Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche
Lily Allen - "It's Not Me, It's You"
(Parlophone/EMI, 6. Februar)
"The Fear" heißt die erste Single vom neuen Lily-Allen-Album, und Angst musste man vor dieser Platte durchaus haben. Wohl die wenigsten hätten damit gerechnet, dass das sogenannte MySpace-Phänomen aus London eine zweite Platte aufnehmen würde, die dem Hype um die erste ("Alright, Still", 2006) standhalten würde. Nun, "It's Not Me, It's You" sagt schon im Titel alles über diese Haltung, denn wir sind es, die zynischen, abgeklärten Medienmenschen, die schon so an kurzfristig aufstrebende und abstürzende Superstar-Sternchen gewöhnt sind, dass wir dauerhaftes Engagement und echtes Talent schon gar nicht mehr für möglich halten. Lily Allen jedoch beweist mit mehr als einer Handvoll gelungener Popsongs, dass es ein Leben nach der ersten Erregungskurve gibt. Stilistisch vielfältiger und textlich aggressiver startet Lily Allen, gestählt durch Paparazzi-Attacken und ein selbst gewähltes Leben in der Öffentlichkeit sozialer Netzwerke in eine neue Karrierephase.
Noch immer dreht sich der Löwenanteil der Songs um die Liebesleiden einer jungen Großstädterin, aber der Tonfall ist schärfer, wenn sich Allen in "Not Fair" über die verfrühte Ejakulation ihres Bettgenossen beschwert, lakonisch über unverbesserliche Kerle lästert ("Never Gonna Happen") oder einfach mal keine Party machen, sondern nur einen schönen, langweiligen Abend mit Take-out-Futter vor dem Fernseher verbringen will ("Chinese"). In "22" geht es ums Älterwerden, "Everyone's At It" beschäftigt sich mit der allgegenwärtigen Drogen- und Alkoholsucht ihrer Altersgenossen, "The Fear" geißelt den Konsumterror - und im wunderbar dahingeflöteten "Fuck You" rechnet Allen auch noch mit dumpfbackigen Rassisten ab. Nachdem sie zeitweise ähnlich abzustürzen drohte wie Kollegin Amy Winehouse und ihre Frühstücksgewohnheiten und Gewichtsprobleme auf MySpace diskutierte, hätte man mit so viel selbstbewusster Lockerheit und beeindruckender Souveränität nicht mehr gerechnet. Mit "It's Not Me, It's You" streckt uns Lily Allen frech die Zunge raus - und kann sich darüber freuen, den ersten Pop-Standard des neuen Jahres gesetzt zu haben. (8) Andreas Borcholte
Klez.e "Vom Feuer der Gaben"
(Loob Musik/Universal, 30, Januar)
Auf dem letzten, grandiosen Album "Flimmern" deuteten Klez.e es schon an, nun ist es vollbracht: Die seit jeher mehrdeutig operierende Band aus Berlin hat ihre schmerzhaft leidenschaftliche Musik in andere Kontexte überführt: Jedes der zwölf neuen Lieder wird im Booklet von verschiedenen Künstlern mit einem Bild kommentiert, die CD erscheint im luxuriösen, silbergeprägten Buchformat. Das mehr oder weniger wie ein konventioneller Rocksong beginnende "Madonna" wird bald hymnisch, bald zerrissen und lässt noch einmal die gefallenen Engel aus dem alten Eels-Stück "Flower" vorsingen. Das Lied "Der Garten" hat Sänger Tobias Siebert so eingängig gestaltet, wie es sich ein Mensch, der sich der Kunst verpflichtet fühlt, gerade noch leisten kann, und "Im Raum mit Toten" beweist er letztgültig, dass auch er das berühmte M.-Night-Shyamalan-T-Shirt mit dem Schriftzug "I see dead people" trägt: "Ich kann nichts berühren/ Ist das die Strafe vom anderen Leben/ Mich hier zu fixieren an der Wand." Ja, verdammt, es ist Studentenmusik. Aber eben besonders gute. (7) Jan Wigger
Cannibal Corpse "Evisceration Plague"
(Metal Blade/SPV, 30. Januar)
Als wir noch in der Oberstufe waren, kauften wir uns die Cannibal-Corpse-LPs "Eaten Back To Life" und "Butchered At Birth" nur der geschmackvollen Plattencover wegen: Von Gott und der Welt verlassene Zombies, die sich selbst die Eingeweide rausreißen und tote Babys an Fleischerhaken das war unsere Welt. Cannibal Corpse, deren Alben wir damals noch nicht hinter Can einordnen konnten, hatten auch die schönsten Songtitel im Death Metal: "Hammer Smashed Face", "Entrails Ripped From A Virgin's Cunt", "Mummified In Barbed Wire", "Stripped, Raped And Strangled", "Fucked With A Knife" und "I Cum Blood".
