Abgehört 2007 Die wichtigsten CDs des Jahres
Radiohead - "In Rainbows"
(XL/Beggars/Indigo)
An alle, die diese Platte genau an dieser Stelle erwartet haben und das nun wahnsinnig langweilig finden: "In Rainbows" gehört nicht deshalb zu den besten Musik-Veröffentlichungen des Jahres 2007, weil die Band das Album zunächst als Download im Internet angeboten hat. Es gehört auch nicht deshalb zu den wichtigsten Platten, weil man sich aussuchen konnte, wieviel man bezahlt und Radiohead sich mit diesem Schritt sehr weit von ihrer alten Plattenfirma EMI und der Musikindustrie als solches entfernt haben. Das ist strukturell revolutionär, aber eigentlich nebensächlich. Denn "In Rainbows" ist schlicht und einfach das beste und vielschichtigste Album von Radiohead seit "Kid A". Allein in der musikalischen Spanne zwischen einem dräuenden, drängenden Gitarrengewitter wie "Bodysnatchers" und der fragilen Feinheit von "Nude" liegen 1000 Gründe, warum diese verkopfte Band aus Oxford auch 20 jahre nach ihrer Gründung noch zu den kreativsten Zellen der Rockmusik gehört.
Die große Pop-Geste in "All I Need" ist ebenso zu genießen wie die verschachtelten, in sich verdrehten Ebenen von "Jigsaw Falling Into Place". Wer in diesem Jahr nach der Kunst und Evolution in der populären Musik suchte, wurde bei Radiohead fündig. "In Rainbows" ist wie Apples iPhone: Fühlt sich gut an, lässt einen Staunen, lachen und heulen, verheißt ästhetische Perfektion - und birgt einen aufregenden Blick in die Zukunft. Andreas Borcholte
Animal Collective "Strawberry Jam"
(Domino/Rough Trade)
In einer wahnsinnigen Welt sind nur die Wahnsinnigen gesund: Der Tiergemeinschaft aus New York blieb nichts anderes übrig, als alles, was ihr einmal hoch und heilig war, zu zertrümmern und anhand von in Salzwasser getauchten Beach-Boys-Platten und staubigen Bergarbeiterlampen den Weg ins Licht zu suchen. Ein Konzert von Animal Collective ist ein seinesgleichen suchendes sonisches Erlebnis mit gelooptem Elektro-Geballer, gnadenlos körperlichem Bass-Sound und mückenschwarmartig gesummten Melodien aus dem Nirgendwo. Die Kunst des absolut freien Spiels, des Systems ohne Grenzen demonstrierten Avey Tare, Panda Bear, Deaken und Geologist bereits auf früheren LPs wie "Here Comes The Indian" oder "Feels", ohne Rücksicht auf empfindsame Hörer zu nehmen. Wenn die Weltrevolution nicht scheitert, könnte ein Werk wie "Strawberry Jam", könnten Tracks wie "For Reverend Green" oder "Winter Wonder Land" bald kreatives Allgemeingut werden. Dämmerung canceln, Gesang stehen lassen. Jan Wigger
M.I.A. - "Kala"
(XL Beggars/Indigo)
2007 war auch das Jahr starker Frauen in der Pop- und Rockmusik. Die kanadische Zartheit Leslie Feist brachte mit "The Reminder" ihr betörendes zweites Album heraus und wurde erwartungsgemäß vom Mainstream vereinnahmt; Amy Winehouse löste mit "Backt to Black" alle Verheißungen ein, die ihr Debüt "Frank" angedeutet hatte - und wurde zum Ende des Jahres sogar noch zur neuen, trunken-tragischen Ikone des Rock'n'Rolls. Eine weitere Frau veröffentlichte - etwas weniger prominent - ebenfalls ihr zweites Album: M.I.A. alias Mathangi "Maya" Arulpragasam. Die britisch-srilankische Musikerin hatte mit "Arular" bereits ein brachiales Meisterwerk und ein neues Genre geschaffen, jetzt stellte sich die Frage, ob die elektrisierende Mischung aus Electroclash und Agitprop, Worldbeat und HipHop eine Eintagsfliege war. "Kala" verpasste allen Skeptikern einen