Abgehört 2022 Das ist die beste Musik des Jahres!

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Kendrick Lamar – »Mr. Morale & The Big Steppers«
Ja, es war ein anstrengendes Jahr, wir alle wissen warum: der Krieg, die Gaskrise, die Inflation, der andauernde Coronakater, das Klima. Auch die Popmusik brachte 2022 keine Instant-Erlösung, das Jahr war geprägt von komplexen, oft ausufernden, vollgepackten und oftmals multipel befrachteten Alben. Das widerborstigste erschien im Mai: »Mr. Morale & The Big Steppers«, das fünfte, nach langer Schreibblockade veröffentlichte Werk von US-Superstar und Pulitzerpreisträger Kendrick Lamar blieb mit über 70 Minuten Spielzeit und verschachtelten, quälerischen Textpassagen über die Therapie seiner »Daddy Issues« und anderer Männlichkeitsprobleme so manchem erst mal schwer verdaulich. Auch live krankte die Darbietung der neuen Leiden und Selbstfindungsversuche des Ausnahmerappers an dramaturgischen Schwächen, auch wenn viele Kritiker meinten, das beste Konzert des Jahres gesehen zu haben. Am Ende des Jahres bleibt immerhin »Mr. Morale«, das verspätete »schwierige« Album, eines der besten. Allein die widersprüchliche Wucht des zentralen Stücks »We Cry Together«, in dem Lamar und seine fiktive Beziehungs-Sparringspartnerin Taylour Page nicht zusammen weinen, sondern sich mit übelsten N- und B-Wort-Tiraden beharken, ist eine hollywoodreife Inszenierung und schonungslose Analyse von allem, was toxisch ist. Gerade aus dem Unperfekten, dem Eingeständnis, bei aller mühsam erarbeiteten Achtsamkeit noch lange keinen Frieden gefunden zu haben, schöpft dieses Album voller moralischer Babyschritte seine nachhaltige Kraft.
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Björk – »Fossora«
Nachdem sie sich die Trennung von Matthew Barney mit zwei kosmisch entgrenzten Alben ausgetrieben hatte, kehrte die isländische Klang- und Gesangskünstlerin Björk dieses Jahr mit einem ihrer erstaunlichsten Alben wieder auf die Erde zurück. Nein, in die Erde: In den Pilz-Myzelien einer »Fungal City« schürft sie als Minenarbeiterin der Gefühle (»Fossora« bedeutet »die Grabende«) nach den Möglichkeiten einer neuen Liebe, lässt dazu Gabber-Techno aus Indonesien und einen ganzen Trupp Bassklarinetten rattern und dröhnen, um die verhärtete Emotionskrume aufzubrechen. Gleich mehrere, sehr berührende Stücke widmen sich aber auch ihrer vor Kurzem verstorbenen Mutter – und Björks eigener Rolle als Mutter zweier erwachsener Kinder. Pop im eigentlichen Sinne ist das, was die 57-Jährige kompositorisch erschafft, schon lange nicht mehr, staunenswert beglückende, tief im Inneren nachhallende Musik-Kunst aber in jedem Fall.
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Big Thief – »Dragon New Warm Mountain I Believe In You«
Sechs Jahre nach ihrem »Masterpiece« betitelten Album veröffentlichte das US-amerikanische Indierock-Kollektiv Big Thief im Februar tatsächlich ihr Meisterwerk: 20 weit in Hippie-Esoterik, Space und kosmische Bahnen ausgreifende Songs in 80 Minuten, von denen keine einzige zu viel oder gar langweilig erscheint. Man erlebt Sängerin und Frontfrau Adrienne Lenker, wie sie zusammen mit ihren langjährigen Mitmusikern Buck Meek, Max Oleartchi und James Krivchenia so freidreht, wie es nur Bands können, die sich gegen alle äußeren Widrigkeiten verschworen haben und sich in ihrer gemeinsamen Musik gegenseitig Trost und Erlösung spenden. Wie schön, dass man daran teilhaben darf! Es gibt süße Folkmelodien (»Change«) ebenso wie hinreißend chaotische Avantgarde-Stunts wie »Time Escaping«, in denen es immer um Transzendenz im Angesicht von Endlichkeit, Tod und Verlust geht. Mit Abstand das befreiendste und befreiteste Alternative-Album des Jahres.
