Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche
Kante - "Zombi"
(Kitty-Yo/Labels/Virgin)
Im Allgemeinen macht es wenig Spaß, unsinnige Bemerkungen zu großartigen Platten lesen zu müssen. Es kommt aber vor, dass der Unsinn so unsinnig, so absurd und so weit weg von der Wahrheit ist, dass man darüber schmunzeln und ihn an dieser Stelle ruhig einmal zitieren kann: "Peter Thiessens Gesang hat sich derweil so sehr an den Jochen Distelmeyers angenähert, dass 'Zombi' beim Blind Date auch als Blumfeld-Album durchgehen könnte." Eine grundfalsche Behauptung, denn Thiessen singt kein bisschen wie Distelmeyer, und "Zombi" legt eindeutig Zeugnis davon ab, warum es ganz und gar unvermeidlich für Thiessen war, Blumfeld zu verlassen: Blumfeld und Kante nämlich trennen, gerade auch gesanglich, heute Welten. Was also ist "Zombi"? Eine visionäre, süchtigmachende Platte, eine Depression und eine Utopie, eine zehnteilige Lektion in Stil, ein wahnwitziges Geflecht aus Wort und Klang - und eine Anstrengung, von der man noch in vielen Jahren ehrfürchtig sprechen wird. Schon in den Interviews zur letzten Kante-LP redete Thiessen gerne von Archie Shepp, von Untoten und Dämonen, von den Stimmen der Verstorbenen, die durch die Musik auch der Jetztzeit geistern. All das findet sich auf dieser LP, die weniger zu beschreiben als zu erfahren ist und mit der Erkenntnis endet, dass man nichts mehr anderes hören möchte, nur noch diese Gewaltigkeiten wie "Ich kann die Hand vor meinen Augen nicht mehr sehen". Das alles verschlingende "Schwaches Gift" bezwingt sogar den Kante-Klassiker "Im ersten Licht", und ganz von fern kann man das schönste Lied der Welt hören, vielleicht eines von Robert Wyatt. "Da wo die Nacht nicht enden will/ Wo uns die Stille in den Ohren liegt/ Da wo die Lichter dieser Stadt Zeichen in den Himmel senden/ Da will ich bei dir sein/ Und meine Zeit mit dir verbringen" ("Wo die Flüsse singen"). Eine Platte aus dem Herz des Wirbelsturms.
(9) Jan Wigger
Kante - offizielle deutsche Website
Tindersticks - "Reissues I", "II", "Nénette et Boni", "Curtains", "Simple Pleasure"
(Island/Universal)
Zugegebenermaßen hilft ja nicht einmal eines der alten Tindersticks-Alben gegen diese träge und vollkommen nutzlose Hitze, die durch die Ritzen und Fenster unsere bescheidenen Gemächer dringt, um uns langsam den Garaus zu machen. Aber ist es bloß Einbildung, dass es ein bißchen dunkler wird, wenn man "No More Affairs" oder "Rented Rooms" nach langer Zeit wieder auflegt? Dass es plötzlich schneller Oktober zu werden scheint, auch wenn die Luft noch immer steht? Wer die Tindersticks verehrt, wird zu keinem Zeitpunkt aller Sorgen ledig sein. Aber die gewichtigen Vinyl-Ausgaben von "II" oder "Curtains" die man erst auf den Plattenteller legen und dann mehrfach umdrehen musste, obwohl man doch nicht mehr aufstehen konnte und im Lehnsessel festgewachsen war - die kann man nun zurück in den Schrank stellen, denn die olympischen ersten drei Tindersticks-Platten "I", "II" und "Curtains", sowie die leichtgewichtige Enttäuschung "Simple Pleasure" und die Musik zum Film "Nénette et Boni" sind nun allesamt wiederveröffentlicht worden. Um je eine Bonus-CD erweitert und also jeweils durch eine Vielzahl von Demos oder seltener Versionen aufgestockt, sind vor allem die frühen Großtaten der Briten zu einer noch außerordentlicheren Angelegenheit geworden. Dabei ist ganz besonders zu loben, dass sich das olympische Konzert im "Bloomsbury Theatre" wieder als Zusatz auf "II" befindet. "So go turn those sheets/ Get back on the street/ There's nothing more I can bring to you/ They are scared of the door/ Afraid of the floor/ Well, I'll go and walk right through/ And I'll show you who I've been running from." ("A Night In"). Wenn Stuart Staples die Stimme hebt, stellt die Welt das Atmen ein. (keine Wertung) Jan Wigger