An comichaft übersteigerten Berichten über Massenmörder, gekochte Hirnteile und Ausweidungen sind die Amerikaner bis heute interessiert geblieben: "Evisceration Plague" heißt die neue LP, die Hochgeschwindiges und Brutales ("Beheading And Burning"), aber auch Dampfwalzenhaftes ("A Cauldron Of Hate") trefflich zusammenfasst. Der stiernackige George "Corpsegrinder" Fisher - auch bekannt als Mann ohne Hals - "singt" so, wie Corpse-Anhänger es gewohnt sind, und wer noch immer nicht glaubt, was für ein unfassbar guter Schlagzeuger Paul Mazurkiewicz ist, sollte sich drei Stunden Zeit für die Cannibal-Corpse-Dokumentation "Centuries Of Torment" nehmen. Kill! (6) Jan Wigger
Neal Casal - "Roots & Wings"
(Fargo/Rough Trade, 30. Januar)
Neal Casal hat es nicht leicht im Leben. Seit er sich entschieden hat, Chef der Cardinals zu werden und damit so etwas wie der Babysitter für Songwriter-Wunderkind Ryan Adams, gerät die eigene Karriere des Sängers und Gitarristen zunehmend ins Hintertreffen. Zwischen den Aufnahmen für das Cardinals-Album "Cardinology" und der zugehörigen Adams-Tour fand er trotzdem mal wieder Zeit für ein paar eigene Aufnahmen, die jetzt als "Roots & Wings" veröffentlicht werden. Alternative-Country-Perlen wie "On The Mend" von Casals bester LP "The Sun Rises Here" (1998) sind zwar nicht dabei, dennoch beweisen Songs wie "Back To Haunt You" oder "Traveling Lighter" erneut, dass Neal Casal zu Recht mit Westcoast-Ikonen wie Jackson Browne verglichen wird. Der Tonfall seiner Lieder ist unaufdringlich und sanft, und trotzdem bleiben sie hängen, die kleinen, lakonischen Geschichten vom Leben mit der Sehnsucht am Rande des "Superhighway". Casal mag ein ewiger "zweiter Mann" sein, aber in seinen besten Momenten kann der ruhige Neal dem rastlosen Ryan allemal das Wasser reichen. (6) Andreas Borcholte
Andrew Bird "Noble Beast"
(Bella Union/Cooperative Music/Universal, 6. Februar)
Fast jedes Jahr veröffentlicht der Sänger, Geiger, Pfeifkünstler und sogenannte "Multi-Instrumentalist" Andrew Bird aus Chicago, Illinois eine neue Platte. Fast jedes Jahr sind Musikkritiker sowie Freunde der Zartheit und des Surrealen begeistert, doch zumindest in Deutschland liegt Birds Bekanntheitsgrad kaum über jenem von Ron Sexsmith, Josh Rouse oder Ed Harcourt. Auch die spektakulären Charakteristika von Antony Hegarty oder Rufus Wainwright fehlen dem auch in ungarischer Zigeunermusik und obskurem Jazz bewanderten Songschreiber. Dafür webt Andrew Bird eine knappe Stunde lang Arrangements wie feine Spinnennetze und singt im wunderbaren Einstieg "Oh No" wahrscheinlich doch von der Liebe: "Oh arm in arm we are the harmless sociopaths/ Arm in arm with all the harmless sociopaths/ In the calcium mines buried deep in our chests/ You're deep in a mine/ A calcium mine." Am besten mit "The Swimming Hour" (2001) und "The Mysterious Production Of Eggs" (2005) einsteigen. Oder endlich mal eine Platte von Michael Penn kaufen. (7) Jan Wigger
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)