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Wet Leg – »Wet Leg«
Was hat dieses One-Trick-Pony denn unter den besten Platten des Jahres verloren? So könnte der Einwand all jener lauten, die meinen, das Newcomerinnen-Duo von der Isle of Wight hätte 2021 mit seiner umwerfenden Debüt-Single »Chaise Longue« bereits den größten Wurf gelandet. Sicher, es gab 2022 anspruchsvollere, konzisere und elaboriertere Alben aus der neuen, inzwischen sehr weit gefassten britischen Post-Punk-Szene, ehrenhalber müssen hier zumindest Black Midi, Black Country, New Road und Dry Cleaning genannt werden. Aber Rhian Teasdale and Hester Chambers, zwei schnippische junge Frauen, die mit unverschämter Geste viel Gang of Four, Bangles, Riot Grrrl und Glamrock in ihre blutrünstigen, unflätigen Songs über Rache an ignoranten Ex-Boyfriends werfen, konnten mit ihrem nassforschen Debüt trotzdem dauerhaft begeistern, nicht zuletzt auch durch ungestüme, sehr amüsante Live-Auftritte. »Wet Leg« ist ein altmodisches Popalbum, das ganz lässig ein paar weitere Radio- und Party-Hits wie »Wet Dream«, »Ur Mom« oder »Oh No« hinwirft sich ansonsten sorglos über allzu großen Tiefsinn gibt. Manchmal, so war es immer schon, liegt die Originalität von Pop einfach nur im entwaffnenden Charme seiner Debütant:innen.
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Playlist: Top-Songs 2022 D/A/CH
1. Tom Liwa: Schon wieder Februar (feat. Carolin Hennig)
2. Stella Sommer: In My Darkness
3. Nichtseattle: Die Idee
4. Die Nerven: Europa
5. Christin Nichols: Malibu
Sudan Archives – »Natural Brown Prom Queen«
An dieser Stelle könnte man nun das neue Album von R&B-Superstar Beyoncé erwarten. »Queen Bey« setzte sich für das Cover von »Renaissance« auf ein gläsernes Pferd, als wäre sie Lady Godiva oder Bianca Jagger im Studio 54 – und ermächtigte sich mit hypermodernen Dance-Tracks der queeren House- und Vogueing-Kultur, mit der sie, Pardon, eigentlich noch nie wirklich viel zu tun hatte. Na ja, trotzdem eine tolle, natürlich hervorragend produzierte Platte mitsamt dem Superhit »Break My Soul« (dank Robyn-S-Sample), aber vielleicht doch nicht der große emanzipatorische Wurf, den viele Kritiker darin sahen. Der kam dieses Jahr eher von einer Violine spielenden Beyoncé-Konkurrentin aus Cincinnati, Ohio, die sich in den letzten Jahren bereits in Stellung brachte – und nun mit ihrem zweiten Album eindrucksvoll demonstrierte, was sie kann. »I’m not average« postuliert Brittney Parks alias Sudan Archives im Titelstück. Sie will halt einfach mal ihre überdurchschnittlichen Skills raushängen lassen: »I just wanna hang my titties out, titties out, titties out«. Die Musik auf ihrem Album ist ein wildes, aber auch sehr cooles Durcheinander aus R&B, Hip-Hop, westafrikanischen Einflüssen, Elektronik-Sounds, Jazz-Moods und immer wieder peitschender Perkussion. Zusammengehalten wird all das von einer aus Highschool-Demütigungen und frühen, auch rassistischen Zurücksetzungen hergeleiteten Biografie-Erzählung. Im Zentrum dieser Formfindung steht das schnittig marschierende Frisuren-Manifest »Selfish Soul«, in dem Parks ihre Unabhängigkeit erklärt, vom männlich-sexualisierten Blick ebenso wie anderen Haarigkeiten ihrer Vergangenheit. Um den Kreis zu schließen: »Natural Brown Prom Queen« ist für Sudan Archives das, was »Lemonade« für Beyoncé war. Und tanzen kann man auch sehr gut dazu.
