Morgen wird alles besser
Das Tempodrom ist im Gerede, von links bis rechts. Die Beweggründe: Für Wundergläubige und Heilsbedürftige bewahrheitet es die tröstliche Geschichte vom Aschenputtel, dem ein unverhoffter Glücksfall seinen Lebenstraum erfüllt. Eine Frau, von Beruf Krankenschwester, erbt eine halbe Million Mark -- und begründet damit ein volkstümliches, zirkusähnliches Unternehmen.
Weniger Sentimentalen gilt das Tempodrom als Chance, der alternativen Unterhaltungskultur eine zentrale, unübersehbare, weithin ausstrahlende Spielstätte einzurichten. Der Standort am Potsdamer Platz, nur wenige Schritte von der Mauer entfernt, kommt solchen Ambitionen gerade recht. Und er hat Vorgeschichte: In den vergoldeten zwanziger Jahren stand hier das »Haus Vaterland«, ein renommierter Unterhaltungsschuppen, der zu den Weltstadtattraktionen Berlins zählte. Auch Döblins emphatische Parteinahme für das östliche Gegenstück, den Alexanderplatz, ändert nichts an der gängigen Auffassung, daß hier, am Potsdamer Platz, das Herz der City schlug.
Heute widmet man sich an dieser etwas abgelegenen Stelle zwischen Parkflächen und Betonkasernen dem aufreibenden Versuch, so das ausgesprochen dünne Programmheft, »Zirkus und Arena mit anderen Unterhaltungsformen zu verbinden«. Worüber und in welcher Form soll sich die andersartige Unterhaltung unter der Zirkuskuppel abspielen?
Das Konzept scheint klar: »Zum erstenmal gibt es einen Ort und einen Raum, in dem sich Herr Müller aus Rudow, Herr Rudi Carrell, Frau Caven, Frau Schulz, Frau Senatorin Reichel und der Transvestit Romy Haag als Persönlichkeiten gemeinsam einbringen können« -- gesetzt den Fall, sie wollten dergleichen und wüßten, wie man das bewerkstelligt: sich gemeinsam einbringen.
Wer gut ist oder nicht, ankommt oder auf Ungnade stößt, das kann im Tempodrom »das Publikum entscheiden: Daumen nach oben oder Daumen nach unten ...«, fordert das Programmheft.
Skurrilitäten und Selbstanimation, schier endlos und nicht sonderlich begriffsstark, gehören zur Sache. Man weiß sich auf der Suche und ist stolz darauf. Und man steht unter dem Zwang, sowohl erfolgreich wie anders- und neuartig zu sein: ziemlich viel für eine zusammengewürfelte Truppe von Außenseitern, für Irene Moessinger und ihre vier Kollegen, meist Randgruppler und nicht-professionelle Enthusiasten, die in diesem Unternehmen außer ihrer Existenz auch ihre Existenzberechtigung finden wollen.
Das Stammkapital, jene Erbschaft der Prinzipalin Moessinger, reicht nicht weit, wenn vom Zirkuszelt über den Toilettenwagen bis zum Fuhrpark, den Tieren und Käfigen, den Licht- und Lautsprecheranlagen alles erst angeschafft werden muß, wenn man Spitzenstars aufbieten möchte und weder Markt- noch Marketingerfahrung in S.169 die Waagschale werfen kann. Die Festkosten belaufen sich derzeit auf etwa 80 000 Mark im Monat, genau weiß das niemand. Eine kräftige Portion Trotz prägt das Unterfangen, nebst jugendlichem Charme und dem narzißtischen Selbstbewußtsein, Außerordentliches zu vollbringen.
Die dafür eingesetzten eigenwilligen »Persönlichkeiten« sind dem Gelingen eher abträglich. Die fünf Zelt-Entertainer (einer hat die Gruppe schon wieder verlassen) neigen allesamt zu Alleingängen. Vor lauter Einfällen kommt die Ausführung zuweilen zu kurz.
Jede ablaufende Vorstellung ist ein Kompromiß zwischen dem gemeinsamen Traumbild vom noch nie dagewesenen, völlig irren Gesamtkunstwerk, den persönlichen Vorlieben dieses und jenes Teammitglieds, den schwankenden Zuneigungen der Chefin und den zaghaften Versuchen von Gert Möbius (vormals Hoffmann's Comic Theater), so etwas wie eine künstlerische Gesamtleistung zu etablieren. Arbeits- wie Gruppenprozeß verblüffen unausgesetzt durch neue Konstellationen.
Bisher gab es drei beachtliche Gastspiele: Das Centre dramatique de la Courneuve gastierte für drei Tage mit seinem »Cirque imperial«, und das derzeit am meisten gerühmte Straßentheater der USA, die »San Francisco Mime Troupe«, zeigte zehn Tage lang sein »Hotel Universe«. Anschließend kam das »New York Street Theater Caravan« zu einem Gastspiel.
