Auftakt der Theatersaison Münchner Lach- und Schniefgesellschaft

Barbara Mundel beginnt als neue Chefin der Münchner Kammerspiele, des zuletzt besten Theaters im deutschen Sprachraum - und zeigt zum Auftakt die Revue "Touch", die von Umweltzerstörung, Corona-Ängsten und Berührungsverboten erzählt.
"Touch"-Aufführung in den Münchner Kammerspielen: jeden Tiefsinn vermeidende Zeitgeistbeschwörung

"Touch"-Aufführung in den Münchner Kammerspielen: jeden Tiefsinn vermeidende Zeitgeistbeschwörung

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Sigrid Reinichs/ Müpnchner Kammerspiele

Der Stoßseufzer "Herr, lass Hirn vom Himmel regnen!" wird am Donnerstagabend im bekanntesten Theater der Stadt München endlich mal wörtlich genommen. Es schwebt ein riesiges goldfarbenes Modell des menschlichen Gehirns von der Bühnendecke, während Frauen und Männer in grellbunten Kostümen versuchen, mit Worten und Tanzbewegungen von den großen Nöten unserer Zeit zu berichten. Sie raufen sich synchron die Haare, werfen sich kollektiv zu Boden und rappeln sich gemeinsam schulterschüttelnd wieder auf. Sie sprechen Leitartikelsätze über ansteckende Viren, abschmelzende Polkappen und Massentierhaltung. "94 Prozent aller Säuger auf der Erde sind Nutztiere", erfährt man zum Beispiel. Hätten Sie’s gewusst?

"Touch" heißt die Premiere, mit der Barbara Mundel, die neue Intendantin der Münchner Kammerspiele, ihre erste Spielzeit eröffnet. Sie ist die Nachfolgerin des umstrittenen Theaterleiters Matthias Lilienthal, der fünf Jahre lang Chef in München war und mit seiner Arbeit einige konservative Kulturfreunde aus der Stadt derart verstörte, dass er am Ende freiwillig hinwarf; zweimal wurde sein Haus in der jährlichen Umfrage unter den deutschsprachigen Kritikerinnen und Kritikern zum "Theater des Jahres" gewählt. Mundel ist 61 Jahre alt und war, bevor sie viele Jahre lang das Theater in Freiburg leitete, mal Dramaturgin an den Münchner Kammerspielen. Für ihre Auftaktsaison hat sie dem Theater nun das womöglich in langen Leitungsteam-Sitzungen ausgebrütete Motto verordnet: "Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen", ohne Punkt, ohne Ausrufezeichen.

Ein Stück, in dem Christian Drosten vorkommt

Die Begrüßungspremiere im Stammhaus der Kammerspiele an der Maximilianstraße darf der Regisseur und Autor Falk Richter gemeinsam mit der Choreografin Anouk van Dijk ausrichten. Richter hat es mit Stücken wie "Electronic City", "Trust" und "Fear" geschafft, ein international viel gespielter Dramatiker zu werden; seine Texte sind jeden Tiefsinn vermeidende Zeitgeistbeschwörungen einer von technischer Revolution, Triebstau und diffusen Ängsten geprägten Gegenwart. Auch in "Touch" betreibt Richter munter Vulgärsoziologie.

Der Text beginnt als Corona-Tagebuch eines Individuums in Quarantäne, das sich über seine Bindungslosigkeit beschwert, Tierfilme und Netflix-Serien guckt. Es folgt ein kurzes Boulevardkomödien-Zwischenspiel, in dem zwei Schwestern am Ende des Shutdowns ein schwules Pärchen in ihrer Wohnung begrüßen und mit den Gästen über den Virologen Christian Drosten, den Hass auf staatliche Gängelung und Corona-Verschwörungstheorien streiten.

Der Rest des Theaterstücks funktioniert wie das Kabarett der Münchner Lach- und Schießgesellschaft in deren besten, lang vergangenen Zeiten. Es wird hektisch über sämtliche Aktualitäten der Zeit geredet, als läse man sich gegenseitig aus der Zeitung vor. Oft knirscht und zirpt sphärische Musik im Hintergrund, manchmal werden auch Lieder zu doofem Gitarrenlärm gesungen.

Richters Text, das darf gesagt werden, ist zum Schniefen und zum Kichern banal. Jeweils einer der Tänzerinnen und Tänzer, Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne darf eine Passage aufsagen. Dazu verbiegen sich die anderen Mitspieler in panischer Ekstase, zucken in Krämpfen und rollen die Augen beim Glotzen in eine düstere Welt. Irgendwann ist im großen Laberflash dieses Abends von offenbar humanen, hyperaktiven "Partikeln" die Rede, die auf der Bühne tanzenden Münchner Partikelmenschen gleichen eher Synchronschwimmern auf dem Trockenen. Dazu passt, dass die Bühnenbildnerin Katrin Hofmann blau schimmernde Eisschollen auf die Bühne gewuchtet hat. Einen schräggestellten Polareisbrocken kann man sogar als Rutschbahn benutzen.

Ein schlaffes Schlauchboot dient als modischer Umhang

Auf vom Bühnenhimmel gleitenden Lochwänden, die als riesige verlötete Computerchips hergerichtet sind, sieht man Fernsehbilder von all den Nöten und Katastrophen, die der Text beschwört: darbende Flüchtlinge, brennende Wälder, kreiselnde Hurrikans. Weil hier alles verdoppelt und verdreifacht wird, hat der Bühnenbildner Andy Besuch einem der Schauspieler einen Schlauchboot-Umhang gebastelt. Kürzlich hat der Künstler Ai Weiwei Rettungswesten in den Läden eine Baumarktkette als Zeichen angeblicher Solidarität präsentiert; in den Kammerspielen zeigen nun hoffentlich gut bezahlte Darsteller eines öffentlich subventionierten Theaters eine schlaffe Schlauchboothülle als ihr Modell des solidaritätsradikalen Chics.

"Touch" hört sich nicht nur so an, als habe der berüchtigte Trendforscher Matthias Horx einen Theaterabend gebastelt, die Aufführung sieht auch so aus. Jede Figur ist ein irgendwie typisches Exponat und Teil einer "Ausstellung", von der mal gesprochen wird. Man trägt Steinzeitlook (Symbol für archaische Aggressivität), Ritterrüstung (als Abstandsgarantie) oder Zombie-Masken (als Zeichen innerer Leere). Die Schauspielerin Anne Müller hat sich als Marie Antoinette verkleidet und kiekst eine Tirade gegen die Verdorbenheit der modernen Luxusmenschen, die sich ihren Spaß an "Champagner und Kuchen" nicht verderben lassen wollen, in den Saal. Sind damit etwa die wohlhabenden Menschen im Münchner Theaterpublikum gemeint? Nein, zum Schlussapplaus stapft die Intendantin Mundel gemeinsam mit dem Regisseur Richter auf die Bühne und versichert allen Anwesenden, wie sehr sie sich auf das Theater, die Stadt und sämtliche ihrer Bürger (also auch die reichen) freue.

Auf der Webseite der Kammerspiele beschreibt Mundels Team das Theater in einem leicht rätselhaften Text als ein "Organ" der Stadt. "Ein ästhetisches Organ, ein soziales Organ, ein Organ, das versucht, Freiheiten auszuweiten." Immerhin ahnen wir seit der "Touch"-Premiere, wie man sich dieses Organ vorzustellen hat: Es ist offensichtlich ein goldenes menschliches Gehirn.

"Touch", Münchner Kammerspiele, weitere Aufführungen heute, am 20., 22. und 31. Oktober.

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