SPIONAGE Mit unsichtbarer Tinte
Der Codename lautete »Totes Huhn«. So chiffrierte Hans Curt Werner Meyer-Clason, Kaufmann im südbrasilianischen Porto Alegre, 1941 eine vertrauliche Botschaft an seinen Geschäftspartner Eduard Arnold in São Paulo. Sein Pech: Ein Jahr später fiel die gesamte private und geschäftliche Korrespondenz der Polizei in die Hände.
1942 wurde Meyer-Clason in Porto Alegre festgenommen. Er gestand, für das Deutsche Reich spioniert zu haben, und wurde von einem Militärgericht zu 20 Jahren Haft verurteilt. Fünf Jahre lang saß er auf der Gefängnisinsel Ilha Grande vor Rio de Janeiro ein. In dieser Zeit, bekannte er später, habe er sein Interesse für Literatur entdeckt. 1947 wurde das Urteil aufgehoben und der Prozeß für nichtig erklärt. Zu seinem Geständnis hatte die Polizei ihn mit Schlägen gezwungen.
Zurück in Deutschland, arbeitete Meyer-Clason als Übersetzer und Schriftsteller. In seinem 1986 erschienenen autobiographischen Roman »Äquator« schilderte er seine Kindheit im strengen Offiziershaushalt, seine Lehrjahre in Brasilien und »die Wandlung« durch die Inselhaft.
Heute gilt Meyer-Clason, 87, als Wegbereiter der lateinamerikanischen Literatur in Deutschland. Der vielfach ausgezeichnete Literat übersetzte unter anderem die Werke des brasilianischen Klassikers Guimarães Rosa und des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez. Zum Ende der Salazar-Diktatur in Portugal leitete er das Goethe-Institut in Lissabon, wo er vielen Dissidenten ein Podium bot.
Nun bringen die alten Vorwürfe und neue Aktenfunde Meyer-Clason wieder in Verruf. Dokumente aus brasilianischen Geheimarchiven, die jetzt bekannt wurden, erhärten den Verdacht, daß er ein Nazi-Informant gewesen sei. Während seines Aufenthalts in Brasilien, so behauptet die junge Historikerin Priscila Ferreira Perazzo in einer Studie, habe der Deutsche als Spitzel gearbeitet.
Die Polizeiakten enthalten Originallisten und Briefe, in denen Meyer-Clason brasilianische Firmen und Geschäftsleute als »jüdisch« und »anti-Deutsch« einstufte. »Ich sehe nicht ein, warum wir mit Juden arbeiten sollen«, schrieb er beispielsweise an Arnold im Jahr 1940.
Er habe als selbständiger Handelsagent Exportaufträge von Arnold erhalten, sagt Meyer-Clason heute dazu: »Ich kabelte Preise, nannte Verladefirmen. Für seine Deutschland-Geschäfte wollte Arnold wahrscheinlich keine jüdischen Exporteure. Und ich war damals noch so vernagelt, daß ich das geschrieben habe. Aber das hat doch mit Spionage nichts zu tun.«
Nur, warum schlug er dann Geschäftspartnern vor, Botschaften zu kodieren? Zur Übermittlung seiner Informationen habe er »verschlüsselte Briefe, unsichtbare Tinte, Mikrofotografien und Geheimcodes benutzt«, schreibt die Historikerin Perazzo: »Meyer-Clason sammelte Informationen über die Routen der englischen Kriegsmarine und übermittelte sie an die Deutsche Botschaft in Rio de Janeiro.« Sein Kontaktmann an der Botschaft sei der Attaché Graf Adelmann gewesen.
Adelmann habe ihn zwar im Gebrauch unsichtbarer Tinte unterwiesen, räumt Meyer-Clason ein. Doch sei er den Nazi-Diplomaten schon früh unangenehm aufgefallen, weil er beim Bier im Deutschen Club Hitler einmal als den größten Lügner der Weltgeschichte bezeichnet habe. Deshalb habe man ihn nie als Informanten eingesetzt.
Bis 1940 hatte Meyer-Clason als Vertreter der amerikanischen Baumwollfirma Edward T. Robinson in São Paulo gearbeitet. Nach seiner Entlassung eröffnete er eine Handelsagentur in Porto Alegre, die Verschiffungen von Mais, Sojabohnen und anderen Agrargütern vermitteln sollte. In Briefen an Arnold gab er Details über Fimen und Schiffahrtslinien weiter - Spionage oder normales Geschäftsgebaren?
