Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche

Ölige Kurzvorträge mal außen vor gelassen: Heinz Rudolf Kunze zeigt sich auf seinem neuen Album mal wieder als Chefcroupier der Wortspielhölle, meint Jan Wigger und versucht vergeblich, auf der B-Seiten-Kollektion von Morrissey das Ausschussmaterial zu finden.

Heinz Rudolf Kunze - "Räuberzivil"
(Rakete/Alive, bereits erschienen)

Von Detlef D! Soost durften wir es letzte Woche bei "Popstars" aus erster Hand erfahren: Nicht U2, nicht Arcade Fire, auch nicht Bob Dylans Weihnachtsmänner sind die beste Band der Welt, sondern: The All American Rejects. Was machen eigentlich Alien Ant Farm? Heinz Rudolf Kunze (auf "Räuberzivil" auch als "Ferdinand Frauenversteher", "Manfred Männergruppenführer", "Anselm Anprangerer" und "Bernd Besänftiger" unterwegs) könnte ihnen in einer halben Stunde eine wissenschaftliche Abhandlung über das Sendeformat Castingshow liefern, doch er ist ja auf "Live & Unplugged"-Tournee und hat gerade keine Zeit. Zwischen alte, sehr alte ("Bestandsaufnahme"!) und sieben neue Stücke (darunter das hübsche "Alaska Avenue") mischt Heinz auf "Räuberzivil" mal geistvolle, mal etwas ölig-betuliche Kurzvorträge, die kommentieren, was ihn das Leben als Beobachter und designierter Chefcroupier der Wortspielhölle so lehrte. Im Alltag des gemeinen Comedians erkennt Kunze einen "circulus vitiosus" und die Ringstraße von Hamm, die ihn einmal an einem Sonntagmorgen arg deprimierte. Lieder und Essays fasst Kunze in einem dicken Textbuch zusammen, eine Zeile aus "So Sad About Us" von The Who hat er in die Polemik "Stammtisch (Erdkunde)" aufgenommen und wieder durchgestrichen. Dafür covert er "Won't Get Fooled Again" und "My Generation". Ein Wahnsinn, sich so früh schon zu erinnern. (6) Jan Wigger

Morrissey - "Swords"
(Polydor/Universal, bereits erschienen)

Mal eben durchgezählt: "The Never-Played Symphonies", "I Knew I Was Next", "Teenage Dad On His Estate", "Friday Mourning", "Because Of My Poor Education". Fünf formidable B-Seiten des Liebesterroristen auf einen Blick, für die jeder skandinavische Ersatz-Morrissey seinen linken Arm verkauft hätte. Es gab wirklich Menschen, die diese Songs als "Ausschussmaterial" bezeichnet haben? Go fuck yourself! Zudem enthält diese Sammlung jüngerer Morrissey-Flipsides auch das begnadete "Munich Air Disaster 1958", vielleicht der einzige Katastrophen-Song weltweit, der an das "New York Mining Disaster 1941" von "Bee Gees 1st" heranreicht: "I wish I'd gone down/ Gone down with them/ To where mother nature makes their bed." Doch Morrissey ist immer noch da und mit ihm das Martyrium, ein hellblaues Hemd zu tragen und sich langsam in Frank Sinatra zu verwandeln. Ob die Folter jemals endet? "Ganglord" soll wohl an "How Soon Is Now?" anschließen, ist aber nur blöde; von Bowies "Drive-In Saturday" gibt es eine Live-Version. Im Booklet: Morrissey im Wald und ein doppelseitiges Foto der stämmigen Begleitband. Sie sehen aus wie Blink-182. (7) Jan Wigger

Emily Jane White - "Victorian America"
(Talitres/Rough Trade, bereits erschienen)

