Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche

Es kann nur eine neue Pop-Queen geben: La Roux oder Little Boots? Andreas Borcholte und Jan Wigger sind sich eigentlich einig. Aber lesen Sie selbst! Außerdem bei Abgehört: Neue Platten von The Mars Volta, Coming Soon und Courtney Tidwell.

La Roux - "La Roux"
(Polydor/Universal, 26. Juni)

Toll orchestriert haben das die Marketing-Abteilungen der Plattenfirmen Warner und Universal: Natürlich erscheinen die Debütalben von Little Boots (siehe unten) und La Roux am selben Tag, damit auch der stumpfeste Konsument schnallt, dass es sich hier um einen hübsch angeheizten Konkurrenzkampf zwischen zwei jungen Pop-Hoffnungen handelt - der beileibe keiner ist. In Wahrheit ist es wohl einfach Zufall, dass sowohl Victoria Hesketh (alias Little Boots) als auch Elly Jackson (alias La Roux) mit Musik debütieren, die dem Synthie-Pop der Achtziger huldigt. Andererseits ist alles, was Achtziger ist, nun schon so lange Trend, dass es eigentlich nur eine Frage der Zeit war, wann der kühle Klang von Yazoo, Blancmange oder Visage ein Comeback erleben würde. Und noch einmal weitergedacht, mussten den niedlichen Retro-Soul-Gören Duffy, Adele und Konsorten dringend frischere, frechere, radikale Pop-Persönlichkeiten folgen.

Die Keimzelle für La Rouxs über weite Strecken gelungenes Album ist ganz eindeutig das nun schon zwei Jahre alte, bahnbrechende Album der schwedischen Sängerin Robyn. Leider muss man dem Dutzend Songs von La Roux bescheinigen, dass sie nicht oft an Robyns puren, radikalen Elektropop-Sound heranreichen, auch wenn Singles wie "Quicksand", "Bulletproof" oder "In For The Kill" Spaß machen und alsbald jeden beliebigen Tanzboden rocken werden. Musikalisch mag also nicht alles so hell scheinen, wie es könnte, aber am Ende überzeugt Jackson (die das Projekt gemeinsam mit ihrem zumeist unsichtbaren Partner Ben Langmaid bestreitet) doch noch, und zwar vor allem durch ihre reizvollen Widersprüche: die gleichzeitig trotzigen und melancholischen Texte, ihren leicht entrückten, aber doch unmittelbaren Gesang. Und durch ihr kindlich staunendes Gesicht, das so gar nicht zur selbstbewussten Feuertolle passen will. Neben guter Musik braucht Pop Kunstfiguren, die auffallen und polarisieren. La Roux könnte, vielleicht als einzige der neuen jungen Elektronikerinnen, so eine Figur sein. Auch Madonnas Debütalbum, inzwischen 26 Jahre alt und ein Klassiker, den Elly Jackson wahrscheinlich oft gehört hat, wurde nicht nur wegen des naiven "Holiday"-Gehopses zum Hit, sondern wegen der starken Persönlichkeit, die da zum ersten Mal, noch etwas linkisch, ans Licht trat. (7) Andreas Borcholte

The Mars Volta - "Octahedron"
(Mercury/Universal, bereits erschienen)

Wenn wir Sie jetzt ganz kurz zur Seite nähmen und ihnen erzählten, dass die Rockgruppe The Mars Volta nach all der Zeit mal wieder ein Album aufgenommen hat, das man sich anhören kann, ohne nach den ersten 20 Minuten (also nach ca. ein bis zwei Songs) den Begriff "Arbeit" im Kopf zu haben - würden Sie uns glauben? "Octahedron" ist die denkbar unanstrengendste Musik, die dieses aus der goldenen Asche von At The Drive-In aufgestiegene Komitee für Kopfweh-Prog uns schenken konnte. Das bei Livekonzerten gern als Folterinstrument genutzte längliche Gitarrensolo stört nur noch im abschließenden "Luciforms" die Ruhe, alle acht Tracks wurden ausformuliert, und gerade die für Ekstatiker, Emerson, Lake & Palmer-Enthusiasten und Schwanzlängenvergleicher vermutlich langweiligsten "Octahedron"-Momente sind ganz wunderbar: Der eindrucksvolle Harmoniegesang auf "Copernicus" und das mild-elegische "Since We've Been Wrong". Auch schön: Die Rush-Hommage "Cotopaxi". Doch welche Platte legen wir jetzt auf? "Close To The Edge" von Yes natürlich. (7) Jan Wigger

