LITERATUR Mit Stella auf der Insel
Noch bevor das Buch auf dem Markt war, lief schon die zweite Auflage durch die Druckmaschinen. Die Erwartungen des Buchhandels sind immens, und es ist unschwer vorauszusagen, dass die neue Erzählung des Auflagenmillionärs Siegfried Lenz ("Deutschstunde") ein großer Verkaufserfolg werden wird: Sie heißt »Schweigeminute« und ist nicht einmal 130 Seiten stark*. Es eilt ihr der Ruf voraus, dass sich Lenz, 82, darin von einer neuen Seite zeige: als erotischer Erzähler.
Als vor fünf Jahren der umfangreiche Roman »Fundbüro« herauskam, die kreuzbrave und ein wenig umständlich erzählte Geschichte eines jungen Mannes, der eine verheiratete Frau verehrt, sich ihr aber nicht zu nähern wagt, wurde der Autor in einem SPIEGEL-Gespräch (27/2003) danach gefragt, warum er auf die Darstellung sexueller Begegnungen in seinen Büchern wenig Wert legt. Lenz antwortete, seine Figuren »ins Bett zu schicken« habe für ihn »zu wenig Beweisqualität«.
Diese Formulierung zitierte jetzt genüsslich der mit Lenz befreundete Kritiker Marcel Reich-Ranicki. Anlass war der Beginn des Fortsetzungsabdrucks der Erzählung in der »Frankfurter Allgemeinen«. Er könne sich nicht erinnern, so Reich-Ranicki, 87, »je einen ähnlich verwegenen Satz über die Sexualität gelesen zu haben, einen Satz, der sich auf verblüffende und, zugegeben, imponierende Weise über die Weltliteratur hinwegsetzt«.
Und nun? Hat dieses Mal auch Lenz, wie in jüngerer Zeit sein Kollege Martin Walser ("Angstblüte") oder der von ihm geschätzte US-Autor Philip Roth ("Der menschliche Makel"), deutliche Worte für die körperliche Seite der Liebe gefunden?
Zunächst einmal: Es geht nicht um die Darstellung einer Affäre zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau, um das also, was neuerdings gern als »Altherrenerotik« abgetan wird - wenn allerdings bei Walser Goethe für die junge Ulrike schwärmt ("Ein liebender Mann"), dann ist die Kritik auf einmal bemerkenswert nachsichtig.
Es ist ein Gymnasiast, Christian, der sich in der »Schweigeminute« seiner noch sehr jungen, sportlichen Englischlehrerin nähert. Oder nähert sie sich ihm? Die Liebesaffäre wird jedenfalls aus der Perspektive des Jungen geschildert. Die Geschichte, die im Rückblick erzählt wird, beginnt und endet am Wasser. Die Lehrerin Stella hat sich für ein paar Ferientage in dem fiktiven Seebad Scharmünde eingemietet, im Hotel Seeblick.
Die junge Frau im leuchtend grünen Badeanzug interessiert sich für alles, was mit dem Meer zu tun hat, auch für die Arbeit der Steinfischer, zu denen Christians Vater gehört, und die ihre schweren Brocken aus unterseeischen Steinfeldern bergen, um sie dann zur Verstärkung der Mole in Strandnähe wieder zu versenken.
Christian - er geht seinem Vater gelegentlich zur Hand - bietet der Lehrerin an, ihr diese Steinfelder zu zeigen. Dabei treiben sie in ihrem Boot ab und landen auf einer kleinen Insel. Dort kommt es zur ersten, noch zarten Annäherung. Stella duldet es, dass der Junge ihr den Rücken streichelt. Plötzlich aber schaut sie ihn erstaunt an, »als hätte sie unerwartet etwas gespürt oder entdeckt, womit sie nicht gerechnet hatte«.
Dann folgt ihr der Junge wie selbstverständlich aufs Hotelzimmer, bleibt über Nacht, auch wenn es zu mehr als Küssen vorerst nicht kommt. Was das alles für ihn bedeutet, wie neu das für ihn ist, bleibt so undeutlich wie die Distanz, aus der der Ich-Erzähler sich erinnert.
Lange bleibt auch offen, zu welcher Zeit das alles spielt. Im Krieg oder in der Nachkriegszeit, als Lenz selbst ein junger Mann war? Erst spät kommen ein paar Hinweise: Von einem Containerriesen ist die Rede, von einem Zweimarkstück - es dürfte also gegen Ende des 20. Jahrhunderts sein.
Wie auch immer: Die Liebenden haben zu allen Zeiten ihr lauschiges Plätzchen gefunden. Stella und Christian kommen an einem »warmen, windstillen Nachmittag« zueinander, der junge Mann fühlt sich durch ihren Blick ermuntert: »Ich streifte ihren Badeanzug ab, und sie ließ es geschehen, sie half mir dabei, und wir liebten uns dort in der Mulde bei den Kiefern.«
Expliziter wird Lenz nicht. Er verschreckt sein treues Publikum nicht durch ungewohnte Drastik. Zudem hat er der Geschichte einen Rahmen gegeben, in den sich Christians Erinnerung an diesen Sommer elegisch einfügt: Von der ersten Seite an ist klar, dass Stella nicht mehr lebt. Sie wurde bei einem Bootsunglück so schwer verletzt, dass sie kurz darauf starb. In der Aula der Schule wird eine Trauerfeier für sie veranstaltet.
Daher der Titel »Schweigeminute«. Die Frage, was aus dieser Liebe hätte werden können, stellt sich erst gar nicht. Und einige den Kitsch streifende Passagen sind durch die Atmosphäre der Trauer gedeckt, etwa wenn Christian seine Stella im Geist anspricht oder altklug meint: »Vielleicht muss ja im Schweigen ruhen und bewahrt werden, was uns glücklich macht.«
Siegfried Lenz hat diese Geschichte, seine »Schweigeminute«, ruhig und souverän erzählt: ein Alterswerk, das trotz seines unaufgeregten Tons einen starken Sog erzeugt - selbst wenn manche Frage offenbleibt, vieles nur angedeutet wird. Vielleicht aber auch gerade deswegen.
VOLKER HAGE
* Siegfried Lenz: »Schweigeminute«. Verlag Hoffmann und Campe,Hamburg; 128 Seiten; 15,95 Euro.