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FERNSEHEN Mit Widerhaken

Das Frühabendprogramm, lange Zeit mit Idylle und Klamauk besetzt, wird seriöser.
aus DER SPIEGEL 30/1976

Nach der Flucht aus dem Erziehungsheim hat er gegammelt, Autos geklaut und Leute verprügelt. Die »Bullen« haben seinen Kumpel erschossen, Rick Stickel gerät in die Mühlen des deutschen Strafvollzugs.

Häftlinge, so lernt er dort von den Aufsehern, »sind wilde Tiere« und »nie zu ändern. Knast-Aggressionen entladen sich in wüsten Krawallen, unter den »Knackis« grassiert der »Zellenkoller«. Und wenn das Schlagwort Resozialisierung fällt, brechen die Gefangenen nur in höhnisches Gelächter aus.

Die Anstaltspsychologin« liberal und reformfreudig, versucht es dennoch. Sie bringt den störrischen Stickel, den »Mann ohne Lachen«, in ihrer »Experimentierstation« unter. Doch als »Freigänger« scheitert er: Die mißtrauischen Arbeitskollegen schnüffeln in seiner Vergangenheit, zur Fahrstunde erscheint er im Suff. Nach vier Jahren Jugendhaft steht Stickel ratlos vorm Gefängnistor -- mit nichts als dem schönen Traum, einen Lkw zu kutschieren.

Den Knies im Knast, das Pro und Contra um den humaneren Strafvollzug hat jetzt das ZDF -- mit 1,8 Millionen Mark und viel, vielleicht zuviel pädagogischem Eifer -- aufwendig in Szene gesetzt. Mehr als fünf Programmstunden lang geht es, ab Mittwoch, 19.30 Uhr. den Leidenswegen junger Strafgefangener im »Block 7« nach.

Die siebenteilige Spielserie ist ein Produkt der evangelischen Mainzer Kirchenredaktion, deren erklärtes Programm-Ziel, »Minderheiten, die keine Lobby haben, ins öffentliche Bewußtsein zu heben«, schon mehrmals vorteilhaft aufgefallen ist.

Im Team mit der kirchlichen Münchner TV-Firma »Eikon« haben die Mainzer beispielsweise Gastarbeiternöte im »Hauptbahnhof München« und Obdachlosenschicksale im »Patenkind« vorgeführt. Sie haben Alltagssorgen und Konflikte in der »Familie Mack« durchgespielt und Mitgefühl für ein mongoloides Kind, für »Unseren Walter« geweckt. Und mit diesen realistisch-sendungsbewußten Serien, mit diesem »Stück Evangelium im Fernsehen« (Ressortchef Fried Thumser) erleuchteten die ZDF-Christen auch die Serienfabrikanten des frühen TV-Abends.

1969, als Thumser (damals im Werberahmenprogramm) sich schon um die Mack-Familie seelsorgte, waren die Fernsehkanäle noch voll von allerlei Flach- und Schwachsinn. Zwischen 18 und 20 Uhr dominierten Humbug und Klamauk, reaktionäre Familien-Schnulzen und Schollen-Dramen à la »Förster Horn« und »Landarzt Dr. Brock«. Und wenn die Kritik unisono »niederschmetternde« Bilanzen des Vesperprogramms vorlegte, konterten TV-Beamte wie die NDR-Dame Helga Mauersberger zynisch, das Heile-Welt-Panoptikum sei »für die Menschen in Posemuckel vielleicht ganz richtig«.

Doch mit den Jahren wuchs die Einsicht, daß Serienmacher nicht nur als ergebene Diener der Werbewirtschaft funktionieren, die fortwährend »gequirlten Katzendreck« (TV-Autor Michael Mansfeld) abzusondern hätten. Eingedenk der Tatsache, daß am frühen Abend schon halb Fernseh-Deutschland und Millionen Kinder vor der Röhre hocken, plädierten die TV-Chefs für mehr »Realitätsnähe«. Der 1975 verstorbene ZDF-Programmdirektor Gerhard Prager verlangte »Themen mit Widerhaken«, sein Nachfolger Dieter Stolte versprach Aufklärung über Mitbestimmung, Fließbandarbeit und Lehrlingsausbildung.

So bevölkern nun statt weltfremder Oberförster, Hofschranzen und Klamottenhelden immer häufiger Sozialarbeiter, Psychologen und Betriebsräte die Vorabend-Szene. Und statt verlogener Idyllen rückt -- in sozialkritischen Miniaturen -- die gemeine Arbeitswelt ins Bild. Wohlwollend sammeln TV-Kritiker wie der Hamburger Manfred Delling »Belege dafür, was mit den Mitteln der Familienserie Vernünftiges zu leisten ist«.

* Bernd Tauber als Rick Stickel.

Die ARD etwa hat in Serien wie »Ein Fall von nebenan«, »Dein gutes Recht« und »Eine ganz gewöhnliche Geschichte« über Armenrecht und Berufskonflikte, über Bodenspekulation und viele, viele soziale Härtefälle berichtet. Das ZDF machte in seiner »Anwalt«-Serie eklatante Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik publik. Von Oktober an wird, dreizehnteilig, auch die Emanzipation behandelt: Im Serial »Den lieben langen Tag« werden Frauen im Zwiespalt zwischen Karriere und Familienglück porträtiert.

Trendwende also im Werberahmen? Aus den Prognosen der Redakteure spricht Skepsis. Preiswerter Import-Ramsch (Programmanteil im ZDF-Vorabend: 50 Prozent) wie der kürzlich abgetretene idiotische ZDF-»Geheimagent 0014« werde die Reklamespots auch künftig garnieren. Das »Heitere und Unterhaltende« sei des Zuschauers gutes Recht, »sonst stumpfen die Leute ab«.

Noch immer sehen sich überdies die TV-Redaktionen von Vorurteilen der Regisseure und Autoren gebremst, die für die dramaturgisch undankbaren, klischee-anfälligen Spielkürzel ungern ihren Namen hergeben. Und solange »elitäre« Anstaltskollegen auf die Serien-Konfektionisten »arrogant herunterblicken«, wie es der SFB-Mann Hans-Bodo von Dincklage beklagt, solange wird ein Herzenswunsch des Mainzer Serien-Betreuers Horst-Joachim Gehrmann wohl unerfüllbar sein: daß der frühe Fernsehabend »zur Experimentierbühne der großen Serie« avanciert.

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