Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche
Massive Attack - "Heligoland"
(Virgin/EMI, 5. Februar)
Machen Sie mal die Augen zu und stellen sich vor, Sie stünden jetzt am Strand von Helgoland, draußen auf der Düne, wo die Seehunde liegen. Ja, genau: Jetzt, im Winter, bei Eis und Schnee, im schneidenden Wind. Wenn Sie dann durchgefroren bei einsetzender Dunkelheit das Boot zurück zur Insel nehmen, der Wärme entgegen, dann ist Massive Attacks fünftes Album der Soundtrack in ihren Ohren. Robert "3D" del Naja und Grant "Daddy G" Marshall haben sich nach dem leider überproduzierten "100th Window" sieben Jahre Zeit gelassen, um ein Nachfolge-Album aufzunehmen. Sollten die gern als TripHop-Urväter bezeichneten Briten jedoch einen gewissen Druck verspürt haben, so ist das auf "Heligoland" kaum spürbar. Natürlich macht sich ein gewisser Retro-Effekt bemerkbar, wenn sich elektronisches Zirpen und Blubbern erneut mit organischen Klängen und echten Instrumenten zum Markenzeichen-Sound vermischen: Zeitgemäß ist die Musik von Massive Attack nicht mehr zu nennen, aber zur großen Neudefinition treten sie auch nicht mehr an - been there, done that. Dennoch, und das ist vielleicht wirklich eine Neuerung, versucht "Heligoland" nicht, wie bei früheren Platten, eine homogene Musikfläche zu bilden, sondern lässt die einzelnen Songs eher für sich selbst stehen. So finden sich auf dem Album viele sehr unterschiedliche Höhepunkte, angefangen beim taumelnden Jazz des Openers "Pray For Rain" (mit TV On The Radios Tunde Adebimpe) über das orientalisch schmachtende "Girl I Love You" (mit Horace Andy) und den ersten annähernd akustischen Massive-Attack-Track "Saturday Come Slow" (mit Damon Albarn) bis hin zum grandios dekonstruierten Popsong "Paradise Circus" (mit Hope Sandoval). Nur Portishead können Trostlosigkeit hoffnungsvoller vertonen. (8) Andreas Borcholte
Yeasayer - "Odd Blood"
(Mute Records/Good to Go, 5. Februar)
Wer Yeasayers zweites Album "Odd Blood" unverzüglich mit Animal Collectives "Merriweather Post Pavilion", dem glitzerndsten Versprechen des letzten Jahres, vergleicht, erfasst nur ein Bruchteil der neuen Seltsamkeiten, die Anand Wilder, Ira Wolf Tuton und Chris Keating uns hier anzudrehen versuchen. Dabei greift das Pfauenhafte, die Gaukelei und Hexenkunst von "Odd Blood" zuallererst auf eine Zeit zurück, in der nicht alles besser, aber vieles einfacher war. Die wichtigsten Stichwörter zur Platte: Nik Kershaw. Pet Shop Boys. "Ooh To Be Ah". Howard Jones. "1999". Tribal Pop. Tears For Fears. Proto-Funk. Mr. Mister. Helmut Schmidt. Helmut Kohl. Von den schluffigen Neo-Hippie-Gesängen auf "All Hour Cymbal" ist wenig übriggeblieben, Yeasayer haben sich selbst in unmittelbare Nähe begehrenswerter Super-Hits teleportiert. "I Remember" ist die große, gewichtige Martin-L.-Gore-Ballade, "O.N.E" ein fünfeinhalbminütiger Thompson-Twins-Moment und "Mondegreen" ein überhektischer Sci-Fi-Jam der ungewöhnlichsten Sorte. "Odd Blood" zerfällt in zwei Hälften: Zuerst überlebensgroßer Pop ("Ambling Alp", "Love Me Girl"), dann kosmischer Freak-Out, der sich nichts und niemandem mehr verpflichtet fühlt. Und alles scheint möglich, alles nimmt Gestalt an durch die Kraft dieser feurigen Propheten aus Brooklyn. (8) Jan Wigger
Delphic - "Acolyte"
(Cooperative Music/Universal, bereits erschienen)