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Tara Nome Doyle – »Vaermin«
Stella Sommer, ewige Favoritin dieser Rubrik, möge es verzeihen, dass sie mit ihrem herausragenden neuen Album »Silence Wore A Silver Coat« hier ausnahmsweise nur am Rande erwähnt wird – zugunsten einer anderen Wahlberlinerin und Songwriterin. Am Ende sind es zehn Platten und alljährlich harte Entscheidungen. »Kill your darlings« also, wie Tara Nome Doyle im Song »Caterpillar« ihres zweiten Albums singt – und sich wie ein Tausendfüßler in jede Gefühls- und Bewusstseinsöffnung eines Lovers kribbelt und krabbelt. Anhand von allerlei Ungeziefer (englisch: Vermin) lotet Doyle, mal flüsternd, mal in vollem Kate-Bush-Furor, Tiefen und Untiefen der Gänsehaut aus: das entzückte Schaudern und das entsetzte Schütteln. Ihr bereits im Januar veröffentlichtes Album ist von berückender Schönheit, ein kunstvoller, sich von Trends und Stilen autark machender Piano-Kammerpop mit großen, schwelgerischen Melodien und behutsamen, empfindsamen Gesten, der in den Schatten und Abgründen der Zwischenmenschlichkeit nach gemeinsamem Grund forscht. Man wird immer wieder zu dieser zugleich rohen und sehr feingliedrigen Musik zurück gelockt wie die Motte zum Licht, die natürlich auch in Tara Nome Doyles Setzkasten des Kreuchens und Fleuchens gehört.
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Die Nerven – »Die Nerven«
»Und ich dachte irgendwie, in Europa stirbt man nie«, lange vor dem Krieg in der Ukraine geschrieben, war die deutsche Songzeile, die in diesem Jahr wohl am tiefsten unter die Haut ging. Die Nerven, seit nunmehr zehn Jahren aus Sänger, Gitarrist und Produzent Max Rieger, Bassist Julian Knoth und Schlagzeuger Kevin Kuhn bestehend, bewiesen sich auf ihrem fünften Album einmal mehr als die kompromisslosesten Nervösmacher des deutschen Indierocks. Wie ihre älteren Kollegen von Tocotronic auf dem ebenfalls sehr guten Album »Nie wieder Krieg« beschäftigen sich auch die Nerven 2022 mit dem Individuum am größten Stress- und Zerreißpunkt seiner Existenz – aber sie tun es härter, lauter, erbarmungsloser. Sinister-hymnische Songs wie »Europa«, »Ich sterbe jeden Tag in Deutschland«, »Keine Bewegung« oder »15 Sekunden« rissen zum Herbstbeginn mit klirrender Kälte und Brutalität den weichen Teppich gefühlter Gewissheiten unter den Füßen der Nation weg. Kathartischer wurde der gesamtdeutsche Zustand der allgemeinen Erschöpfung und Lähmung, des Haderns und Zweifelns in diesem Jahr nicht in Gitarrenmusik übersetzt.
