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BERLINALE München wartet

Berlin sucht einen neuen Chef der Filmfestspiele. Gegen den Senatskandidaten Ulrich Gregor macht die Industrie mobil.
aus DER SPIEGEL 45/1975

Für die Zukunft der Berliner Filmfestspiele sieht das Branchenblatt »Film-Echo« schwarz: »Das Schicksal der Biennale von Venedig sollte eine Warnung sein.«

Linke und Cineasten hatten 1972 das Prachtfest am Lido gesprengt und der Kino-Industrie die große Show gestohlen. Das Festival versank im Chaos. In Berlin, so fürchtet die deutsche Filmwirtschaft, könnte sich 1977 dieser »Alptraum« wiederholen.

Denn nach der Berlinale 1976 und nach 26 Amtsjahren will sich Berlinale-Chef Alfred Bauer aufs Altenteil zurückziehen. Um seinen Nachfolger bahnt sich schon jetzt ein Streit zwischen den verschiedenen Interessen der Festival-Veranstalter an.

15 Kandidaten haben sich um den lukrativen Prestige-Job (Monatssalär: rund 5000 Mark) beworben -- darunter die Filmkritiker Heiko R. Blum, Hans C. Blumenberg und Kurt Habernoll. Aber wenn das Festspiel-Kuratorium -- Senatsbeamte, Vertreter der Bundesregierung und ein Industrie-Delegierter -- diesen Montag erstmals über den neuen Berlinale-Boss berät, wird wohl vor allem von einem Thron-Aspiranten die Rede sein: von Ulrich Gregor, 43.

Der Berliner Filmhistoriker und Leiter der vielbelobigten »Freunde der Deutschen Kinemathek« gilt als Favorit einer starken Kuratoriumsfraktion um den Senatsrat Peter Nestler. Die Industrie hingegen sträubt sich mächtig gegen Gregors Wahl.

Zwar betrachten auch die Filmkaufleute Gregor als »eine integre Person zwar rühmen alle seine Widersacher die »superbe Qualität« der nonkommerziellen Berlinale-Sonderschau »Forum des jungen Films«, der Gregor seit fünf Jahren vorsteht. Aber für Gregor, sagt er, ist Film nicht »Objekt des Konsums«, sondern »ein Medium der Aufklärung, der Kritik und Reflexion«. Und solche Ansichten stempeln ihn zum mausgrauen Theoretiker, von dem die Marktstrategen »pralles, schönes Kino« (Constantin-Sprecher Theo Hinz) kaum erwarten.

Gregor, moniert die Branche, habe »zuwenig Kontakte zur Wirtschaft« und er wolle »wohl auch keine finden« (SPIO-Geschäftsführer Ulrich Pöschke). Mit Gregor würden Stars und Glamour endgültig von der Berlinale verschwinden. Das Festival werde zum »Filmkunst-Seminar"' zu einer langatmigen Weihestunde für »Cinéasten-Grüppchen« degenerieren. Da hilft es wenig, wenn der Attackierte solche Vorstellungen »demagogisch und übertrieben« nennt.

Indes, einen Gegenkandidaten, der dem Nestler-Schützling Gregor Paroli bieten könnte, haben die Kinoherren nicht parat. Ihr Protegé der ehemalige Berlinale-Pressechef Hans Borgelt, ist mit 60 Jahren schon fast pensionsreif und liegt aussichtslos im Rennen. Höchst ungewiß ist auch, ob sich der zweite Industrie-Favorit, Kritiker Habemoll, placieren kann.

Bei soviel »Animositäten und Affekten« gegen seinen Gregor hat Königsmacher Nestler noch eine »interessante Denk-Alternative« in petto. Falls die Gregorianer scheitern, könnte er einen Kompromißkandidaten auf den Schild heben, der sowohl bei Filmemachern als auch beim Kino-Management Sympathien genießt: den Berliner Regisseur Ulrich Schamoni, 35 ("Chapeau Claque")' die füllige, westfälische Frohnatur mit dem Hang zum Skurrilen.

Schamoni, durchaus geneigt, auch »zirzensische Elemente« ins Fest-Spiel zu bringen, schwebt ein Programm mit anspruchsvollem Kino-Entertainment vor. Er würde, sagt er, verstärkt deutschen Produktionen vom Schlag der »Lina Braake« zu kommerziellem Durchbruch verhelfen. Schamoni teilt auch einen Herzenswunsch der Wirtschaft, die seit Jahren am PR-ungünstigen Juni-Termin des Festivals Anstoß nimmt und lieber auf den (durch den

·Mit Anna Henkel in seinem Film »Chapeau Claque'

Untergang Venedigs frei gewordenen) September ausweichen möchte.

Darauf, aber wollen sich die Berliner auf keinen Fall einlassen. Und so hätten die Filmfabrikanten im Falle eines Gregor-Sieges doppelten Anlaß, eine alte Drohung wahrzumachen; ein industriefreundlicheres »Konkurrenz-Festival« zu etablieren -- in München etwa, das als Westdeutschlands Film-Metropole längst scharf darauf ist.

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