»Das waren die von der Hafenbehörde veröffentlichten Listen, die an alle Im- und Exporteure unentgeltlich verteilt wurden. Die kabelte ich natürlich meinem Partner. Das ist übliche Handelspraxis«, erklärt Meyer-Clason heute. Perazzo ist dagegen überzeugt, daß er sich verpflichtet habe, »permanent für den deutschen Spionagedienst in Brasilien zu arbeiten«.
Die verfänglichen Unterlagen stammen aus den Archiven der politischen Polizei DOPS, die erst mit dem Ende der Militärdiktatur 1983 aufgelöst wurde. Teile der Akten werden seit 1991 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die Originale zu Meyer-Clason, die der SPIEGEL jetzt einsehen konnte, lagern im Staatsarchiv von São Paulo. Die Akte ist in zwei Dokumentensammlungen über »Deutsche Spionageringe in Rio Grande do Sul« enthalten, die 1942 von der Polizei angelegt wurden.
Perazzo, die den Fall untersucht hat, gehört zu einem Forscherteam an der Universität von São Paulo, das unter Leitung der Professorin Maria Luiza Tucci Carneiro derzeit rund 9000 Polizei-Dossiers und 150 000 Vernehmungsprotokolle aus der Kriegs- und Nachkriegszeit auswertet. Zusammen mit dem Goethe-Institut in São Paulo hat Carneiro ein Buch über die Lebenswege jüdischer Flüchtlinge und die Deutschen in Brasilien während des Kriegs herausgegeben*.
Das Werk wirft ein neues Licht auf die Geschichte der Deutschen in Brasilien. Diktator Getúlio Vargas, der mit einer Unterbrechung von 1930 bis 1954 regierte und als Vater des modernen Brasilien gilt, bewunderte zunächst Hitlers und Mussolinis Weltbild. »Ab 1933 schwadronierte Vargas von einer reinen, überlegenen Rasse«, sagt Carneiro. Politiker und Intellektuelle, Anhänger des »Ariertums« und der »Eugenik« schlugen die »Weiß-Werdung« als Lösung der brasilianischen Rassenprobleme vor. Vargas selbst verherrlichte die »brasilidade«, das »Brasilianertum«. Seine Jugendorganisationen ließ er nach dem Vorbild der HJ aufbauen.
1937 putschte Vargas und rief den semifaschistischen »Estado Nôvo« (Neuer Staat) ins Leben. Bis Ende der dreißiger Jahre sympathisierte er mit Hitler und Nazi-Deutschland, sein Sohn Luthero studierte ab 1938 in Berlin Medizin. Die NSDAP unterhielt Partei-Ableger in mehreren brasilianischen Städten. Vor allem bei den Deutschen im Süden fand sie viele Anhänger.
Vargas, so geht aus den jetzt geöffneten Dokumenten hervor, betrieb eine offen antisemitische Einwanderungspolitik. »1937 wurden Brasiliens Grenzen für Juden geschlossen«, sagt Carneiro. Das Außenministerium führte Listen jüdischer Flüchtlinge, die nicht ins Land gelassen wurden. Der Diktator ließ geheime Rundschreiben
* »Brasilien, Fluchtpunkt in den Tropen«. Editora Estação Liberdade, São Paulo.
an die Behörden schicken und untersagte die Einreise von »Semiten«.
Die deutschfreundliche Politik schlug erst allmählich um. Vargas begann, in Ausländern eine Gefahr für sein »Brasilianertum« zu sehen; die Deutschen und Deutschstämmigen im Lande, so fürchtete er, würden nicht in der »brasilianischen Rasse« aufgehen und könnten Hitler gar einen Vorwand für eine Invasion liefern.
Ab 1942, als Brasilien auf amerikanischen Druck hin Deutschland den Krieg erklärte, ging die Regierung scharf gegen alle Deutschen und Deutschstämmigen im Lande vor. Ihre Banken, Clubs und Firmen wurden aufgelöst. Wer auf der Straße deutsch sprach, wurde verhaftet. Deutsche durften »aus strategischen Gründen« nicht mehr an der Küste wohnen, Zehntausende mußten ins Landesinnere umsiedeln.
Viele wurden zu Unrecht verfolgt. »Alle Deutschen wurden pauschal als Nazis verdächtigt«, bestätigt die Historikerin Perazzo. Sogar Juden litten unter der Repression, weil die Brasilianer oft keinen Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen machten. Tausende von Einwanderern wurden in elf Lagern zusammengetrieben, wo sie Zwangsarbeit verrichten mußten.
