BIOGRAPHIEN / LASSALLE Moderner Erlöser
Die Verse klingen, als hätte sie Alfred Rosenberg geschrieben, der in Nürnberg gehenkte Künder der germanischen Herrenrasse; in Wirklichkeit verfaßte sie Ferdinand Lassalle, einer der Väter der deutschen Sozialdemokratie:
Wo ist die Scholle dieses Weltteils, die nicht gedüngt ward durch Germanenblut? Wir haben neuem Leben ihn erobert. Unser -- wenn Jemandes, ist durch Befruchtung diese Welt!
Lassalle legte die Germanenworte Franz von Sickingen in den Mund, der Hauptfigur seines gleichnamigen historischen Dramas, das er 1859, damals 34 Jahre alt, veröffentlichte.
Professor Shlomo Na'aman, Historiker an der Universität von Tel Aviv, zitiert die »Sickingen«-Worte in seiner jüngst erschienenen Lassalle-Biographie*, um das nationale Programm des Arbeiterführers darzulegen, der großdeutsch dachte und ein Gegner der deutschen Kleinstaaterei war:
Es streicht nicht mehr die Zugluft der Geschichte durch solche Landparrell'n -- O glaube nimmer, in Pygmäenleibern uns Riesenseelen groß zu ziehn!
Was wir wollen, das ist ein ein'ges, großes, mächt'ges Deutschland ... Wiedergeburt, zeitmäßige, der alten, der urgermanischen gemeinen Freiheit ... ein -- evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze des großen Reiches!
Lassalle war -- Na'aman macht es an verschiedenen Stellen kommentierend deutlich -- wohl ein »deutscher Patriot«, aber kein Chauvinist und kein gewöhnlicher Monarchist. Der deutsche Kaiser, von dem er in »Sickingen« schwärmte, sollte, so drückt es Na'aman aus, »der Diktator des einen großen Reichs als Sachwalter der Demokratie« sein.
In dieser demokratischen Kaiser-Figur hatte Lassalle jenen »Zwingherrn zur Freiheit« vorgeformt, der -- wie er später schrieb -- in Deutschland eine »Diktatur der Einsicht« errichten sollte, Er hatte damit ein Modell jener Herrschaft der Intellektuellen entworfen, wie sie im Leninschen Kommunismus, in der Gedankenwelt Herbert Marcuses und vieler Jungsozialisten weiterlebt. Schon Johann Gottlieb Fichte hatte diese Diktatur propagiert: »Daß er (der Mensch) nun bevormundet wird in Absicht seines Rechtes, ist gleichfalls durch das Recht geboten. Auch muß er dies so einsehen. Diese Einsicht gehört zu seiner Freiheit, zu seiner Würde, zu seiner Mündigkeit.«
Welche Grenzen dieses Reich haben sollte, beschreibt Na'aman mit der lapidaren Feststellung: »Das Großdeutschland der (damaligen deutschen) Kommunisten war umfassender, als je ein Großdeutschland erfaßt wurde.« Es sollte sich über Osteuropa (außer Rußland) und den Balkan erstrecken. Las-
*Shlomo Na'aman: »Lassalle«. Verlag für Literatur und Zeitgeschehen, Hannover; 890 Seiten; 118 Mark.
salle hoffte sogar, noch den Tag zu erleben, an dem »deutsche Soldaten- oder Arbeiterregimenter am Bosporus stehen« -- eine Erwartung, von der Professor Na'aman vermutet, sie würde, wenn Friedrich Engels von ihr erfahren hätte, diesen »gar nicht aufgeregt« haben. Es sei auch keineswegs ein Zufall gewesen, daß Engels in demselben Brief, in dem er Marx über seine »gemütliche« Aufregung bei der Lektüre von Lassalles »deutschnationalem« Sickingen-Drama berichtete, auch seiner eigenen großdeutschen Ansicht Ausdruck verlieh: »Vom preußischen Polen dürfen wir keinen Zoll aufgeben.« Gemeint waren Posen und Westpreußen.
»Wie solch ein Großdeutschland mit der Völkerfreiheit zu vereinen war, darüber haben«, meint Na'aman, »Lassalle und auch Engels ihre Gedanken gehabt, die uns vielleicht naiv vorkommen. aber ernst gemeint waren.« Zwar hätten sie vorgehabt, den Osten und Südosten Europas »unter deutscher Hegemonie zu erschließen«, doch habe es sich bei diesen Plänen »nicht um einen bewußten imperialistischen Nationalismus« gehandelt. Allerdings sei klar, daß ein solcher »im Handumdrehen« daraus hätte entstehen können.