Es stand nicht in der "Gala", aber in irgendeinem Interview merkte die schwermütige Songschreiberin Emily Jane White zuletzt an, dass sie dazu geboren sei, traurige Lieder zu singen - etwas anderes sei ihr schlicht nicht möglich. Ein prekärer, aber anziehender Charakter, der seine schwarzen Gedichte auf bis zu sieben Minuten streckt und wenig Hoffnung auf Besserung verspricht. "Victorian America" ist so gut wie das Debüt "Dark Undercoat", es evoziert erneut die frühe Cat Power ("Red Dress"), Alela Diane und Polly Jean Harvey an einem ihrer trostlosesten Tage. Hier und da weht die Pedal Steel vorbei, in "Red Serpent" grüßt eine Orgel aus der Nebelbank. Das letzte Stück "Ghost Of A Horse" versöhnt erst mit Streichern, endet dann aber ebenso elegisch wie der Rest von "Victorian America". Aber würden wir uns nicht beschweren, wenn White ihr nächstes Album mit der Memphis Rhythm Band einspielen würde? Gefrorene Herzen halten länger. (7) Jan Wigger

Piano Magic - "Ovations"
(Make Mine Music/Cargo, bereits erschienen)

Nach beinahe anderthalb Jahrzehnten im Verborgenen soll sich laut Plattenfirma alles ändern: "Piano Magic's 10th official album is indisputably the one to catapult them out of the 'cult' status they've endured (and enjoyed) since their formation in 1996." Gerade in den letzten zehn Jahren gelangen dem Londoner Kollektiv betörende LPs wie "Artists' Rifles" und "Part Monster", deren kathedralenhoher Ambient-Pop zwar immer wieder die Gothic-Szene streifte, aber viel zu sublim und raffiniert war, um an die schlimmeren Gestalten des Genres zu erinnern. Und noch während man beim eröffnenden "The Nightmare Goes On" überlegt, warum Piano Magic plötzlich klingen wie Dead Can Dance, eine Darabuka und später flamenco claps einbinden, realisiert man, dass ein Irrtum ausgeschlossen ist: Brendan Perry singt bei Piano Magic, allerdings nur auf zwei Stücken. Schon "Recovery Position" ist wieder einhundert Prozent Glen Johnson: "I've broken into France/ I've stolen into Spain/ I've been thrown out of Italy/ And I'll be thrown out again." Ein Gestaltwandler auf dem Weg zu sich selbst. (7) Jan Wigger

Big Star - "Keep An Eye On The Sky"
(Rhino/Warner, bereits erschienen)

Newsflash: Sie glauben gar nicht, wieviele Wilco-, Nada-Surf-, Ryan-Adams-, Teenage-Fanclub-, Posies-, R.E.M.- und Weezer-Hörer es gibt, die ihr Leben lang noch keinen einzigen Ton von Big Star genossen haben. Die noch keinen einzigen Tag mit "The Ballad Of El Goodo" (Country-Folk in strahlender Perfektion und in den "Abgehört"-Top-10 der größten Songs der Siebziger), "Thirteen" (in den "Abgehört"-Top-20 der besten Songs der Siebziger und Kunstbanausen vielleicht immerhin aus Ted Mosbys 2-Minuten-Date in "How I Met Your Mother" bekannt) oder "September Gurls" (in der Abgehört-Top-25 der größten Songs der Siebziger und Susanna-Hoffs-Fans vielleicht immerhin von den Bangles bekannt) verbracht haben. Die vermuten, "Big Black Car" sei eine Komposition der Gruppe Okkervil River. Für diese Musikfreunde gibt es nun das 4-CD-Big-Star-Box-Set "Keep An Eye On The Sky", das zumindest eine Ahnung von Pop-Brillanz ("#1 Record" & "Radio City") und totaler Zerschossenheit ("Third/Sister Lovers") der Band aus Memphis, Tennessee vermittelt. Aus "In The Street" sollten die ebenfalls famosen Cheap Trick in späteren Jahren gleich mehrere Stücke zusammenfügen, die genialen "Third"-Tracks "Thank You Friends" und "Jesus Christ", die Jeff Tweedy mehrmals täglich gehört haben muss, liegen in jeweils zwei Versionen vor. Dazu ein Konzert aus dem Lafayette's Music Room in Memphis und ein hundertseitiges Booklet. Feel them deep inside! (9) Jan Wigger

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