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Reinhard Kapferer über Giscard d'Estaing: "Démocratic Francaise" Modell Frankreich?

Professor Reinhard Kapferer, 44, lehrt Politische Wissenschaft in Heidelberg und arbeitet gegenwärtig an einem Buch über die Deutschlandpolitik de Gaulles. Präsident Giscards Buch »Démocratie Francaise« erscheint auf deutsch im Januar 1977 bei S. Fischer.
aus DER SPIEGEL 48/1976

Das Ereignis war bedeutend. Ankündigung und Umstände verhießen eine politische Sensation. »Das Wichtigste, was seit 1968 in diesem Lande geschah«, versprachen Giscards politische Freunde.« Die Gedanken eines Staatsmannes, der zu den jüngsten und modernsten der Welt gehört, sind Frankreichs große Chance ... laßt uns mit ihnen den Enthusiasmus unserer Landsleute entflammen«. orakelte der Generalsekretär der Partei des Präsidenten. Das Publikum reagierte angemessen: Binnen acht Tagen waren 850 000 Exemplare verkauft.

Nach der Lektüre befand eine ernüchterte Nation freilich, daß es doch zuviel des Wirbels um die »Französische Demokratie« sei. 45 Prozent der befragten Leser waren der Ansicht, man spreche unangemessen viel darüber, 42 Prozent hielten das Buch für reine Regierungspropaganda. Nach den Inhalten befragt, unterschieden die Leser penibel: maßvoll freundliche Zustimmung zu den Präsidenten-Visionen (56 Prozent), entschiedene Enttäuschung ob der von ihm angekündigten konkreten Maßnahmen (62 Prozent).

Das Leser-Urteil trifft die Schwäche des Buches. Das Werk, eine Mischung aus polit-philosophischem Essay, Erfolgsbilanz zweijähriger Präsidentschaft, summarischem Regierungsprogramm und neoliberalem Glaubensbekenntnis, entspricht zwar in seinen optimistischen Entwürfen dem moderatprogressiven Geschmack eines aufgeklärten bürgerlichen Publikums, es verfehlt indessen in seinen Analysen die aktuelle französische Realität und vermag in seinen politischen Konsequenzen wenig zu überzeugen.

Der Anspruch freilich ist hoch. Das »Projekt«, wie der Autor seinen visionären Appell gerne nennt, zielt auf die Schöpfung der modernen, der »authentischen« Demokratie, der Modell-Demokratie für aufgeklärte Industriegesellschaften schlechthin, mit mindestens gesamteuropäischer Perspektive und hinweisend auf Dimensionen einer neuen menschheits-historischen Qualität.

Was also? Überschlagen wir den Katalog der präsidialen Erfolgsbilanzen (Tenor: Verbesserung der Lebensqualität »wie vielleicht nur in den ersten Jahren der Französischen Revolution"), ebenso die massiven nationalen Flatterien ("Le peuple le plus sensible du monde"), kommen wir zu des Präsidenten methodisch-philosophischem Ansatz. Der archimedische Punkt des. »Projektes«, seine sozialethische Basis soll sein die Anerkennung des konkreten Menschen und seiner Bedürfnisse, die Rehabilitation des durch »abstrakte Ideologien« und »mechanische Systeme verkrüppelten Lebens. Giscard nennt es die »Démarche anthropocentrique«.

Das geht gegen die »Ideologien«. Der Feind steht links und ein wenig auch extrem rechts. Links, wo ein zum »Katechismus erstarrter, mehr als hundertjähriger Dogmatismus« seine Gläubigen mystifiziert, und rechts, wo ein »conservatisme toujours triste« humanere Zukunft verbaut. Aber vor allem links, von wo in vielen Variationen und Verkleidungen das Erzübel des »Kollektivismus« droht.

Die Argumente sind wenig originell: Marxismus und »klassischer Liberalismus« werden als Antiquitäten des 19. Jahrhunderts entlarvt, beiden Inhumanität attestiert, weil sie die »menschliche Realität verkennen«. Ihre historischen Meriten werden anerkannt, bei Marx die analytische Methode, beim »klassischen Liberalismus« Freiheitsrechte und Marktwirtschaft.

Die Widerlegung Marxens vermittels historischer Beweisführung kein Zusammenbruch des Kapitalismus, keine Verelendung des Proletariates, keine proletarische Revolution in den Industriegesellschaften -- bringt Giscard endlich zum Kern der eigenen sozialen Theorie. Die Entwicklung moderner Gesellschaften laufe, wie bewiesen, der marxistischen Prognose zuwider. Nicht Klassenkampf kennzeichne ihre Dynamik, sondern wachsende Klassenkooperation. Frankreich insbesondere zeige längst das Beispiel »einer Gesellschaft auf dem Wege zur Einung«. Hier ereigne sich die Geburt eines sozialen Phänomens, der Auftritt nämlich einer »gewaltigen Mittelschicht«, in der der Präsident nichts Geringeres als den friedlichen Schöpfer einer zukünftigen bürgerlich-klassenlosen Gesellschaft zu erkennen vermeint.