Trotz vorsichtiger Differenzierung bleibt Na'amans Bericht über Lassalles nationalistische Ideen undeutlich -- möglicherweise, weil sie selber unausgereift waren, vielleicht auch« weil ihr Autor ein Mensch von geradezu monströser Widersprüchlichkeit war. Der Reiz des Lassalle-Studiums liege, schreibt denn auch der israelische Professor in der Vorrede seines nahezu 900 Seiten umfassenden Werks, vornehmlich »in der Eröffnung neuer und selbst unerwarteter Perspektiven«. Tatsächlich ist Lassalles Leben durch ein Übermaß an »unerwarteten Perspektiven« gekennzeichnet.
1825 in Breslau als Sohn eines jüdischen Seidenhändlers geboren, stieg er, obwohl ein Kapitalist, zum Arbeiterführer auf und starb -- nach einem Duell -- im Verlauf einer Affäre, die einem aristokratischen Kolportage-Roman entnommen sein könnte. Arbeiterführer und Dandy, Gelehrter und Demagoge, Kommunist und passionierter Spekulant, ebenso gelehrt wie mutig, ebenso eitel wie intelligent, gab Lassalle nicht nur seinen Biographen Rätsel auf, sondern schon seinen Mitmenschen. Seine Genossen haßten ihn, seine Gegner bewunderten ihn.
Otto von Bismarck nannte den Sozialistenführer einen »der geistreichsten und liebenswürdigsten Menschen, mit denen ich je verkehrt habe«, und wünschte sich ihn als Gutsnachbar.
Marx hingegen verhöhnte ihn als »jüdischen Nigger« und karikierte seine Eitelkeit: »Er ist nun ausgemacht nicht nur der größte Gelehrte, tiefste Denker, genialste Forscher usw., sondern außerdem Don Juan und revolutionärer Kardinal Richelieu. Dabei das fortwährende Geschwätz mit der falsch überschnappenden Stimme, die unästhetisch demonstrativen Bewegungen, der belehrende Ton!«
Später freilich ließ Marx dem Konkurrenten mehr Gerechtigkeit widerfahren und rühmt dessen »unsterbliches Verdienst« um die deutsche Arbeiterbewegung.
Ein »Virtuose des Intellekts« (Na'aman) war Lassalle schon als Jüngling. Mit zwanzig organisierte er die Breslauer Gasbeleuchtunggesellschaft, schrieb er den ersten Entwurf eines zweibändigen philosophischen Werkes über Heraklit und erregte er durch sein Wissen die Aufmerksamkeit Alexander von Humboldts. Mit ein- undzwanzig etablierte er sich als Generalbevollmächtigter einer Aristokratin: der damals um ihre Scheidung kämpfenden Gräfin Sophie Hatzfeldt.
Acht Jahre lang watete er, der Twen, als Sachwalter der nahezu 20 Jahre älteren Gräfin, durch einen Sumpf von Verleumdungen und Intrigen. Er bestach, agitierte, prozessierte und inszenierte eine veritable Bauernrebellion gegen den Grafen Hatzfeldt. Er ließ dessen Liebesaffären von Domestiken belauschen, und als zwei seiner Freunde der Geliebten Hatzfeldts, der Baronin Meyendorf, eine Kassette stahlen (in der Erwartung, belastende Dokumente zu finden), geriet der 22jährige sogar in den Verdacht der geistigen Urheberschaft des Verbrechens. Mit Mühe erreichte Lassalle seinen Freispruch.
Die Öffentlichkeit blieb dennoch mißtrauisch. Heine, der den jungen Lassalle geradezu angehimmelt hatte, traute ihm nach der Kassetten-Affäre Mord und Diebstahl zu. Allen Ernstes glaubte er, Lassalle habe den Grafen Hatzfeldt durch eine vergiftete Zigarre umbringen wollen.
Lassalle war -- 1854 -- 29 Jahre alt, als der Graf sich zu einem Vergleich herbeiließ. Die Gräfin Sophie, Lassalles mütterliche Freundin, war von da an eine reiche Frau, er selbst der Besitzer einer Leibrente, die ihn für alle Zeiten geldlicher Sorgen enthob.
