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SPIEGEL-GESPRÄCH »Mörder dürfen ermordet werden«

Der amerikanische Politikwissenschaftler Daniel Jonah Goldhagen über Deutsche, Deutschland und den Holocaust, über die Sprache der Genozide und die moralische Verpflichtung zur Bekämpfung von Völkermorden
aus DER SPIEGEL 41/2009

SPIEGEL: Mr. Goldhagen, sind alle Menschen, alle Nationen potentielle Völkermörder?

Goldhagen: Nicht jeder Völkermord, der geschehen könnte, geschieht tatsächlich, und das hat Gründe. In den meisten Ländern gibt es Vorurteile, Hass auf andere Menschen, die als auf gefährliche Weise fremd gelten. Das ist weit verbreitet, es könnte überall mobilisiert werden.

SPIEGEL: Was muss hinzukommen?

Goldhagen: Der andere kritische Faktor ist die politische Führung. Sie entscheidet, ob ein Völkermord verübt wird.

SPIEGEL: Sind manche Staaten weniger immun als andere?

Goldhagen: Sie meinen Staatsformen? Ja. Jene, die stärker religiös und ideologisch begründet sind, scheinen mir eher gefährdet zu sein. In Italien, den USA, Japan, Deutschland und anderen demokratischen Staaten ist es extrem unwahrscheinlich, dass es dort in näherer Zukunft zu Massenmorden kommt.

SPIEGEL: Auch in Demokratien rühren sich immer wieder Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Hass auf Minderheiten.

Goldhagen: Ja, aber in stabilen Demokratien besteht eine Art Bannfluch, Massenmord ist keine politische Option mehr, er ist vom Tisch. In Diktaturen aber, die die Rechte ihrer Bürger nicht achten und sich von unten bedroht fühlen müssen, ist die Neigung zur Eliminierung ganzer Gruppen größer.

SPIEGEL: Der Titel Ihres neuen Buchs lautet »Schlimmer als Krieg"*. Was kann es Schlimmeres als Krieg geben?

Goldhagen: Das hängt von der moralischen Perspektive ab und von der analytischen Frage, wie wir das Schlimme messen wollen. Nehmen wir den Hauptmaßstab, die Anzahl der Opfer: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind mehr als 100 Millionen Menschen durch Eliminierungsmaßnahmen gestorben, mehr als durch Kriege. Dies sollte zu den zentralen politischen Fakten unserer Zeit zählen, die jedem bekannt sind - doch fast niemand weiß das.

SPIEGEL: Sie sehen die Menschheit nicht in einer zunehmend aufgeklärten Welt ankommen, sondern in einer Welt der Massaker?

Goldhagen: Massenmorde geschehen heute an vielen Orten, sie sind ein systemisches Problem der modernen Welt.

SPIEGEL: Warum haben Sie sich dieses Problems angenommen? Bisher haben Sie meist die Bedingungen des Holocaust beschrieben. Diesmal spannen Sie den Bogen weiter zu Völkermorden insgesamt. Wollten Sie am Ende doch nur wieder den deutschen Völkermord erklären?

Goldhagen: Nein, mein Ziel war eine Untersuchung des Phänomens Völkermord mit dem Ziel einer Erklärung, also des Verständnisses von Ursachen und Ähnlichkeiten. Es war die logische Fortsetzung der Beschäftigung mit dem Holocaust.

SPIEGEL: Warum soll das Wort »Eliminationismus«, das Sie verwenden, besser geeignet sein als der Begriff »Genozid«?

Goldhagen: Weil es den Tätern genau darum geht: eine Bevölkerung, die als unerwünscht oder als gefährlich gilt, zu eliminieren. Das ist der Kern, das ist das Ziel, dafür nutzen die Täter mehrere politische Techniken: Transformation, also den Zwang zur Anpassung; Unterdrückung; Vertreibung; Reproduktionsverhinderung, zum Beispiel durch Sterilisierung oder Massenvergewaltigungen; und die Vernichtung, also den Genozid.

SPIEGEL: Sie beginnen mit den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki - warum gelten die nicht als Massenmorde?

