Museumswächter kuratieren Kunstausstellung »Die meisten Besucher glauben, dass wir keine Ahnung haben«
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»Perspektivwechsel« ist ein Wort, das Museen gerne benutzen, um zeitgemäß zu wirken. Das »Baltimore Museum of Art « hat das mit der Ausstellung »Guarding the Art« nun aber wirklich ernst genommen und diejenigen eine Schau konzipieren lassen, die die Kunst sonst bewachen: die Sicherheitsbeamten. Was kommt dabei heraus, wenn man Museumswächter zu Kuratoren macht? Fragen an einen von ihnen.
SPIEGEL: Herr Dicken, Sie haben mehrere Jahre als Museumswächter gearbeitet, um sich ihr Studium zu finanzieren und hatten ziemlich viel Zeit, sich mit den Beständen des Museums auseinanderzusetzen. Welches Kunstwerk haben Sie denn für die Ausstellung ausgewählt?
Alex Dicken: Ich wollte etwas zeigen, das sonst immer vergessen wird und schon lange im Keller lag. Also bin ich ins Depot gestiegen und habe mich tagelang umgesehen. Ich habe dann ein Bild von Max Ernst ausgewählt, »Erdbeben, Spätnachmittag«. Es entstand in Sedona, Arizona, einige Jahre nachdem Max Ernst während des Zweiten Weltkriegs in die Vereinigten Staaten gekommen war und dort Asyl erhalten hatte. Wir haben ein paar Bilder von Ernst, dem surrealistischen deutschen Maler, aber dieses hier habe ich noch nie ausgestellt gesehen. Ich glaube, das Museum hat es seit über zehn Jahren nicht mehr gezeigt. Die Kuratoren vergessen das gerne mal und zeigen immer nur die bekanntesten Stücke.
SPIEGEL: Und ihre Kollegen?
Dicken: Manche haben das politisch interpretiert. Ein puerto-ricanischer Kollege ist ins Depot und wollte ein Werk aus Puerto Rico aussuchen. Es gab keins. Also hat er eine weiße Leerstelle gelassen, das war sein Beitrag. Andere haben Kunst ausgesucht, die sie schon oft gesehen und deshalb eine besondere Beziehung zu ihr aufgebaut haben. Einer hat den »Einzug der Tiere in die Arche« von Bassano genommen, ein großes, sehr detailreiches Gemälde aus dem 16. Jahrhundert. Damit hat er immer »Ich sehe was, das du nicht siehst« mit Kindern gespielt, die sich im Museum gelangweilt haben. Ein anderer hat sich »50 Dozen« ausgesucht, ein Stuhl, der aus Bleistiften besteht. Er meinte, dass er einmal Dienst hatte in dem Raum, in dem dieser Stuhl stand, und Stunden, Tage, Wochen darüber nachdenken musste, wie angenehm es wohl wäre, wenn er sich einfach draufsetzen könnte. Wir dürfen uns nämlich nicht hinsetzen im Dienst. Wobei »50 Dozen« natürlich zusammengebrochen wäre, hätte man es getan.
SPIEGEL: Im Februar dieses Jahres sorgte ein russischer Museumswächter für Schlagzeilen. Er hatte an seinem ersten Arbeitstag ein Gemälde, das er bewachen sollte, einfach angemalt. Die Gesichter im Bild hatten keine Augen, und er fand, das sei nicht richtig.
Dicken: Das haben wir natürlich auch gelesen, ich weiß noch, wie wir uns darüber unterhalten und gerätselt haben, was ihn wohl dazu gebracht hat. Ihm muss unvorstellbar langweilig gewesen sein. Vielleicht war es ihm verboten, mit den Besuchern zu reden? Letztlich sind wir aber zu dem Schluss gekommen, dass er wohl nicht der richtige Typ war für den Job. Ich persönlich hatte noch nie den Impuls, so etwas zu tun. Aber klar, es kann manchmal sehr dröge sein. Dann muss man sich irgendwie beschäftigen.
SPIEGEL: Wie?
Dicken: Ich mag es, wenn die Besucher mich ansprechen. Viele denken ja, das sollen sie nicht tun. Aber ich finde es total okay, und oft sind das spannende Unterhaltungen. Die meisten Besucher glauben auch, dass wir Museumswächter keine Ahnung haben und nur als Platzhalter bezahlt werden, als menschliche Säule. Meine Erfahrung ist: Viele von uns kennen sich ziemlich gut aus mit Kunst und haben das Museum nicht nur zufällig als Arbeitsort gewählt.
SPIEGEL: Und wenn gerade kein Besucher kommt, um mit Ihnen zu reden, oder schlicht niemand da ist?
Dicken: Tja, dann bin ich eben allein mit der Kunst. Wir werden immer einen Tag lang einem Raum zugeteilt. Meistens gibt es dann ein Kunstwerk, zu dem ich eine besondere Beziehung entwickle. Eine persönliche Beziehung. Ein Gemälde, eine Skulptur, ein Video spricht mich an, und im Laufe des Tages komme ich immer wieder darauf zurück. Interessant ist, dass es meistens nicht das größte oder bekannteste Werk im Raum ist. Zum Beispiel gab es da dieses andere Bild von Max Ernst, das wir ausgestellt hatten. Chimären, die aus einem Berg herauszuwachsen scheinen. Es ist aber ein sehr kleines Bild, 24 mal 19 Zentimeter, nicht auffällig, man geht leicht daran vorbei. Aber mich hat es immer wieder in seinen Bann gezogen.
SPIEGEL: Es gibt dieses berühmte Buch vom spanischen Autor Javier Marías, »Mein Herz so weiß«, und darin geht es auch um einen Mitarbeiter im Prado in Madrid. Der macht sich irgendwann Sorgen um einen seiner Wächter, weil der ein pathologisches Verhältnis zu einem Gemälde bekommt. Er beschließt dann, dass die Wächter öfter die Räume wechseln müssen, nicht nur einmal im Monat, um nicht verrückt zu werden.
Dicken: Ich kenne die Geschichte nicht, aber es macht absolut Sinn. Einen Monat im selben Raum, das kann nicht gut sein. Eine persönliche Beziehung zu einem Kunstwerk zu haben ist schön. Aber es sollte nicht zu ernst werden. Ich zum Beispiel komme auch aus Baltimore, bin schon als Kind hier hergekommen mit meinen Eltern. Deshalb wollte ich auch hier arbeiten. Und mein Lieblingsbild war immer »Il n'y a pas de Monde achevé« von André Masson – schon wieder ein Surrealist, aber ein französischer. Man sieht drei Figuren, furchteinflößend, wie Geister. Sie sitzen in der Hölle, so könnte es zumindest sein, einer der drei hat Hörner auf dem Kopf. Ich habe das als Kind geliebt, und immer wenn wir ins Museum gekommen sind, wollte ich das Bild sehen. Und auch, als ich dann angefangen habe, hier zu arbeiten, war ich froh, wenn ich diesem Raum zugeteilt wurde. Aber einen ganzen Monat? Nein, das wäre zu viel. Einen Monat mit diesen drei Geistern zu verbringen, nein. Es gibt eine Grenze.