Vor zwei Wochen war Premiere für »Die 60er Jahre. Eine Revue von Adenauer bis Apo«, die erste Eigenproduktion der Truppe um Irene Moessinger. Eintritt 15 Mark im Vorverkauf, Geburtstagskinder kommen gratis rein.
Trotz reichlicher Vorschußlorbeeren war das Zelt, das immerhin etwa 2500 Besucher faßt, während der ersten Vorstellungen nicht ausverkauft. Und nach vier Stunden fragte sich auch der wohlwollende Zuschauer einigermaßen ratlos, warum man sich einen Titel aufgeladen hatte, dessen Anspruch mit den zur Verfügung stehenden Kräften nicht einzulösen war. Das Grips-Theater operiert da wesentlich geschickter mit seiner ebenfalls von den 60er Jahren ausgehenden »Ersten Inszenierung für Erwachsene. »Eine linke Geschichte.«
Zwar hat man einen der berühmten Posträuber in London als Blumenhändler ausfindig gemacht, als er dort seinerseits ausgeraubt wurde. Doch wechselnde Interviewer wissen nichts mit ihm anzufangen und das falsch eingestimmte Publikum erst recht nicht.
Ein modisch meditierender Rainer Langhans von der einstmaligen Kommune I, wo -- fast -- alles begann, wurde aus München eingeflogen, doch ein hilflos aufreizender Conferencier nimmt dem Publikum die Lust, ihn auszufragen. Ein leibhaftiger Experte für Parapsychologie und Psychotherapie, Bernd Heller von der Freien Universität Berlin, führt charmant schwadronierend Zauberkunststücke vor -nur erfährt niemand von seiner Doppelexistenz.
Die vorzügliche Rockjazzband aus Köln, mit dem magischen Zungenbrecher Nadlt Poydlt als Markenzeichen, einst neben Andre Heller Herzstück des Münchner Circus Roncalli (seinerseits soeben in Köln wiedereröffnet -ohne Heller), wird zur Begleitung abgestellt, weil der Altbarde Screaming Lord Sutch und die Berliner Skiffle Band als Solisten aufgeboten sind samt dem ukrainischen Teufelsgeiger Jakob.
Daneben noch drei artistische Spitzenleistungen: die Jonglierspielereien des routinierten Charmeurs Pepe D'Angoly's junior, die Hochseilakrobatik des jugendfrischen Roger Regor sowie die Elefantendressur Frankellos.
Das bietet Nervenkitzel und Unterhaltung genug, bloß: Das neuartige Konzept ist damit nicht zu belegen. Das müssen Hoffmanns bewährte Comicer und »Die 3 Tornados« besorgen, die Träger des Deutschen Kleinkunstpreises 1979, die nur selten in ihrer Heimatstadt Berlin auftreten.
Und die bekommen dann nur halb soviel Zeit wie Manuela, eine aus dem Stadtteil Wedding stammende Singpuppe ("Schuld war nur der Bossa Nova"), die in Las Vegas abgefeiert ist und nun in der Heimat ein Comeback sucht: ein verständlicher, aber gänzlich unzureichender Beweggrund für ihren Auftritt. Den Pfiffen folgen denn auch bald Bierdosen, ungezielt, Manuela bleibt unbeschädigt, nimmt aber Schaden an ihrem Selbstwertgefühl. Nächstentags streicht sie ihr Programm zusammen und kommt mit zwanzig Minuten aus.
Paul Busch, Träger eines berühmten Zirkusnamens, tritt aus Wut über den Verlauf des Premieren-Abends gar nicht erst auf, sondern tobt sich in dem Bürowagen aus. Eddie Constantine schließlich, stürmisch gefeierter Neu-Berliner, legt kurz einige Filmganoven aufs Kreuz, liefert dann noch einen Sinatra-Song ab und beendet mit einem Blick auf die Uhr die Vorstellung. »Morgen wird es besser, viel besser«, verspricht er treuherzig. Das Publikum glaubt ihm, und am nächsten Abend sieht man: Etwas hat er Recht.
Das Thema 60er Jahre ist über so vielen Wirrungen längst in Vergessenheit geraten. Gemeinsam feiert man den Endsieg, Ehrengäste und Mitwirkende.
Bleibt die Frage: Was ist an diesem Variete-Panoptikum alternativ? Das Pferd wird auch hier von der Prinzipalin persönlich vorgeführt, wenn auch nicht in hoher Schule, sondern zu einer Schule der Clowns. Und wenn der Conferencier, sogar ein waschechter Tornado, steckenbleibt oder eine Verzögerung zu überbrücken hat, rettet er sich auf das Altbekannte: »Kennen Sie den schon ...« hinaus. Wie bei Buschs. Aber keineswegs schlechter. Und mit viel mehr utopischem Gehalt.