethe, und man sah ihm an, daß er » » es war; das war alles. »

Das war alles. Napoleon hatte dem an seiner Identität irregewordenen Goethe als neuer Prometheus Halt geboten, war aber von den Göttern, wie Prometheus, zu Boden geschleudert worden, vom ganzen Universum, wie Goethe sich auszudrücken liebte; angeschmiedet auf dem Felsen von St. Helena bis zu seinem Sterbejahr 1821.

1815 kommt Goethe gegenüber Sulpiz Boisseree auf die Vollendung des »Faust« zu sprechen. Er findet das Ende sehr gut und grandios geraten. Er sagt: »Faust macht im Anfang dem Teufel eine Bedingung, woraus schon alles folgt. Faust bringt mich dazu, wie ich von Napoleon denke und gedacht habe. Der Mensch, der Gewalt über sich selbst hat und behauptet, leistet das Schwerste und Größte.« Friedrich Nietzsche dreht das um: »Das Ereignis, um dessentwillen er seinen Faust, ja das ganze Problem ''Mensch'' umgedacht hat, war das Erscheinen Napoleons.«

S.171

Mancher möcht im Leben was erreichen, mancher möcht im Leben etwas

sein, der will sich mit Napoleon vergleichen, und sei es auch Herr

Gänseklein.

Der Entertainer im Cabaret »Rote Mühle«, Hannover 1943

*

S.174

Er sei krank zu Bett gelegen und es sei ihm beinahe unmöglich

erschienen, an einer großen Zeremonie bei Hofe teilzunehmen. Da sei

ihm glücklicherweise ein Napoleontischer Spruch ins Gedächtnis

gefallen: I''Empereur ne connoit autre maladie que la mort. Daraufhin

sagte er dem Arzt, er werde, wenn nicht tot, pünktlich zur Stelle

sein. Es scheint, daß der Arzt und die Natur sich diesen

tyrannischen Spruch zu Gemüte genommen haben, denn ich stand Sonntag

zur rechten Stunde an meinem Platze ...

*

S.176

Denn zu dessen (Napoleons) Folgen gehört auch, daß der tätige Mann

nur noch im stillen für die Zukunft manches Gute vorbereiten könne,

an literarische Wirkung aber auf Jahre gar nicht zu denken sei.

Erstaunlicherweise enthält Goethes Fazit keine Bitterkeit gegenüber

dem, der sich selbst für die Welt zum Mangel gemacht hatte. Obwohl

die Bilanz von Größe und Opfern durch den »Schreckensmann« erst

eröffnet worden sei, erscheine er dem Goethe nun als das, was der

Welt wiederum fehlt, um diese Bilanz endlich abschließen zu können:

ein neuer Napoleon muß her, um den Dichter und die Phantasie der

Menschen zu entzücken.

*

S.179

Die Menge entfernte sich ... Ich werde in das Kabinett des Kaisers

gerufen. In demselben Augenblick meldet sich Daru, welcher sogleich

eingelassen wird. Ich zaudere deshalb. Werde nochmals gerufen. Trete

ein. Der Kaiser sitzt an einem großen runden Tische frühstückend ...

Der Kaiser winkt mir hereinzukommen. Ich bleibe in schicklicher

Entfernung vor ihm stehen. Nachdem er mich aufmerksam anblickt,

sagte er: Vous etes un homme. Ich verbeuge mich ...

*

Freilich, sagte Goethe, das war auch der Mühe wert. Dieses

Kompendium der Welt! - Er sah wohl nach etwas aus? fragte ich. Er

war es, antwortete Goethe, und man sah ihm an, daß er es war; das

war alles.

*

S.171Hans Blumenberg: »Arbeit am Mythos«. Suhrkamp Verlag; 699 Seiten; 68Mark.*S.176"Den Kaiser -- diese Weltseele -- sah ich durch die Stadt zumRekognoszieren hinausreiten; -- es ist in der Tat eine wunderbareEmpfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einenPunkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Weltübergreift und sie beherrscht."*Friedrich von Müller: »Erinnerungen aus den Kriegszeiten von 1806bis 1813«, 1851 veröffentlicht.*

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