Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche

Rost sucht man vergeblich in den Chrom-Träumen Neil Youngs. Dem alten Kanadier verzeiht man sogar Kinderchöre, meint Andreas Borcholte und lobt Vanessa Paradis für ihr Comeback. Jan Wigger ärgert sich über Mando Diao und Rilo Kiley.

Neil Young – "Chrome Dreams II"
(Reprise/Warner, bereits erschienen)

Es gibt nicht viele Künstler, die mit so etwas ungeschoren davonkommen. Springsteen vielleicht, und natürlich Neil Young. Im letzten Song von "Chrome Dreams II" singen wahrhaftig Kinder mit dem alten Bärbeiß. Ein Kinderchor! Jedem anderen würde man den Verstand absprechen. Aber "The Way", so der Titel dieses süßlichen, spirituellen Singsangs mit Vader-Abraham-Charme, klingt gar nicht komisch, gar nicht geschmacklos und durch und durch echt. Es ist eines von drei bis vier Highlights auf dieser Platte, deren Titel ein Insider-Witz ist. "Chrome Dreams" gibt es nämlich nicht, oder besser: Hat es nie gegeben, weil die Masterbänder dieses unveröffentlichten Albums Ende der Siebziger bei einem Brand vernichtet wurden, nachdem Young selbst sie jahrelang auf Halde gelegt hatte. Gerüchten zufolge wären frühe, fragile Versionen von späteren Großtaten wie "Powderfinger" oder "Like A Hurricane" darauf zu finden, also muss man "Chrome Dreams II" wohl als Hommage an die Siebziger verstehen, als sich Young noch als linker Hippie verstand, nicht als Reagan-Anhänger. History Repeating - nur umgekehrt. Denn nach dem 11. September gab sich der Kanadier als strammer Patriot ("Let's Roll"), nur um sich kurz darauf mit dem Album "Living With War" für seine Pro-Bush-Rhetorik zu entschuldigen ("Let's Impeach The President").

Jetzt also weniger Politik, mehr Seelensuche. Dazu passt vor allem das zentrale Stück des Albums, "Ordinary People", ein 18-minütiges Ungetüm, das mit viel weißem Rauschen und jeder Menge Feedback dahinrattert und ein sozialromantisches Panorama des ewigen Sehnsuchts-Konflikts zwischen den einfachen, hart arbeitenden und den stinkend reichen Amerikanern malt. Im viertelstündigen "No Hidden Path" zeigt sich, dass Young, wenige Tage vor seinem 62. Geburtstag immer noch ein Suchender ist, ob nun nach dem richtigen, erleuchteten Weg durchs Leben, die "Spirit Road", oder den Highway zur Hölle für den "Dirty Old Man", für den er sich riffend und rockend immer noch hält. Neil Young ist der einzige, der Country, Folk und brachiale Noise-Gewitter so nonchalant zusammendröselt, dass man gar nicht mehr darüber nachdenkt, ob das eine zum anderen passt. Keine Spur von Rost. (8) Andreas Borcholte

Mando Diao – "Never Seen The Light Of Day"
(EMI, 26. Oktober)

Die Mando-Diao-Dengelmaschine bitte wieder anwerfen, denn die "mitreißenden Schwedenhappen" (Zitat einer langsam durchdrehenden Hausfrau beim Mando-Diao-Konzert, dritte Reihe) sind zurück. Aber warum so schnell? Schlappe 14 Monate ist "Ode To Ochrasy" alt, ebenso die dazugehörigen Rezensionen, die glühend suggerierten, es handele sich bei dem zwar eher biederen, aber grundsätzlich in Ordnung gehenden Schraddel-Rock der "fünf schwedischen Wonneproppen" ("taz") um eine Sensation. "Never Seen The Light Of Day" bietet nicht nur wie üblich "was fürs Auge" (Fanclub-Mitglied bei der Autogrammstunde im örtlichen "Media Markt"), sondern auch eine TexMex-Gitarre ("Mexican Hardcore"), achtminütige Cherub-Gesänge ("Dalarna"), die obligate Oasis-Ballade ("Not A Perfect Day") und die üblichen Füller ("Macadam Cowboy"). Auffallend bleibt auch diesmal, dass die "sympathischen Wuschelrocker" (ZDF-Morgenmagazin "Volle Kanne") es nicht einmal im Ansatz schaffen, die eigenen alten Kamellen noch einmal aufzuwärmen, ohne dass man es augenblicklich merkt: "If I Don't Live Today, Then I Might Not Be Here Tomorrow" hieß auf "Hurricane Bar" noch "If I Leave You". Was soll man sagen? "Glückwunsch, Jungs!" (Stefan Gwildis). (5) Jan Wigger

Vanessa Paradis - "Divinidylle"
(Barclay/Universal, 26. Oktober)