Tindersticks - offizielle Website
Karate - "Pockets"
(Southern Records/EFA)
Ob zu Hause zwischen streng alphabetisch sortierten Schallplatten von obskuren Kleinstlabels oder auf Insider-Konzerten in den Klitschen diverser Großstädte: Alle paar Monate wird das Klagelied von notorisch benachteiligten und, ja, "unterbewerteten" Bands gesungen, für die die breite Öffentlichkeit wohl zu blöd oder zu faul ist. Doch so enervierend das Gejammer zuweilen sein kann, so viel Wahrheit steckt eben oft dahinter: Karate gehören definitiv seit rund zehn Jahren zu den sträflich Missachteten - das weiß, wer auch nur ein Mal "There Are Ghosts" von "The Bed Is In The Ocean" gehört hat. Auf "Pockets" ist der sparsame, mathematisch präzise und herrlich monotone Indie-Rock von Karate, der zuletzt doch recht deutlich ins Jazzig-Frickelige abzudriften schien, in seiner konzisesten und ökonomischsten Form anzutreffen: Das zähe "Alingual" greift auf ganz frühe Karate-Stücke zurück, "Water" dagegen ist eine der schönsten Meditationen von Geoff Farina. Das Album "Pockets" ersetzt keine der anderen Karate-Platten. Aber es fasst sie alle zusammen. (8) Jan Wigger
Karate bei Southern Records
The Good Life - "Album Of The Year"
(Saddle Creek/Indigo)
Eine Platte mit dem Titel "Album Of The Year" kann natürlich, so viel ist aus der Vergangenheit bekannt, niemals das Album des Jahres werden - in diesem Jahr sowieso nicht. Aber Tim Kasher, der, wie immerzu gesagt werden muss, ja auch der viel lärmigeren und nervenaufreibenderen Band Cursive vorsteht und auf dem Bright Eyes-Label Saddle Creek veröffentlicht, ist einer, der es irgendwann einmal schreiben könnte, das Album des Jahres. Mit "Album Of The Year" jedenfalls darf man vollauf zufrieden sein, denn Kashers Songwriting ist so gut wie auf keiner The Good Life-Platte zuvor. Der kränkelnde Folk scheint endlich ausgereift, zudem ist Kasher selbstredend ein begnadeter Erzähler geblieben. "Night And Day" oder das desolate "You're Not You" sind ergreifende Betrachtungen über Vergänglichkeit, Verlangen und die Last der Wurzellosigkeit. (7) Jan Wigger
The Good Life - Website von Saddle Creek Records
Bart Davenport - "Game Preserve"
(BB-Island/Edel Contraire)
Die neuen Songschreiber haben es nicht leicht: Einerseits scheint der Markt fast schon übersättigt, andererseits bequemen sich bisweilen gerade einmal 90 Menschen zu einem Konzert des Kanadiers Ron Sexsmith, der seit einigen Jahren so ziemlich alles schlägt, was auch nur irgendwie mit Songwriter-Pop zu tun hat. Bart Davenport, eine lokale Berühmtheit an der amerikanischen Westküste, spielte bis Mitte der Neunziger Jahre in der Garagenband The Loved Ones, wechselte danach zu The Kinetics und probierte es schließlich ganz allein. "Game Preserve" ist bereits die zweite Davenport-LP, Melancholie, Selbstbeobachtung und eine fast zärtliche Produktion veredeln die zwölf Stücke, und besonders bei "Euphoria or Everyone On Earth Is So Beautiful, Even You" muss man sich ein Lächeln abringen, denn so nah war doch noch selten jemand am frühen Paul McCartney. Feingeistige Texte? Auch. (7) Jan Wigger (Achtung: VÖ wurde kurzfristig auf den 13.9 verschoben!)
Bart Davenport - offizielle Website
Bewertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)