Little Boots - "Hands"
(679 Recordings/Warner, 26. Juni)

Bei ausgesuchten Tracks von Robyn, Annie oder Ada hatte man immer das Gefühl, diese Art von Pop sei jetzt aber doch zu schlau, zu lebendig und zu gut, als dass Werber oder Autovermieter dafür ihr 13. Monatsgehalt anrühren würden. So kam es dann ja auch, und hoffentlich wird sich Lily Allen auch in Zukunft noch zu schade sein, um bei Olli Geissens dauerbesoffener Chartshow aufzutreten. Aber zum Thema: "Hands" ist genau die Sorte Album, bei der man sich in spätestens drei Jahren fragt, warum man es damals eigentlich gekauft hat. War eine Frau im Spiel, oder wurde man von den durchaus amüsanten Instant-Hits "New In Town" und "Remedy" überrumpelt?

Alles auf "Hands" ist Plastik und will nicht mehr als Plastik sein: Schmerzhaft offensichtliche Refrains, die die Auffassungsgabe eines Fünfjährigen beleidigen würden, abgeschmackte Eighties-Faksimiles wie "Symmetry" (für das sich leider Human-League-Sänger Phil Oakey hergegeben hat) und sturzblöde Texte, die spielend an der von Toto fest installierten "Fire-desire"-Markierung kratzen. Ein ungerechter Hype, der nicht nur wie gewohnt an der Zurechnungsfähigkeit des "NME" zweifeln, sondern auch genau acht Buchstaben auf der Zunge tanzen lässt: Andrew WK. (4) Jan Wigger

Coming Soon - "New Grids"
(Discograph/Alive!, 26. Juni)

Also gut, womit fangen wir an? Vielleicht damit, dass die vielförmige Musik von Coming Soon in keinster Weise so klingt, als könne sie aus Frankreich kommen (was sie aber tut). Oder damit, dass sich das sonderbare Septett auf dem Cover von "New Grids" als eine eher zufällige Ansammlung von Baumschülern geriert, die angenehm an Tim Skousens Nerd-Epos "The Sasquatch Dumpling Gang" erinnert. Bedenkt man, dass einer der Sänger Leo Bear Creek (und der andere Howard Hughes!) heißt, mit Kimya Dawson das tolle "Juno"-Lied "Vampire" eingesungen hat und erst fünfzehn Jahre alt ist, wundert einen hier gar nichts mehr: Weder die unverstellte Moldy-Peaches-Ehrerbietung "Jack Nicholson Style", noch das Black-Sabbath-Riffing in "Home From The Blues" und auch nicht die Herman's-Hermits-Augenblicke in "Broken Heart". Wer jetzt auch noch die Silver Jews und Tilly & The Wall mag und für "Big Boy" einen eigenen Quadrat-Tanz erfindet, der hat den Drops gelutscht. (7) Jan Wigger

Cortney Tidwell - "Boys"
(City Slang/Universal, 26. Juni)

Die Infoschreiben des Berliner Labels City Slang gehören traditionell und ohne Frage nicht zu den 95 Prozent, die man nach Erhalt augenblicklich in die Tonne für Sprachmüll, nassforsches Marktschreier-Deutsch oder komplette Ahnungslosigkeit werfen kann. Hier aber übetreibt die Plattenfirma, die uns The Notwist und Built To Spill brachte, dann doch einmal: Wenn Cortney Tidwells zweite LP "das Zeug hat, zum zeitlosen Klassiker zu werden", könnte es ganz schnell eng werden mit Superlativen, die das nach wie vor brillante Album-Debüt "Don't Let Stars Keep Us Tangled Up" betreffen. An das Mysterium und die körperlose Elizabeth-Fraser-Seligkeit der ersten Arbeit schließt "Boys" nämlich nur noch in Teilen an: Im leicht bedrohlichen "Oh, China", in "Bad News" und im sanften Echo von "Oslo". "Watusii" und "Son & Moon" dagegen sind nach Alben wie "Kid A" bzw. "Vespertine" nicht mehr sonderlich aufregend. Trotzdem gutes Album, das man am besten zur blauen Stunde auflegt. (6) Jan Wigger


Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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