Goldhagen: Weil die Sieger die Geschichte schreiben. Natürlich waren das Massenmorde: Die Opfer waren Zivilisten. Die Atombomben waren nicht mehr nötig, um den Krieg zu beenden, weil die Japaner zur Kapitulation bereit waren - und Präsident Harry Truman wusste das.

SPIEGEL: Gilt im Westen die Annahme: Massenmorde begehen nicht wir, so etwas machen nur die anderen?

Goldhagen: Ja, die Menschen in den USA und in den meisten Ländern nehmen nicht gern und mit unverstelltem Blick zur Kenntnis, was ihre Landsleute getan haben. Leugnungsbewegungen gibt es in jedem Land der Welt: »Oh, wir haben das nicht getan.« Oder: »Wir mussten das tun. Es muss anders genannt werden!«

SPIEGEL: Beginnen Völkermorde immer mit Worten?

Goldhagen: Sprache ist das Fundament des Massenmords. Was wir über die Welt wissen, über andere Volksgruppen, über Fremde, wird transportiert über Rede, Worte, Sprache eben. Massenmorde werden von Menschen durchgeführt, die andere Menschen für Untermenschen oder für eine große Gefahr halten. Sie nutzen Sprache, um die Opfer zu entmenschlichen oder zu dämonisieren.

SPIEGEL: Sprache mobilisiert die Täter?

Goldhagen: Ja. Sprache ist der Überbringer von Hass. Die meisten deutschen Bürger kannten keine polnischen Juden, die Türken keine Armenier, viele Hutus wussten nichts über Tutsi - Klischees, Parolen, Tiraden stacheln die Täter an. Wenn wir uns die Geschichte der Genozide ansehen, wäre es absurd zu sagen: Ach, es sind doch nur Worte. Nein, wir müssen wachsam sein. Eliminatorische Reden sind nicht bloß unangenehm, sondern gefährlich, weil Sprache die ursprüngliche Quelle des Massenmords ist.

SPIEGEL: Müssen Sie sich heute nicht korrigieren? Vor 13 Jahren schrieben Sie, dass es einen mit dem Holocaust vergleichbaren Völkermord nie gegeben habe. Nun vergleichen Sie die Genozide der Geschichte und ordnen den Holocaust ein.

Goldhagen: Ja, um Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Es gab viele Massenmorde in der Geschichte der Menschheit, und auch zu unserer Zeit.

SPIEGEL: Aber Ihre These bleibt wahr?

Goldhagen: Absolut. Der Holocaust hatte unverkennbare Eigenschaften, die ihn nicht automatisch schlimmer oder moralisch verwerflicher machen, aber einzigartig: Es war das einzige Mal, dass ein Staat und eine große Zahl von Unterstützern antraten, um die Mitglieder einer Gruppe nicht nur im eigenen Land, sondern europaweit zu vernichten und - wenn sie den Krieg gewonnen hätten - letztlich weltweit, ohne jede Ausnahme. Sie wollten jeden Mann, jede Frau, jedes Kind ausrotten. Und dann war da noch ein Unterschied, an den viele Menschen nicht gern denken: Der Holocaust wurde durch eine internationale Koalition des Genozids verübt, Menschen und Regierungen mehrerer Länder wirkten bei dem genozidalen Unternehmen mit.

SPIEGEL: Als Sie 1996 »Hitlers willige Vollstrecker« veröffentlichten, wurden Sie weltberühmt, aber auch scharf angegriffen.

Goldhagen: Die Welt sieht heute so anders aus, Deutschland auch. Ich glaube, die eigene Geschichte wird in Deutschland heute als weniger bedrohlich verstanden, sie ist wirklich Geschichte geworden. Damals war es für viele Deutsche schockierend zu erfahren, wie viele gewöhnliche Bürger freiwillig beim Massenmord mitgemacht hatten; das ist heute allgemein akzeptiert. Der SPIEGEL selbst hatte vor kurzem eine sachliche Titelgeschichte zu diesem Thema*.

SPIEGEL: Sie nannten und nennen stets »die Deutschen« als Täter. Ist das wirklich kein Fehler?