Jaja, "Joe le Taxi" und kurze Röcke, klar. Dass Vanessa Paradis ihr Lolita-Image spätestens mit dem Album "Bliss" abgelegt hat, auf dem sie erstmals selbstkomponierte - und geschriebene Lieder sang, diese Tatsache wird hierzulande wohl nie richtig ins öffentliche Bewusstsein vordringen. In Frankreich ist La Paradis natürlich eine Nationalikone, die wie ein kostbares Juwel gehütet wird. Selbst Aktionen wie ihr Mitwirken am kruden Untergrund-Kinohit "Atomik Circus" werden gefeiert wie eine Offenbarung, weil ihre Lebenszeichen rar gesät sind. Nun also ein neues Album nach sieben Jahren Stille, die Vanessa Paradis, seit Ende der Neunziger mit Johnny Depp liiert, im trauten Kreise der Familie verbrachte (Depp malte übrigens das Cover-Porträt seiner Gattin). Die neuen Songs entstanden gemeinsam mit dem wiederum nur in Frankreich berühmten Rock-Musiker Matthieu Chedid alias "M", der dem Album einerseits einen sehr modernen, andererseits einen charmant nostalgischen Sound kultiviert, der das Retro-Image von Vanessa Paradis zitiert und gleichzeitig zu etwas Neuem transformiert. Ihre immer noch betörende Stimme gleitet über diese luxuriösen und reichhaltigen Arrangements ganz leicht und luftig dahin. Beim Sixties-Händeklatschen vom Titelstück "Divine Idylle" denkt man kurz an die seelenvolle Liaison zwischen der kindlichen Paradis und dem kerligen Kravitz von 1992 ("Be My Baby"), doch auch das ist nur ein flüchtige Hommage. Mit 34 ist Vanessa Paradis lebensklug genug, um mit ihrem zuckerspüßen Image zu spielen und dabei trotzdem reif und erwachsen zu wirken. Vielleicht ist das ein gewisses Etwas französischer Sängerinnen. Es gibt auf "Divinidylle" Zartes, Zerbechliches wie "Jackadi" und "L'Incendie", den verführerischen Clubsound von "Dès Que J'te Vois" sowie die süße Melancholie von "Chet Baker" und den strammen Reggae-Beat von "La Mélodie". Kurz gesagt: "Divinidylle" ist das mit Abstand beste Popalbum, das dieses Jahr aus Frankreich zu uns kam. Eine Göttin ist Vanessa Paradis vielleicht noch nicht, aber eine gute Fee allemal. (7) Andreas Borcholte

Troy von Balthazar – "Troy von Balthazar"
(Sinnbus/Alive, 26.10)

Gegen die Wand: Chokebore waren und sind eine der zehn unerbittlichsten und großartigsten Gitarren-Bands (nicht nur) der ausgehenden neunziger Jahre, und Troy von Balthazar ihr seltsam stolzer, desolater Sänger. Zuletzt kündigte der Hawaiianer seinen festen Wohnsitz und zog mit seinem Laptop als moderner Hobo durch die Welt, jetzt gibt es eine Solo-Platte mit 16 tristen Liedern im Stile alter Chokebore-Depri-Keulen wie "Every Move A Picture" oder "Days Of Nothing". Kein Party-Album, eher ein kraftloser Tanz auf der Rasierklinge: Man achte darauf, wie Troy in "Took Some $$" die Worte "One day I'll make money like a real man" singt. Noch auf Chokebores "It's A Miracle" (2002) wurden von Balthazars Schauergeschichten durch die schiere Wucht von Gitarre, Bass und Schlagzeug abgefedert. Nun kommt jede Rettung zu spät: Troy von Balthazar könnte deinen Tag ruinieren. (6) Jan Wigger

Rilo Kiley – "Under The Blacklight"
(Warner, 26. Oktober)

Weil es sonst sowieso keiner macht, dürfen ja vielleicht wir einmal still daran erinnern: Fast auf den Tag genau vor vier Jahren fand man den herausragenden amerikanischen Songschreiber Elliott Smith tot in seiner Wohnung. Nun laufen immer wieder seine Alben "XO" und "Either/Or" im fahlen Schein der Kerze, und Rilo Kileys allzu flamboyanter neuer Track "Dejalo" fühlt sich an, als würde man jäh dazu gezwungen, im Joy-Division-T-Shirt ein Shakira-Konzert besuchen. Rilo Kiley, die auf "Under The Blacklight" statt halbverzerrtem Country-Folk urplötzlich den Westcoast-AOR-Koks-Pop spielen, werden gerade als "die neuen Fleetwood Mac" gefeiert. Sprich: Sie müssten drei Meisterwerke hintereinander aufnehmen, wie Fleetwood Mac zwischen 1975 und 1979. Aber auch davon abgesehen bleibt die Neuerfindung Rilo Kileys ein zwiespältiges Vergnügen: Die gemeinsam mit "Silver Lining" und "Breakin' Up" besten neuen Songs sind genau die zwei, die noch nach früheren Rilo Kiley klingen ("Under The Blacklight", "The Angels Hung Around"), "15" und "Smoke Detector" sind schwach komponiert und "The Moneymaker" hart an der Geschmacksgrenze. Never going back again. (5) Jan Wigger


Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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