Abgehört - neue Musik Vinyl-Träume auf dem Mond
Arctic Monkeys - "Tranquility Base Hotel & Casino"
(Domino, seit 11. Mai)
Breaking (fake) news: Es gibt doch noch eine zweite Staffel von Martin Scorseses Musikbiz-Serie "Vinyl", diesmal nicht in New York angesiedelt, sondern in den Spätsiebzigern in L.A., als der Laurel Canyon langsam ausdörrte und Supergroups wie die Eagles sich auf den "Long Run" Richtung Koks-Paranoia begaben. In der Hauptrolle: Jake Gyllenhaal als Quaaludes einschmeißender jaded Rockstar Alex Turner, der sich im Sunset-Zwielicht einer verwilderten Villa in den Hollywood Hills auf den Mond träumt - und im Drogenwahn ein Album-Meisterwerk von "Pet Sounds"-Dimension konzipiert, von dem er bereits weiß, dass es die Welt erst in der Retrospektive zu schätzen wissen wird.
Den Trailer dazu gab es am vergangenen Donnerstag live in der Late-Show von Jimmy Fallon zu sehen , als die natürlich komplett erfundene Seventies-Band Arctic Monkeys mit dem dandyhaften Turner/Gyllenhaal am Retro-E-Klavier erschien und den Song "Four Out Of Five" darbot. Was für ein Spektakel. Und natürlich Blödsinn.
Aber ein bisschen irreal wirkte der Auftritt der Arctic Monkeys - in echt eine der letzten gültigen Rockbands zurzeit - tatsächlich. Und Gyllenhaal, der schwelende Brüter unter Hollywoods A-Listern, wäre die perfekte Wahl, um irgendwann ein Biopic über Alex Turner zu drehen, einen der besten Songwriter seiner Generation. Ihm ist zu wünschen, dass es ihm mit seinem ambitioniert-altmodischen, sich gegen jede Spotify-Verwertung stemmenden sechsten Album mit den Arctic Monkeys besser ergeht als Scorsese mit seiner "Vinyl"-Unternehmung. Der eine oder andere Fan, der sich nach dem Charts-Erfolg des smart zupackenden Vorgängers "AM" vor allem aus den USA für die Band aus Sheffield begeisterte, wird von Turners radikaler Hit- und Gitarrenriff-Verweigerung sicherlich vor den Kopf geschlagen sein.
Denn es erfordert Konzentration, ein knapper werdendes Gut, um die Schönheit des Turnerschen Mondspaziergangs zu erforschen. Der Sound seiner nahezu im Alleingang und erstmals am Piano komponierten Songs hat mehr mit dem Sixties-Flair seines Nebenprojekts Last Shadow Puppets zu tun als mit allen bisherigen Arctic-Monkeys-Alben. Turner betritt eine Klangwelt, die sich aus Brian-Wilson-Symphonik, Las-Vegas-Schmonz und dem Retrofuturismus eines Danger Mouse speist. Wie ein Crooner alter Schule hebt Turner in "Star Treatment" zu einem köstlich erfolgsmüden Lamento an: "I just wanted to be one of the Strokes/ Now look at the mess you made me make".
Turner hat die verdienstvolle Punkrock-Lederjacke erst einmal an den Nagel gehängt, um sie gegen Sakko und getönte Sonnenbrille einzutauschen. Mit seiner jetzt entfesselten Erzählkraft stellt er sich in eine Reihe mit den beiden anderen aktuellen US-Songwritern, die ihre Zeitgeist-Diagnostik in die plüschige Epik des Siebzigerjahre-Sounds betten: Father John Misty und Dan Bejar alias Destroyer.
Als verspulter Resident Artist eines Luxushotels im "Meer der Ruhe" auf dem Mond (das Modell auf dem Cover entwarf er selbst), dort, wo einst Apollo 11 landete, singt er wundersame Minnelieder an vermutlich dieselbe Angebetete wie auf "AM", aber diesmal lenken ihn immer wieder TV-Schnipsel, You-Tube-Clips oder Insta-Postings ab. So kommt es, dass in der rührenden Liebesballade "Golden Trunks" das imaginierte Bild von Donald Trump in Wrestler-Outfit auftaucht. "She Looks Like Fun", "Four Out Of Five" und "The World's First Ever Monster Truck Front Flip" bilden die Zappeligkeit der Zeit ab, ohne anzuprangern, denn Turner ist selbst nicht frei von der allgemeinen ADHS-Erkrankung. Sein von 12 Jahren Turbo-Fame mit den Arctic Monkeys gebeuteltes Songwriter-Alter-Ego zieht sich ja nicht umsonst auf die "Tranquility Base" zurück. Emotionen wechseln hier im Takt eines auf dem Display wischenden Fingers, gebremst nur durch die kontemplative Schaumigkeit der Musik.