Die Vision ist übermächtig: Nicht nur gerät ihm die Beschreibung der Physiognomic der »Neuen Klasse« ins Schwärmerische, er wähnt sie auch bereits am wohltätigen Werk. »Die soziologische Mitte unserer Nation bildet bereits eine reale Einheit und vereinigt in sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung.« Daraus zwei wichtige Erkenntnisse: Die Behauptung, Frankreich sei sozial und politisch in zwei feindliche Lager zerrissen, ist falsch, und, auf lange Sicht bedeutsamer noch, »dramatische Brüche« sind absolut überflüssig!

Die Grundübel aller bisherigen gesellschaftlichen Organisation haben sich hiermit im Prinzip erledigt, das Modell Frankreich zeigt einer staunenden Menschheit das Bild der durch friedliche Evolution versöhnten Nation. Daß die Hälfte der Franzosen dieses Faktum nicht zur Kenntnis nimmt, setzt der Präsident à conto ideologischer Verblendung.

Alles weitere hat seine Logik aus dieser soziologischen Prämisse und nimmt sich gescheit, vernünftig, progressiv und ungemein aufgeklärt aus. Die Restbestände der sozialen Misere sind auflösbar durch »Gerechtigkeit und Solidarität«. Privilegien gilt es zu beschneiden, Diskriminierungen abzubauen, Städte zu sanieren -- der zweite Teil des Buches liest sich über weite Strecken wie. die Regierungserklärung einer sozial-liberalen Koalition. Viel modisch-flottes Soziologenvokabular, einiges Beachtliches zum Begriff der »sozialen Gewalt«.

Konkreter wird der Autor, wo er sich auf die Wirtschaftsverfassung der sozial befriedeten Nation einläßt. Ebenso wie die politische Organisation soll sie dem Prinzip des »totalen Pluralismus« unterworfen sein. Was dann darauf hinausläuft, den Verstaatlichungen! Vergesellschaftungen und dem Planismus zu widersagen, dagegen der Konkurrenz, dem Markt und dem privaten Kapital freiheits- und wohlstandsstiftende Funktionen zuzuerkennen. Freilich auch dies in aufgeklärten Maßen: Giscard kennt und nennt die Gefahren der Monopole, der Multis, der Kapitalkonzentrationen, und er hat gegen die »planification à la francaise«, worunter er eine Art konzertierter Aktion versteht, nichts einzuwenden. Rundum das Programm eines aufgeklärten Liberalismus, hierzulande etwa bekannt aus den »Freiburger Thesen« der F.D.P.

Die ärgsten Zweifel beschleichen den Rezensenten bei der näheren Betrachtung der »Démarche anthropocentrique« und der These von der vollzogenen sozialen Einigung in der soziologischen Mitte. Was das letztere angeht, so müßten sie auch den Präsidenten beschlichen haben, nämlich beim Oberlesen der Seiten 154/155 seines Buches.

Dort ist kurz die Rede von dem, was tatsächlich sozial und politisch in Frankreich heute vorgeht. und da hat dann die Vision von der Mittelstands-Idylle ein jähes Ende: »Alles geschieht hier, als wären die politischen Debatten nicht die Auseinandersetzung zwischen Richtungen, sondern der Zusammenstoß zweier Wahrheiten, die sich ausschließen. Ihr Stil ist nicht der der Beratung unter Bürgern ... sondern der des Religionskrieges.« Dann freilich verflüchtigt sich die Realität sogleich wieder: Schuld daran sind halt einerseits die Ideologien und andererseits das mediterrane Temperament! Deutschland, das vielbewunderte, hat es da entschieden besser. Daß die eigene ideologische Prämisse -- die Vision von der harmonisch-kapitalistischen Mittelstandsgesellschaft -- etwas mit dem beklagten »Religionskrieg« zu tun haben könnte, oder gar eine andere als die von ihm wahrgenommene Realität, das kommt dem Adepten praktisch-progressiver Vernünftigkeit nicht in den Sinn.

Bedenklich im Hinblick auf des Autors aufgeklärte Liberalität erscheint sein Verständnis von Grundbefunden der Anthropologie und deren Umsetzung in soziale Ordnung. Giscards »Démarche anthropocentrique« weiß zwar von den gesellschaftlichen Voraussetzungen des sozialen Aufstiegs und will sie durch Schaffung von Chancengleichheit verbessern, letztlich bekommt aber eben der Tüchtige den Preis. »Die Freude an Verantwortung und die Fähigkeit, sie auszuüben, werden nicht durch die Geburt vermittelt. Sie entwickeln sich durch Erziehung und Ausbildung oder verkümmern durch Nicht-Gebrauch und laisser-aller.« Oder, wer es zu nichts bringt, ist selber schuld. Die alte Moral des »klassischen Liberalismus«.

Der Realität den Vorzug vor den Ideologien geben« -- ganz recht, Herr Präsident. Das wäre dann auch die Erkenntnis-Basis für eine etwas realistischere »Authentizität«.

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