Mitten im Handgemenge der Hatzfeldt-Affäre entwickelte Lassalle sich zu einem hervorragenden Hegel-Kenner, machte er sich als Publizist und Mitarbeiter Marxens in der »Neuen Rheinischen Zeitung« einen Namen, gestaltete er das Düsseldorfer Haus der Gräfin zu einem Hauptquartier der kommunistisch-demokratischen Bewegung. Von dort aus versuchte der 23jährige im Herbst 1848 zwischen zwei Inhaftierungen, den bewaffneten Widerstand der Düsseldorfer Bürgerwehr gegen königliche Gewalt zu organisieren. In jenem Haus begann er 1851, ideologische Schulungskurse für Arbeiter abzuhalten. Dort entfaltete er
* Rechts: Graf Paul Hatzfeldt, Sohn der Gräfin Hatzfeldt.
seine Lebemannsmanieren, empfing er den Modeschneider und jene Schnüffler, derer er sich in der Hatzfeldt-Sache bediente; in demselben Haus lebte er mit seiner damaligen Geliebten Agnes Denis-Street zusammen.
Drei Jahre nach dem Vergleich mit dem Grafen Hatzfeldt siedelten Lassalle und die Gräfin nach Berlin über. Sein Salon wurde zum Treffpunkt der linken Schickeria. Man rauche dort Haschisch, ging das Gerücht, und trinke Sekt. Jenny Marx, geborene Baronesse von Westphalen, schauderte bei Lassalles Vorschlag, eine ihrer Töchter solle Gesellschaftsdame der Gräfin Hatzfeldt werden.
1859 -- In Norditalien kämpften damals Sardinien und Frankreich gegen Osterreich -- propagierte Lassalle, wie Bismarck, den preußischen Krieg gegen Wien. »Das Banner der Revolution« sei nun »offen entfaltet«, triumphierte Lassalle in einem Brief an Marx. Der Krieg, so hoffte er, werde in einen Volkskrieg übergehen, Österreich vernichtet werden, dessen deutsche Provinzen dem Reich einverleibt, für Tschechen und Polen aber Sonderlösungen gefunden werden. Verweigere sich jedoch Preußen diesem Plan -- so zeige sich eben darin die Unfähigkeit der preußischen Monarchie, das nationale Problem der Deutschen, die Einheit, zu lösen. Das werde dann, meinte er, der Anstoß zu einer revolutionären Entwicklung· in Deutschland sein.
Wie Marx und Engels in England, hoffte auch Lassalle am Ende der fünfziger Jahre auf einen »neuen Völkerfrühling« der Revolution. In einem zweibändigen Werk, dessen erster Band 1861 erschien ("Das System der erworbenen Rechte"), trat Lassalle für eine Revolution ein,
welche die rechtlichen Grundlagen einer solidarischen Produktion schaffen und die Rechtswidrigkeit des Lohnsystems schlechthin erklären sollte. Für Lassalle bedeutete Demokratie letztlich nichts anderes als Abbau aller Besitzprivilegien. 1862 erklärte er Im »Arbeiterprogramm« folgerichtig, daß nur die Besitzlosen, die Arbeiter, wahre Demokraten seien.
In diese Jahre fiel auch die Beschäftigung Lassalles mit Johann Gottlieb Fichte. In Reden und Schriften zog er damals den Trennungsstrich zwischen der Arbeiterbewegung und dem Liberalismus -- der »Krankheit des individuellen Meinens und Nörgelns«, wie er später sagte. Revolution bedeutete für ihn Übernahme des Staates und Einrichtung einer »Diktatur der Einsicht« und einer »selbstgemachten Aristokratie«,
Lassalle steuerte auf eine totalitäre Demokratie zu. Anfang 1863 forderte ihn ein Leipziger Initiativ-Ausschuß auf, das Programm einer sozialistischen Bewegung zu entwickeln. In mehreren Reden und Schriften -- vor allem in einem »Offenen Antwortschreiben« an die Leipziger, das vom 1. März 1863 datiert ist -- entwickelte er den Plan staatlich finanzierter Produktiv-Assoziationen. Die Unkosten bezifferte er auf 100 Millionen Taler.
Auf der Basis dieses Programms entstand am 23. Mai 1863 die erste zentralistische deutsche Arbeiterpartei: der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV), der sich 1815 mit den Sozialdemokraten zur »Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands« (seit 1890: SPD) zusammenschloß. Als Lassalle zum ADAV-Präsidenten gewählt worden war, übersandte er die Vereinssatzung an Bismarck -- mit der Bemerkung, der Ministerpräsident werde ihn vielleicht um diese »Verfassung meines Reiches« beneiden. Tatsächlich machte die Satzung den ADAV-Präsidenten zum unumschränkten Herrscher. Nicht weniger autoritär war die Geschäftsordnung der Produktiv-Assoziationen, wie sie Lassalle entworfen hatte.
In mehreren Gesprächen versuchte Lassalle, Bismarck zur Durchführung des 100-Millionen-Taler-Projekts zu überreden. Ein »soziales Volkskönigtum« sollte, gestützt auf ein allgemeines, gleiches und geheimes Wahlrecht, das Projekt gegen den gemeinsamen Feind, das liberale Besitzbürgertum, durchsetzen. Bismarck spottete später, Lassalle habe geplant, die Hohenzollernsche Dynastie durch eine Lassallesche abzulösen.