Goldhagen: Warum? Das war ja schon damals einer der Hauptkritikpunkte, wollen

Sie heute die gleiche Diskussion noch einmal führen?

SPIEGEL: Nein, aber in Ihrem neuen Buch fordern Sie eine genaue Sprache bei der Bezeichnung von Tätern und Opfern von Völkermorden, um nicht die Täter zu schützen und die Opfer zu anonymisieren. Warum nicht »die Nazis« oder »die deutschen Mörder«, warum »die Deutschen«?

Goldhagen: Weil die Mörder Deutsche waren. Wir sagen ja auch »die Amerikaner in Vietnam«, wir sagen »die Franzosen in Algerien«, warum dürfen wir nicht »die Deutschen« sagen?

SPIEGEL: Weil es nicht stimmt. »Die Amerikaner in Vietnam«, das waren in überwältigender Mehrheit jene Soldaten, die im Ausland im Krieg waren, »die Franzosen in Algerien« ebenfalls. Der Artikel »die« macht aus den »Deutschen« ein ganzes Volk der Mörder.

Goldhagen: Nein. Ich habe es oft betont, auch in meinen Büchern, dass viele, aber nicht alle Deutschen beteiligt waren. Sind Sie nicht etwas empfindlich, warum darf ich ausgerechnet in diesem Fall nicht generalisieren? Wir alle verallgemeinern ständig. Hier haben Sie eine Verallgemeinerung: In den dreißiger Jahren unterstützten viele Deutsche Hitler, und, jawohl, viele unterstützten die Eliminierung der Juden. Hier haben Sie noch eine: Heute unterstützen die meisten Deutschen demokratische Institutionen. Wichtig ist das empirische Fundament, auf dem Verallgemeinerungen stehen.

SPIEGEL: Es ist ein Unterschied, ob Sie von »vielen« oder »den« Deutschen sprechen.

Goldhagen: Nein, ich sage »die Nazis«, wenn ich von der Parteiführung oder den Institutionen spreche, und ich sage »die Deutschen«, wenn es um die generellen eliminatorischen Angriffe auf die Juden geht. Es ist auch ein linguistisches Problem: Im Englischen macht der unbestimmte Plural klar, dass ich über viele Menschen rede, die eben deutsch waren, dass ich aber nicht die Gesamtheit meine.

SPIEGEL: Warum gehen Sie mit Wissenschaftlern, die eine andere Meinung als Sie vertreten, so schroff und aggressiv um?

Goldhagen: Was meinen Sie?

SPIEGEL: Sie greifen Historiker und Publizisten als »mit Scheuklappen geschlagene und irregeleitete Holocaust-Forscher« an, nennen sie »pseudo-tiefsinnig«, weil sie »kompletten Unsinn« schrieben. Sie meinen damit angesehene Wissenschaftler wie Hannah Arendt und Christopher Browning. Warum so gnadenlos?

Goldhagen: Jeder, der diese Geschichte kennt, weiß, dass ich es war, der auf einer persönlichen Ebene und auf heftige Weise angegriffen wurde.

SPIEGEL: Mit Ihren Attacken erreichen Sie ein Millionenpublikum, aber schaden Sie sich dadurch nicht selbst?

Goldhagen: Der Sturm, der mit »Hitlers willige Vollstrecker« damals losbrach, hat mich überwältigt, darauf war ich nicht vorbereitet. Ich genieße Polemik nicht, ich liebe den akademischen Dialog.

SPIEGEL: Lautstärke kann bisweilen unseriös sein.

Goldhagen: Sobald Sie glauben, Sie dürften nicht mehr A sagen, weil irgendwer dann beleidigt sein wird, also sagen Sie lieber B, dann sind Sie Politiker, aber nicht mehr Wissenschaftler. Ich habe von meinem Vater ...

SPIEGEL: ... einem Politikwissenschaftler, der den Holocaust überlebt hat ...

Goldhagen: ... viel gelernt. Wesentlich war die Orientierung zur genauen Analyse und zur Neugierde für die Welt da draußen - wir müssen die Wahrheit über diese Welt sagen, immer. Auch wenn es weh tut, anderen oder uns. Mein Vater schießt immer geradeaus, das versuche ich auch.