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Playlist: Top Songs International
1. Harry Styles: As It Was
2. Phoenix: Alpha Zulu
3. Rosalía: Saoko
4. Kendrick Lamar: We Cry Together
5. Sudan Archives: NBPQ (Topless)
Nichtseattle – »Kommunistenlibido«
Es gibt Songs, die brauchen ein bisschen Zeit. Sie klingen erst mal zu sperrig und spröde, werden dann aber immer geschmeidiger, nisten sich ein, berühren tief und wachsen ans Herz. »Die Idee« von Nichtseattle ist so ein Lied. Es handelt von dem niederschmetternden, diffusen Gefühl, das irgendwas grundsätzlich falsch läuft im Kapitalismus, in Deutschland, im sprachlosen Gegeneinander, das doch eigentlich ein Miteinander sein soll. Oder? Katharina Kollmann, eine junge Frau aus dem Osten Berlins mit Wendevergangenheit singt über die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Solidarität, Nähe und Geborgenheit, die vielleicht eher in der nur vordergründig tristen Plattenbau-Utopie zu finden war, die auch ihr Albumcover ziert, als in den Altbaufestungen der reichen Innenstädte. Kollmann ist eine Songwriterin, die es schafft, viel beschriebene Gefühlsmechaniken mit ungewohntem Duktus, großartigen Sprachbildern und melancholisch nacherzählten Polaroid-Erinnerungen aus dem Klischee zu hebeln. Als Instrument dient ihr dabei ihre E-Gitarre, die nicht einfach nur begleitet, sondern sich mit den langen Sätzen und Silben der Texte verzahnt, sie in mäandernde, dann plötzlich hymnenhafte Songs gegen die innere und äußere Einsamkeit formt. Die Entdeckung des Jahres.
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Lucrecia Dalt – »¡Ay!«
Die Musik Latein- und Südamerikas bleibt ein Dauerbrenner in den Pop-Charts. Aber nicht nur dort: Auch die in Berlin lebende Kolumbianerin Lucrecia Dalt, eine feste Größe in der experimentellen Elektronik-Szene, widmete sich auf ihrem neuen Album den Klängen und Rhythmen ihrer Kindheit und Jugend: Bolero, Son, Merengue, Mambo – und entdeckte sie durch die Ohren und Gefühlssensoren einer auf der Erde gelandeten Alienfrau namens Preta noch einmal auf sensationelle Weise neu. Eine analog spielende Band, die Congas und Bongos, Trompeten und Klarinetten, Kontrabass und Leierkasten bedient, erzeugte im Studio einen warmen Resonanzraum für die kühl tastenden Synthesizer- und Elektronik-Sounds Dalts. Das Ergebnis ist ein träge-melancholischer, aber übersinnlich mitreißender Jazz-Groove, der Nostalgie und Traditionen versöhnlich in die Zukunft tanzen lässt.
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Rosalía – »Motomami«
Ein wichtiges Thema des Jahres war die Debatte über unrechtmäßige kulturelle Appropriation in der Kunst und im Pop, manchmal auf plakattaugliche Fragen heruntergebrochen, ob Weiße denn nun noch Dreadlocks tragen dürfen oder nicht (besser nicht). Die spanische Musikerin Rosalía hat mit Appropriations-Vorwürfen schon zu kämpfen, seit sie als Katalanin aus Barcelona einst anfing, traditionell andalusischen Flamenco in modernen, wenn nicht futuristischen Pop zu verwandeln. Auf ihrem dritten Album »Motomami« erweitert die 30-Jährige die Kampfzone nun furchtlos auf lateinamerikanische Stile wie Champeta, Bachata und natürlich Reggaeton, aber auch auf Jazz und allerlei japanische Einflüsse, Anime-, Manga- und Hentai-Kultur. Die klanglich immer wieder herausfordernde, extrem experimentelle Musik, an Latinx-Produzenten wie Arca geschult, hämmert der Kritik all das lustvoll um die Ohren – und um sie ruhigzustellen, veröffentlichte Rosalía zu ihrer Platte auch eine Playlist mit den Original-Künstlern und -Künstlerinnen, die sie inspiriert haben. So, könnte man argumentieren, funktioniert »gute« Appropriation, denn auf diese Weise wird der Ursprungskünstler nicht nur gebührend gewürdigt, er könnte durch die Entdeckung durch neues Publikum sogar profitieren. Dass es im Pop nicht ohne Appropriation geht, ist eh klar, die Aneignung von Stilen und Einflüssen ist von jeher ihr Grundprinzip. Rosalía, das ist spätestens seit diesem Jahr klar, ist eine der bestimmenden Pop-Künstlerinnen der kommenden Zeit, und »Motomami« ist ein Musterbeispiel dafür, wie aufregend Pop sein kann, der aus Traditionen Neues herausschüttelt und -bricht. Album des Jahres.
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