Mit Rockmusik im klassischen Sinne hat dieses Album nichts mehr gemein, aber wohin hätte ein Aufguss des bereits perfektionierten "AM"-Rezepts auch geführt? Wahrscheinlich dahin, wo die von Turner einst idealisierten Strokes seit einigen Jahren versuchen, sich irgendwie wieder relevant zu machen. Oder bei den AC/DC-Shirts von Lidl. Turner aber ist im lunaren Space-Resort für Rockstars angekommen, um zu bleiben. Es kann sein, dass "Tranquility Base" mit seiner Retro-Science-Fiction-Patina, seinem detailverliebten Wes-Anderson-Charme und seinem schamlos verkleisterten "Ultracheese" (Songtitel) kein Instant-Hit wird, dafür aber ein geschmacksintensiver Slow Burner, der Nachhaltigkeit verspricht. (9.0) Andreas Borcholte
Courtney Barnett - "Tell Me How You Really Feel"
(Marathon Artists, ab 18. Mai)
Staubtrockene Gitarrensaiten, die Augen tränen, aber das ist nur der Sand. Courtney Barnetts Stimme flirrt in die Wüste hinein. "Can't take it with you", singt sie und "Take your broken heart and turn it into art". Slogans, Titel und Zitate stehen wie die Neonröhren-Skulpturen von Tracey Emin oder Tim Etchells im Sand. Leuchten. Aber desto weiter einen das Schlagzeug durch die wasserlose Hitze von "Hopefulessness" treibt, desto deprimierender werden sie: "Your vulnerability is stronger than it seems". Diese Röhre zirpt. Die Gitarren heulen. Es quietscht, aber auch das ist sicher nur der Sand. Zwischen den Zähnen. Nach zu langer Zeit ohne Wasser wird man irre. Pfeift da wirklich ein Wasserkessel?
So angenehm deprimierend beginnt das zweite Album von Courtney Barnett. 2015 war das Jahr der australischen Singer-Songwriterin. Ihr etwas leichtherzigeres Debüt "Sometimes I Sit And Think, and Sometimes I just Sit" lief überall, räumte in Australien alle Preise ab, wurde für einen Grammy und einen Brit Award nominiert. 2017 nahm sie mit Kurt Vile das Duett-Album "Lotta Sea Lice" auf. Und nun das: "Tell Me How You Really Feel". Eine Selbstbeobachtung in zehn Songs, deren Gitarren ab dem zweiten Track nasser und beschwingter werden, die Lyrics aber bleiben grobkörnig.
Mit der Schreibmaschine hat sie sie geschrieben. Am langen Typenhebel klackern sie einem entgegen. Ab und zu tippt sie einen Vokal dreimal. Und erzählt gedehnt aus ihrem Slacker-Leben, dieser lethargischen Selbstverachtung, die einen dazu befähigt, Künstler zu sein - Künstler oder arbeitslos. Sie erinnert sich daran, wie das war, als sie während des Studiums depressiv wurde, Helen Garners "Monkey Grip" las. Und 23 Tage das Haus nicht verließ.
30 ist sie heute. Zeit für Selbsterkenntnis: I'll be what you want/ Oh when you want it/ But I'll never be what you need. Zeilen, die sie ihrer Partnerin Jen Cloher direkt ins Gesicht zu singen scheint. "I'm Not Your Mother, I'm Not Your Bitch" klingt wie das Update des ebenfalls in Australien aufgenommenen Sleater-Kinney-Klassikers "Be Yr Mama". In "Crippling Self Doubt and a General Lack of Self Confidence" singt ihr Kelley Deal von den Breeders dann schnippisch den Albumtitel entgegen. Und Barnett? Antwortet mit einem Chorus, mit dem man endlich alles in den Sand fahren kann: I don't know/ I don't know anything. (8.3) Julia Friese
GAS - "Rausch"
(Kompakt, ab 18. Mai)
In den Neunzigerjahren verband Wolfgang Voigt unter dem Pseudonym GAS düster dräuende Klassik-Samples mit Minimal-Techno-Ästhetik. Es ginge darum, erklärte Voigt damals, "die deutsche Kulturgeschichte, oder was man landläufig damit assoziiert, unters Mikroskop zu legen, das Ausgangsmaterial sozusagen wieder auf die ästhetischen Grundstrukturen zurückzuführen und von da aus in einen neuen Zusammenhang zu stellen". Das Ergebnis, nachzuhören unter anderem auf den Alben "Königsforst" und "Zauberwald", war ein somnambuler Ambient-Techno, abstrakt und den Hörer umhüllend zugleich. Viele Rezensenten witterten damals Wagner und deutschnationales Übel, das in die Popkultur Einzug zu halten drohte. Für Nationalpop klang das allerdings alles zu seltsam und zu undefinierbar - ein Waldspaziergang, nicht im Truppenteil, sondern im Alleingang, auf psychoaktiven Pilzen.