Die Geheimpolizei rühmte sich derweil, zahlreiche Spionageringe im Lande aufgedeckt zu haben. Viele Deutsche spitzelten tatsächlich für das Nazi-Regime. »Sie verstanden sich als Patrioten und Nationalisten, die glaubten, für den Sieg des Deutschen Reichs im Krieg arbeiten zu müssen«, schreibt Perazzo. »Wenn sie schon nicht auf dem Schlachtfeld mitkämpfen konnten, so wollten sie wenigstens insgeheim im Krieg mitmachen.«
Die deutsche Abwehr unter Leitung von Admiral Canaris hatte mehrere weitverzweigte Agentenringe in Südamerika aufgebaut. Sie wurden zumeist von den deutschen Botschaften ausgeführt. Chef in São Paulo war Hans Christian von Kotze, der sich als Abgesandter des deutschen Wirtschaftsministeriums ausgab. Er fiel durch seinen opulenten Lebensstil auf, spielte gern in Casinos, gab viel Geld aus und hatte eine ungarische Tänzerin als Geliebte.
Seinen Mitarbeitern beschaffte er Funkgeräte, mit denen sie von Brasilien aus Meldungen nach Deutschland durchgaben. Bei der Verhaftung von Kotzes und seines Kollegen Werner Waltemath 1943 entdeckte die Polizei unter dem Parkett in Waltemaths Wohnzimmer eine komplette Sendeanlage.
Meyer-Clason habe vorwiegend im südlichen Bundesstaat Rio Grande do Sul operiert, glaubt Perazzo nach Auswertung der Polizeiunterlagen zu wissen. Doch wie weit er wirklich in Spionage verstrickt war, läßt sich anhand der brasilianischen Dokumente nicht zweifelsfrei bestimmen.
Meyer-Clason stammt aus einer kaisertreuen Offiziersfamilie, die nach dem Freitod des Vaters verarmt war. Der Urgroßvater der Mutter war nach England ausgewandert. Der junge Kaufmann sprach perfekt Englisch, nach seiner Ankunft in São Paulo 1936 lebte er in einer englischen Pension und verkehrte hauptsächlich im englischen Club.
In Briefen an seine Mutter mokierte er sich über »deutsche Spießer«, die bei Botschaftsempfängen keinen Whisky ausschenken wollten, weil es als Feind-Getränk galt. Heute beurteilt er sich rückblickend als Lebemann, der schnell reich werden wollte - »vollkommen unfertig, aus dem Elternhaus geprägt von den schlimmsten Vorurteilen, ein junger Mann, anfällig für alle Versuchungen«.
Die brasilianischen Polizisten legten Fotos aus seinem Familienalbum zu der Akte - darunter Bilder, die ihn in Uniform zeigen. In Bremen war der junge Offizierssohn im Soldatenbund Stahlhelm, der von den Nazis später teilweise in die SA eingegliedert wurde. Meyer-Clason sei schon bei seiner Ankunft in São Paulo 1936 in die örtliche NSDAP-Niederlassung eingetreten, behauptete die Polizei. Er bestreitet das: »Ich war nie Mitglied und habe nie einen Beitrag gezahlt.« In den Beständen des Bundesarchivs, des ehemaligen Berlin Document Center, liegt nichts über Meyer-Clason vor.
Bei Kriegsende 1945 wurden die brasilianischen Konzentrationslager aufgelöst. Wer als Spion verurteilt worden war, mußte jedoch zumeist bis 1947 in Gefangenschaft ausharren. Dann strömten neue Flüchtlinge aus Deutschland nach Brasilien: Juden, die dem Holocaust entkommen waren, aber auch ihre Peiniger, darunter KZ-Arzt Josef Mengele, der 1979 starb und in Embú im Bundesstaat São Paulo beerdigt wurde. Etwa 1200 Nazis sollen in Brasilien Unterschlupf gefunden haben.
Den Jahren der Haft verdanke er alles, sagt Meyer-Clason heute. »Wenn man mich nicht als Häftling auf die Insel geschickt hätte, wäre ich einer dieser vielen überflüssigen Millionäre geworden.«
* Von brasilianischen Beamten mit handschriftlichen Anmerkungenversehen.* »Brasilien, Fluchtpunkt in den Tropen«. Editora EstaçãoLiberdade, São Paulo.