SPIEGEL: Der wesentliche inhaltliche Unterschied zwischen Ihnen und den meisten anderen Historikern oder Politologen scheint zu sein, dass jene sagen, der Krieg habe den Holocaust ermöglicht, während Sie sagen, der deutsche Antisemitismus sei die Grundlage gewesen und von Hitler nur mobilisiert und organisiert worden.

Goldhagen: Oh, im denkbar prosaischsten Sinne war der Krieg selbstverständlich nötig, weil die Deutschen ohne den Krieg an die vielen Juden nicht herangekommen wären und nicht die Möglichkeit zu ihrer Ermordung gehabt hätten.

SPIEGEL: Sie hätten mit dem systematischen Morden im eigenen Land beginnen können.

Goldhagen: Es gab praktische Gründe dafür, dass sie das nicht taten. Hitlers Ziele waren vielfältig und verflochten, er wollte Deutschland vor einer Vielzahl von angeblichen Feinden schützen, er wollte Deutschland geografisch erweitern, dafür musste er jene auslöschen, die das deutsche Volk aus seiner Sicht bedrohten. Das schloss die Vernichtung der Juden ein.

SPIEGEL: Aber es gab noch keine konkreten Pläne für den Holocaust, als Hitler den Zweiten Weltkrieg begann.

Goldhagen: Nun müssen wir wieder über Eliminationismus reden statt über Genozid. Die Eliminierung der Juden war von Anfang an Hitlers Ziel. Es begann schon 1933 mit dem Ausschluss von Juden aus der Gesellschaft. Dann wurden so viele Juden wie möglich vertrieben, und dann, mit der Eroberung anderer Länder, folgten die anderen Maßnahmen, zunächst vorläufig, bis die sogenannte Endlösung erdacht war. Zu sagen, dass der Massenmord eine Folge des Krieges war, ist einfach nicht korrekt. Korrekt ist, dass es schon sehr früh die eliminatorische Orientierung gab und dass lediglich zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene Techniken angewandt wurden, ehe 1941, zeitgleich mit dem Angriff auf Russland, der Holocaust begann.

SPIEGEL: Ihr Kollege Christopher Browning erklärt viele der Nazi-Morde mit Gruppendruck. Auch diese These scheint Sie wütend zu machen.

Goldhagen: Nein, aber sie stimmt nicht. Die Beweislage ist eindeutig: Die Mörder taten sehr oft mehr, als ihnen befohlen wurde, und oft wurde ihnen auch gar nichts befohlen, weil nicht einmal Aufseher da waren. Wenn vor Ihnen ein Kind steht und Sie schlachten es ab, dann frage ich: Ist es möglich, dass Sie das tun, ohne dass Sie sich die Frage stellen, ob Ihre Tat richtig oder falsch ist? Meine erste Antwort: Nein, das ist nicht möglich, weil Sie ja wissen, dass es sich um ein Kind handelt. Meine zweite Antwort: Die Täter glaubten also, dass sie im Recht waren. Ideologie ist die Erklärung und nicht Gruppendruck.

SPIEGEL: Sie schreiben, dass eine halbe Million Deutsche am Massenmord beteiligt waren und alle oder beinahe alle Deutschen hätten davon gewusst. Beides stimmt nicht.

Goldhagen: Bitte? Wenn wir über Lager sprechen, über die staatliche Politik, die Vertreibung und Unterdrückung, die Zwangsarbeit, die sogenannte Euthanasie, die Morde an Russen, Polen, Sinti und Roma, all die Dinge, die heute alle Deutschen kriminell nennen würden - dann müssen wir doch auch sehen, dass das überall in Deutschland geschah, unübersehbar für die Bürger.

SPIEGEL: In Deutschland waren die Verbrechen unübersehbar, ja. Aber nur wenige wussten doch, was in den deutschen Vernichtungslagern in Polen geschah, in Auschwitz oder Treblinka.

Goldhagen: Wie wir jetzt wissen, haben viele von den Vernichtungslagern gewusst, obwohl das Regime deren Existenz nicht publizierte.