Nach der Jahrtausendwende wurde es lange still um GAS. Erst 2017 erschien das Meisterwerk "Narkopop" - und jetzt "Rausch". Es ist das orchestralste Voigt-Album bislang. Der gut einstündige Track entfaltet sich nach einer Logik, man weiß nur nicht so genau, welcher; und wie nach einer sehr interessanten REM-Phase fällt es einem danach tendenziell schwer, sich zu erinnern, was man da gerade wahrgenommen hat. Bläser-Samples, Synthesizer-Flächen und allerhand Ungreifbares, Krautrockartiges schieben sich übereinander und mäandern durch die Klanglandschaft. Der Sound evoziert Entrückung, aber der stoische Beat klingt, als würde er aus durchaus bekannten Gefilden herüberwehen. "Nah und fern" hieß eine vor einigen Jahren erschienene GAS-Werkschau, und das trifft es: Diese Musik ist seltsam distanziert und unglaublich präsent zugleich.
Man kann zu diesen Klängen ins Assoziieren kommen - der Wald, die deutschen Mythen, die Geschichte, und auf dem Albumcover steht das Wort Gas. Der Trip, den der Titel verspricht, ist nicht befreiend, sondern unheimlich. In diesen Wäldern rauscht und pulst es irgendwie krankhaft. Man möchte hier nicht leben, nein danke. Aber der Sound entfaltet Suchtpotenzial. (8.0) Benjamin Moldenhauer
Aïsha Devi - "DNA Feelings"
(Houndstooth, seit 11. Mai)
Was wäre, wenn das Alphabet nicht mit A beginnen würde? Aïsha Devi, Schweizerin mit nepalesisch-tibetanischen Wurzeln, stellt auf ihrem zweiten Album genau diese Frage. "Dislocation Of The Alpha" heißt einer ihrer Tracks, dessen verstolperte Beats immer wieder innehalten, Raum schaffen für gesprochenen Text und asiatisch anmutende Soundverwehungen oder tiefes, entferntes Nebelhorndröhnen in einer schroffen, aber hellen und frischluftigen Gebirgslandschaft, die noch unberührt ist. Man weiß noch nicht mal, ob sie unwirtlich oder begehbar ist, aber sie ist von gängigen Regeln entkoppelt, so viel ist klar.
Aïsha Devi, einst als Kate Wax in der Klubszene unterwegs, macht elektronische Musik, die sich aus Beat-, Groove- und Verwendungszusammenhängen entfernt - zugunsten eines experimentellen, transzendentalen Zeitlupen-Sounds, der sowohl die Machohaftigkeit, als auch die vorgeschriebene Tanzbarkeit des Genres in "Aetherave" komplett unterläuft: Der Track hat die pumpende Geschwindigkeit eines altmodischen Techno-Smashers, aber keine Bässe oder Drums. Als Navigation dient ein flirrendes Synthie-Orgeln und Devis ätherisch hineinrufende Stimme.
Die Künstlerin glaubt an die heilende Kraft meditativer Musik, das erklärt vielleicht den entschleunigten Charakter ihres Sounds, der immer wieder Pausen setzt. Doch die "DNA Feelings", die sie hier beschwört, sind nicht nur erbaulich und besinnlich. Durch "Inner State Of Alchemy" schneiden disruptive Snare-Sounds, in "Hyperlands" moduliert sie ihre klassisch ausgebildete Stimme in bedrohlich tiefes Glucksen und hochtönendes Singen, bevor dann sekundenlang ein Schleifgeräusch die Regie des Horrorfilmtracks übernimmt. Schönere, sakralere Klanggebilde der Innerlichkeit erbaut zurzeit nur Aïsha Devis genderfluider Genre-Kollege Arca, der zuletzt mit Björk arbeitete.
Auch Devi horcht tief in die organische Mechanik ihrer innersten Gewerke hinein, auf der Suche nach einer spirituellen Befreiung auf Stammzellenebene, den Beginn eines neuen Alphabets ohne Alpha-Dominanz. (7.6) Andreas Borcholte
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)