Denkzettel. Während das Debüt ihrem freiheitskämpfenden Vater gewidmet war, setzte das Nachfolgealbum Mayas Mutter ein musikalisches Denkmal. Dem politischen Zorn des Erstlings folgten die reflektierenderen, aber nicht weniger packenden Geschichten über soziales Alltagsleid in den krisengeschüttelten Ländern der Dritten Welt. M.I.A. hat sich in diesem Jahr als zweierlei etabliert: Als bahnbrechendes, bunt schillerndes Statement einer neuen, tatsächlich globalen Weltmusik, die mit Straßenmusikern und unzähligen Passanten und Protagonisten überall auf der Welt aufgenommen wurde. Und als intelligente, selbstbewusste Ausnahmekünstlerin mit viel Sex- und Pop-Appeal. Andreas Borcholte
Tocotronic "Kapitulation"
(Vertigo/Universal)
Als 1995 "Digital ist besser" erschien, konnte noch niemand die atemraubende Entwicklung, die Tocotronic in den kommenden zwölf Jahren nehmen würden, vorhersehen. Genau wie bei Blur, Radiohead, Talk Talk und The Notwist waren es auch hier die unwahrscheinlichen Metamorphosen und Idiosynkrasien, die eine ohnehin schon einmalige Band zu einer Band für die Ewigkeit machten. "Kapitulation" ist die Platte, die am ehesten an das weiße Album "Tocotronic" herankommt, mit bezaubernd aufreizenden Stücken, die das Uneindeutige feiern, die Faulheit zur Tugend erheben und den eigenen Ruin zum lippenstiftverschmierten Triumph umdeuten. Tocotronic lieben die Vergeblichkeit, und "Kapitulation" klingt nach Peter OToole, Bryan Ferry und Billy Wilders "Sunset Boulevard". Dirk von Lowtzows Liebeslied "Imitationen" bricht alle bangen Herzen: "Imitationen von dir/ Klopfen an die Tür/ Und leise reden sie mir ein: 'Du musst nicht du selber sein'/ Und leise reden sie mir ein: 'Wir werden dich von dir befreien.'" Das Feedback von "Explosion" wird genau so lange nachhallen, bis die neunte Tocotronic-Platte erscheint. Jan Wigger
Wilco - "Sky Blue Sky"
(Nonesuch/Warner)
Wir fangen da an, wo Jan Wigger seine Rezension am 2. Mai enden ließ: "I survived/ That's good enough for now". Zitiert wurde aus dem Titelsong des jüngsten Wilco-Albums "Sky Blue Sky". Nun gibt es eigentlich keinen Grund, eine Platte in diese doch recht eng gefasste Liste aufzunehmen, nur weil sie von Wilco ist. Und eigentlich standen die Vorzeichen schlecht: Nachdem Wilco-Alleinherrscher Jeff Tweedy mit "Yankee Hotel Foxtrot" und "A Ghost Is Born" zwei grandiose Meisterwerke amerikanischer Songschreibekunst hintereinander veröffentlicht hatte, konnte man fast schon von einem weniger guten Folgewerk ausgehen. Zumal sich das seit seiner Kindheit von Migräneanfällen geplagte Talent Tweedy zwischenzeitlich in einer Reha-Klinik von seiner Sucht nach Schmerzmitteln heilen ließ. Soll ja nicht so gut für das kreative Klima sein, wenn die Drogen abgesetzt werden. Doch "Sky Blue Sky", den Titel darf man wohl auch auf die verwehten Nebel in Tweedys Psyche beziehen, überraschte mit Klarheit, Stringenz und hintersinnigem Humor. Die ironisch-lakonischen Lebensbetrachtungen von "Either Way" oder "Impossible Germany" entfalten so viel schlichte Schönheit und verströmen trotz aller eingebauter Melancholie so viel Lebenslust und -Freude, dass einem beim Zuhören ganz warm ums Herz wird. Das haben in diesem Jahr nicht viele geschafft. Glückwunsch, Jeff. Überleb' nicht nur, bleib' sauber. Andreas Borcholte
Teil eins der wichtigsten CDs des Jahres 2007 verpasst? Kein Problem: Hier geht's zum Artikel.
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)