Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche

Kann ein Absturz erhebend sein? Was offenbart ein Songwriter-Gott? Wie klingt ein Hauch von Pop? Die wichtigsten CDs der Woche mit Sport, Bob Dylan, Charlotte Gainsbourg, The Black Keys und The Long Winters.

Sport - "Aufstieg und Fall der Gruppe 'Sport'"
(Strangeways / Indigo)

Platten über Größenwahnsinn und Verzweiflung sind fast immer gut. Sport, diese große, übersehene Hamburger Band, in der Kante-Gitarrist Felix Müller von Ohnmacht und dem langen Weg bergab singt, macht ihr umstürzlerisches Anliegen schon sehr früh deutlich: "Wir bauen Dinge, die noch niemand kennt / Kein Umbau, das hier geht ans Fundament / Und wenn es klappt, die Schwerkraft aufzuheben / Wird Isaac Newton sich im Grab umdrehen" ("Newton"). Schon Wochen vor der Veröffentlichung wurde das herausragend produzierte Album "Aufstieg und Fall der Gruppe 'Sport'’" in Bescheidwisser-Kreisen geradezu kultisch verehrt, wurde aus Liedern wie "Schönen Gruß, die Satelliten" oder "Die Hände" zitiert - Liedern, die bleiben werden und die auf stupende Weise zeigen, was man mit Gitarre, Schlagzeug, Bass und Gesang heutzutage noch so alles anstellen kann.

Das fabelhafte "Lass die Sirenen singen" scheint von Pinback und Slint beeinflusst, in "Ein Ende" lassen Sport ausgerechnet die Beatles ihren Plattenvertrag verlieren (in der Folge zieht John ans Meer, George wird professioneller Rumhänger, Paul tritt noch Solo auf Hochzeitsfeiern und Matinees auf und Ringo nutzt das Internet als letzte finanzielle Chance). Jeder Song von Sport ist eine Anstrengung ohne Ziel, ein Kampf gegen die Umstände und immer auch ein mühevoller Selbstversuch. "Morgen sind wir raus / Außerhalb von hier / Hinter allen Grenzen / Die uns von der Zukunft trennen / Morgen sind wir raus." Was für ein Leben! (9) Jan Wigger

Bob Dylan: "Modern Times"
(Columbia/Sony)

Wie gut die Hälfte der nunmehr 44 Studioalben von Bob Dylan sagt auch "Modern Times" schon mit den ersten Takten von "Thunder On The Mountain" nichts anderes als: Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus der Knechtschaft geführt hat. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Dennoch ist Dylan kein Enigma, kein Geist, der großzügig zu seinen Jüngern hinabsteigt. Dylan ist bis auf weiteres ein Songschreiber, der größte lebende Songschreiber natürlich, einer, der ungefähr alle fünf Jahre ein neues Album herausbringt und in der Zeit, die dazwischen liegt, tourt und tourt und tourt, weil er längst nicht mehr anders kann. Martin Scorseses grandiose Dokumentation "No Direction Home" vermittelte perfekt die Illusion, man sei Bob Dylan näher gekommen. Doch "Modern Times" ist wieder Musik aus einer anderen Wirklichkeit: So zartfühlend, so akkurat, wachsam und bedacht wie im besten Track "Workingman's Blues #2"oder in "Spirit On The Water" hat Dylan vielleicht seit "Standing In The Doorway" nicht mehr gesungen. Durch die modernen Zeiten, die der Dichter hier beschwört, ziehen sich wie üblich Blues, Jazz, Boogie, Honky-Tonk, Swing, Folk und alles andere, was bei Dylan stets zusammenfließt und immer gleichermaßen aktuell und zeitgemäß bleibt. "We live and we die, we know not why / But I'll be with you when the deal goes down", bemerkt Bob trocken im stoisch vorwärts schleichenden "When The Deal Goes Down". Ein Hoch auf die Vergeblichkeit. Ein Hoch auf Bob Dylan. (9) Jan Wigger

Charlotte Gainsbourg: "5.55"
(8. September, Warner)

Zwei Dinge fallen sofort auf: Der ätherische Sound dieser Platte und das fast körperlose Hauchen, das dann wohl Charlotte Gainsbourgs Stimme sein muss. Um "5.55" kreisen einerseits langweilige, andererseits wissenswerte Informationen: Charlotte ist immer noch die Tochter von Jane Birkin und Serge Gainsbourg (langweilig) und Air, Jarvis Cocker (Pulp) und Neil Hannon (The Divine Comedy) haben die elf Stücke gemeinsam mit der Gainsbourg geschrieben und eingespielt (interessant). Folglich erinnert "5.55" stark an Airs Konsens-Album "Moon Safari" und klingt so samtig und flauschig, wie eine Platte nur klingen kann. Welches Ambiente wohl Stücken wie "AF607105" oder "Everything I Can Not See" angemessen wäre ? Mir fällt im Grunde nur ein Ort ein, wo Lieder von solch eigentümlicher Feierlichkeit Tag und Nacht laufen könnten: In den verwinkelten Gängen des gespenstisch schönen Hotels aus Alain Resnais’ Kunstfilm "Letztes Jahr in Marienbad". (7) Jan Wigger

The Black Keys – "Magic Potion"
(V2)

In einer Zeit, in der eine Band wie Wolfmother wieder über weiße Einhörner singt, dürfen die Black Keys ihre aktuelle LP ruhigen Gewissens "Magic Potion" (Zaubertrank) nennen. Noch staubiger, noch schmuckloser, vor allem aber noch schwärzer als auf "Rubber Factory" spielen euch die zwei Bleichgesichter Dan Auerbach (Gesang, Gitarre) und Patrick Carney (Teufelstrommel) auf "Magic Potion" den Urban Blues. Wie cool muss man eigentlich sein, um die Musik der Black Keys hören zu dürfen? Für alle, deren musikalische Zeitrechnung nach Jimi Hendrix, Cream und James Brown aufgehört hat, ist "Magic Potion" eine sichere Bank. Der Rest darf sich zumindest fragen, um wieviel gefährlicher wohl die White Stripes mit Patrick Carney statt mit Meg White am Schlagzeug klingen würden. Endstation: Höllenschlund. (7) Jan Wigger

The Long Winters – "Putting The Days To Bed"
(8. September, Munich Records)

Wie etwa Neutral Milk Hotel oder Beulah gehören auch die Long Winters zu jener Sorte Gitarrenband, die zwar von Kritikern geschätzt und Musikerkollegen (hier: Built To Spill, Nada Surf etc.) bewundert wird, sich aber irgendwann auflösen muss, weil das durch Plattenverkäufe und Auftritte in kleineren oder größeren Klitschen hart erwirtschaftete Einkommen nicht mehr reicht, die Miete zu bezahlen. Dabei vereinen die Long Winters auch auf "Putting The Days To Bed" wieder den Sound der frühen R.E.M und der späten Buffalo Tom und erzählen von der besorgten Mutter, die die treuherzige Tochter in "Honest" warnt, sich in den Sänger einer Rockband zu verlieben: "Honest, it’s alright to be a singer / But don’t you love a singer, whatever you do." Die Hitdichte ist nicht ganz so groß wie noch auf "When I Pretend To Fall" (2003), doch die Sorgfalt und Innigkeit, mit der The Long Winters musizieren, beeindruckt auch dieses Mal. (7) Jan Wigger


Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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