Wie scherzhaft diese Bemerkung auch gemeint war, sie traf gleichwohl
* Zum Vereinigungsparteitag der marxistischen und lassalleanischen Sozialisten in Gotha 1875.
etwas von dem demokratischen Cäsarismus Lassalles, wie ihn Professor Na'aman anhand von Augenzeugenberichten rekonstruierte. Einer der Berichter verglich die Lassallesche Rhetorik mit der Entladung einer elektrischen Batterie: »Es wurde einem ernstlich angst und bange« -- nicht zuletzt auch angesichts der Wirkung auf die Massen.
»Lassalle«, so faßt Na'aman die Berichte zusammen, »erregt die Versammlung, aber er selbst spricht in größter Erregung, spricht sich in größte Erregung hinein. Dieses emotionelle und triebhafte Moment wird von Versammlung zu Versammlung zunehmen, bis wir uns ins dritte und vierte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts versetzt meinen.«
Aber auch in anderer Hinsicht entwickelte Lassalle »einen neuen Versammlungsstil, dem die Zukunft gehörte« (Na'aman). In Lassalle-Versammlungen waren die Gegner Gäste, die sich ruhig zu verhalten hatten, wenn sie nicht von geübten Saalwächtern, zum Beispiel den »Knüppelgarden« des ADAV-Funktionärs Tölcke, hinausgeworfen werden wollten. In den Versammlungen anderer Parteien versuchte man, entweder das Podium zu erobern, oder -- wenn das nicht gelang -- bis zum Eingreifen der Polizei zu stören.
Um die »großen, gewaltigen Übergangsarbeiten der Gesellschaft zu bewerkstelligen«, müsse, meinte Lassalle, die Arbeiterschaft »unser aller Willen in einen einzigen zusammenschmieden und diesen Hammer in die Hände des Mannes legen, zu dessen Intelligenz, Charakter und gutem Willen wir das nötige Zutrauen haben, damit er aufschlagen könne mit diesem Hammer«. Der Mann mit dem Hammer hieß nach Lassalles Auffassung Lassalle.
Kurz vor seinem Tode genoß Lassal-Je eine Bewunderung, die zuweilen an religiöse Hysterie grenzte. Er selber schilderte die Jubelstimmung, die ihn auf Massenversammlungen umbrauste, mit dem Satz: »Ich hatte beständig den Eindruck, so müsse es bei der Stiftung neuer Religionen ausgesehen haben.« Gleichwohl zählte der ADAV zu dieser Zeit nicht mehr als 4600 Mitglieder. Lassalle hatte das Modell einer formlosen Massendemokratie unter der Führung eines Diktators geschaffen.
Das Charakterbild, das Na'aman von Lassalle entwirft, ist das eines Neurotikers: »Mangel an sozialer Bindung, an sozialer Bindungsfähigkeit ... an künstlerischem Empfinden, an Sympathie, an In-sich-Gehen und Rückschau, an Sünden- und Schuldbewußtsein, an Fähigkeit zu Schuldbewußtsein«. Sein Verhältnis zur Wirklichkeit war infantil, das zu Frauen unreif.
Lassalle starb am 31. August 1864 -- nach einem Duell mit dem Rumänen Janko von Racowitza wegen Helene von Dönniges, der Tochter eines bayerischen Diplomaten. Doch Na'aman vermutet, daß es nicht Lassalles Liebe war, welche die Katastrophe herbeiführte, sondern seine Eitelkeit. Helene war unter dem Druck ihrer Familie von ihrem Verlöbnis mit Lassalle zurückgetreten. Anfänglich raste der 39jährige Arbeiterführer: »Arbeiterverein, Politik, Wissenschaft, Gefängnis, alles ist mir absolut verblaßt in meinem Innern bei dem Gedanken, Helenen wieder zu erobern.«
Am Ende aber war er nur noch beleidigt: »Mit mir sollte man ungestraft ein solches Spiel getrieben haben?« Er verlangte »Rache«.
Obwohl Professor Na'aman dem Helden seines Werks »Größe, Glanz und Tapferkeit« zubilligt, meint er, der Wert einer Neubeschäftigung mit Lassalle liege vor allem in »der Bereicherung und Verkettung unserer Gedankenverbindungen«. Tatsächlich besteht der Reiz von Na'amans Lassalle-Biographie darin, daß sie die ideologischen Elemente der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts in neuen, überraschenden »Verkettungen« zeigt.