SPIEGEL: Aus Scham?

Goldhagen: Nein, die Nazis schämten sich nicht. Die Zeitungen durften nicht über Auschwitz schreiben, weil die Regierung wusste, dass solche Berichte im Ausland als Propaganda gegen Deutschland genutzt worden wären. Ich würde sagen, dass zwar das ausdrückliche Vernichtungsprogramm ein Geheimnis war, dass aber das Wissen um den Massenmord sehr weit verbreitet war. Allein an der russischen Front standen Millionen deutscher Soldaten, und die Morde geschahen dort vor den Augen der Armee oder sogar mit ihrer logistischen Hilfe.

SPIEGEL: Die meisten ehemaligen Soldaten bestreiten das.

Goldhagen: Ja klar. Das ist bei jedem Völkermord so. Sie alle leugnen. Wenn die Autoritäten hinterher fragen: Hast du jemanden getötet, dann hat niemand jemals irgendwen erschossen.

SPIEGEL: Würden Sie alle Kriegsteilnehmer, die eine Zeugenschaft bestreiten, zu Lügnern erklären?

Goldhagen: Ich behaupte nicht, dass alle deutschen Soldaten Mörder waren, aber wir sprechen von einem der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Die Leute wussten, was geschah. Natürlich ist es hinterher nicht angenehm, darüber die Wahrheit zu sagen.

SPIEGEL: Haben die Massenmorde der Moderne eine größere Dimension als frühere, weil die technischen Möglichkeiten andere sind, von der Überwachung bis zum Mordwerkzeug?

Goldhagen: Die meisten Massenmorde der Neuzeit - Ruanda zum Beispiel - wurden mit den technischen Mitteln vorheriger Jahrhunderte verübt. Endscheidend ist der Wille. Eliminierung ist ein Teil des Repertoires der Machtpolitik geworden.

SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch warnen Sie vor dem politischen Islam. Warum?

Goldhagen: Ich gebrauche den Begriff »Politischer Islam« für jene politischen Bewegungen in der islamischen Welt, die danach streben, ganze Gesellschaften zu kontrollieren. Diese Bewegungen setzen Gewalt ein, sie unterdrücken und vertreiben Menschen, und oft genug verüben sie Massenmorde.

SPIEGEL: Was sollte die Staatengemeinschaft tun?

Goldhagen: Wir haben eine Welt, in der der gesamte reiche Westen offiziell gegen Völkermord ist und staunend auf vergleichsweise schwache und arme Länder mit wenigen Ressourcen blickt, in denen sich Menschen gegenseitig abschlachten. Glauben Sie nicht, dass dieser Zustand zu ändern wäre? Barack Obama, von dem alle so viel erwarteten, unternimmt bislang nichts. Er sollte eine Flugverbotszone über Darfur erwirken, sudanesische Militäranlagen bombardieren, aber er denkt im Rahmen des nationalen Interesses, und angeblich liegt es nicht in unserem Interesse, effektiv gegen Massenmord vorzugehen. Niemand tut das: Warum berichten die Medien wochenlang über ein Sexualverbrechen in Ka-

lifornien und so gut wie gar nicht, wenn irgendwo Hunderttausende sterben?

SPIEGEL: Wegen der Nähe zum einen Fall und der Entfernung zum anderen.

Goldhagen: Aber es ist ihre Pflicht! Wie viele afrikanische Leben ist ein europäisches oder amerikanisches Leben wert? Die Globalisierung hat dazu geführt, dass wir es immerhin wissen, wenn ein Massenmord geschieht. Was wir nun brauchen, sind Sympathie und Empathie. Geben Sie den Opfern ein Gesicht, und nennen Sie die Massenmörder »Massenmörder«. Das Problem ist, dass Massenmörder erfolgreich sind und nichts zu befürchten haben. Sie haben gelernt, dass sie es wieder und wieder tun können und davonkommen.

SPIEGEL: Die internationalen Tribunale ...

Goldhagen: ... sind Instrumente, aber sie funktionieren langsam und entfalten wenig Wirkung, sie sind ein kostengünstiges Mittel, das uns so aussehen lässt, als täten wir etwas. Wir müssen dafür sorgen, dass politische Führer Massenmord nicht mehr für eine gute Idee halten, sondern ihre Macht und ihr Leben dadurch gefährdet sehen. Wir müssen die politischen Kosten von Völkermord erhöhen und den Nutzen minimieren.

SPIEGEL: Das klingt ein wenig naiv.

Goldhagen: Bitte, was? Es ist das, was getan werden kann. Jedes Land, das eliminatorische Politik betreibt, muss sofort von allen internationalen Institutionen, von Handel und Diplomatie ausgeschlossen werden, der Staat und seine politische Führung, alle Kabinettsmitglieder, Offiziere, alle Täter müssen zu Vogelfreien erklärt werden. Sie sind Freiwild, sie dürfen ermordet werden.

SPIEGEL: Sie rufen zum Mord auf?

Goldhagen: Wir reden von Verbrechen gegen die Menschheit, und in Wahrheit führen Völkermörder ja sogar Krieg gegen die Menschheit. Also sollten die Regeln des Krieges gelten, wir sollten all diejenigen ermutigen, die die Möglichkeit haben, jene zu ermorden, die Massenmorde begehen. Uno-Truppen brauchen zu lange, und in der Regel kommen sie nie. Jedes Land, das ein anderes daran hindern kann, Massenmorde zu begehen, muss das Recht haben, einzuschreiten.

SPIEGEL: Das Problem sind Souveränität und Rechtsstaatlichkeit. Wer soll die Macht erhalten, die Lage zu beurteilen?

Goldhagen: Das ist nicht das Problem, nein. Sie stellen es so dar, als gäbe es einen zu großen Drang einzugreifen, zu viele und vorschnelle Interventionen. Das Gegenteil ist richtig: Fehlender Wille und fehlendes Handeln sind das eigentliche Problem. Und zum eigentlichen Problem gehört auch die Tatsache, dass es laut Völkerrecht verboten ist, die Souveränität eines anderen Staates zu verletzen; das Völkerrecht erlaubt damit der staatlichen Führung die Ermordung der eigenen Bürger, solange die Vereinten Nationen dies nicht als Genozid bezeichnen, was niemals geschehen wird. Kurz: Das Völkerrecht ist - in Bezug auf Massenmord und Eliminierung - bankrott.

SPIEGEL: Die USA sind auch unter dem Deckmantel der Menschenrechte in den Irak einmarschiert ...

Goldhagen: ... und wir alle wissen, dass es um etwas anderes ging ...

SPIEGEL: ... sie haben das Regime gestürzt, Saddam Hussein wurde gehängt. Und wenn Sie heute bei den Vereinten Nationen und allen, die mit internationaler Politik zu tun haben, nachfragen, hören Sie, dass genau diese Intervention der Weltgemeinschaft geschadet hat. Das Vertrauen in Regeln, die für alle gelten, ist zerstört, der Wille, gemeinsam zu handeln, ebenfalls.

Goldhagen: Sie haben recht, aber wie lange sollen wir deshalb warten? Das Völkerrecht wird sich in naher Zukunft nicht ändern. Oft genug aber liegen die Fakten klar und unbestritten auf dem Tisch. Ich habe den ruandischen Justizminister Tharcisse Karugarama gefragt, ob man die Morde hätte vermeiden können, wenn auf die politischen Führer ein Kopfgeld ausgesetzt worden wäre und diese davon gewusst hätten. Er sagte: »Unbedingt, unbedingt, unbedingt, ganz unbedingt ... Wenn die Leute also wüssten, dass sie am Ende die Verlierer sein werden, würden sie sich auf das Geschäft nicht einlassen.«

SPIEGEL: Mr. Goldhagen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Daniel Jonah Goldhagen: »Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist«. Aus dem amerikanischen Englisch von Hainer Kober und Ingo Angres. Siedler Verlag, München; 688 Seiten; 29,95 Euro. * SPIEGEL 11/2008: »Die Täter. Warum so viele Deutsche zu Mördern wurden«. * Martin Doerry, Klaus Brinkbäumer in Boston.

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