Von britischen Blättern zu den heißesten neuen Bands des Jahres erkoren und dann auch noch ständig mit New Order verglichen zu werden, ist eine zweischneidige Angelegenheit. Sagen wir mal so: Wäre das Trio um Peter Cook aus Manchester nicht tatsächlich ziemlich gut, wäre der Erfolg durch solche Hypotheken vielleicht schon durch Kritiker-Misstrauen und -Häme im Keim erstickt worden. Immer angenommen, der Pop-Kritiker an sich hat solche Macht noch, heutzutage. Der Jubel über "Acolyte", das Debüt-Album der Band, war jedenfalls schon groß, bevor die Platte nun auch in Deutschland veröffentlicht wurde. Vielleicht ist die Zeit ja auch wirklich reif für ein "Madchester"-Revival unter modernen Vorzeichen, denn Delphics sehr simples Rezept ist die relativ schamlose Kopie zwingender Pop-Melodien, die mit zeitgenössischen Tanz- und Elektro-Beats und -Rhythmen aufgepeppt werden. Von fröhlicher Melancholie getriebene Songs wie "Doubt", "Halcyon" oder das Titelstück, die besten Momente des Albums, klingen dadurch zeitweise tatsächlich wie aktuelle Remixe von New-Order-Klassikern wie "Brotherhood" oder "Low Life". Aber natürlich ist das in Ordnung, denn im Gegensatz zu anderen "Nu Rave"-Bands weiß Cook (nicht Hook!), wie man eine Melodie schreibt und wann man dem synthetischen Sturm eine handfeste Gitarre entgegensetzen muss, so dass am Ende brillanter Pop entsteht. Wer aber meint, auch zu den alten New-Order-Songs ganz ordentlich tanzen zu können, dem seien die Originale ans Herz gelegt. Oder das kürzlich veröffentlichte, vielfach unterschätzte Bad-Lieutenant-Album. (6) Andreas Borcholte
Pantha du Prince - "Black Noise"
(Rough Trade/Beggars/Indigo, 5. Februar)
Die höchsten Ehren, die Hendrik Weber alias Pantha du Prince in den letzten Wochen für "Black Noise" zuteil wurden, hätte er bereits für das vorige, noch beim geschmackssicheren Minimal-Label Dial erschienene Album "This Bliss", für das umwerfende "Saturn Strobe" und das klar komponierte, pechschwarze Cover-Design verdient gehabt. "Black Noise" ist heller, zuweilen sogar offener, wiewohl Weber während der Aufnahmen in den Schweizer Bergen in einem Haus residierte, "das neben einem Schuttberg stand, der nach einem Erdrutsch ein ganzes Dorf begraben hatte" (Aram Lintzel im brillant geschriebenen Infozettel, der Weber eine Verwandtschaft zu Noisepop und Durutti Column attestiert). Auf dem wundervollen "Stick To My Side" singt Panda Bear von Animal Collective so schön wie noch nie, Tyler Pope (!!!, LCD Soundsystem) spielt in "The Splendour" einen Bass, der sich nicht aufdrängt, die lieb gewonnenen Glöckchensounds weisen den Weg. Hendrik Weber spürt auf dieser Platte den Felsen und deren Rissen nach, er dringt durch alle Schichten, er herrscht mit seinen Farben über Meer und Länder. Gegen Ende löst das gemessene "Im Bann" alle Widersprüche, alle Misslichkeiten einfach auf. Denn Dunkelheit für immer gibt es nicht. (8) Jan Wigger
Fehlfarben - "Glücksmaschinen"
(Tapete/Indigo, 12. Februar)
Zu lachen gab es zuletzt genug: Der "taz"-Artikel über Mayhem, Oettingers Englischkurs für künftige Global Player, die US-Sitcom "Modern Family" und ein Hamburger Boulevard-Blatt, das einigermaßen verstört versuchte, über ein herkömmliches Tocotronic-Konzert zu berichten. Nur Peter Hein hat wieder mal genug von unserem Glück: "Man fragt sich doch, wo die Leute sind/ Dass man nie jemand trifft, hat man nicht vorgesimst/ Man wusste doch nie, ob man wirklich Freunde hat/ Erst der Freundezähler hat's an den Tag gebracht." Hein ist noch immer der Greis mit dem Krückstock, der Tauben vergiftet, der ärgerliche Hausverwalter, der sich über die Kippen im Garten beschwert, der Fortuna-Fan, der sich dann eben doch in Norbert Meier getäuscht hat, der Idealist aus Notwehr, der auf Facebook pfeift und, na klar: Der deutsche Mark E. Smith. "Glücksmaschinen" rauscht und rumpelt wie (fast) in besten Tagen, Heins letztes Röcheln ist immer wahrhaftig, immer amüsant, manchmal ungerecht, doch niemals peinlich. Oder, um den Kollegen Tino Hanekamp zu zitieren: "Keine Verbitterung! Nur Zorn und Erkennen und ein bisschen Fatalismus." Nach der angemessenen Anzahl von genau acht Stücken ist alles vorbei. "Eiscreme - Sonnenöl/ Leiden wird wieder schön." Als ein dümmlicher MTV-VJ vor einer Woche während eines unwürdigen Get-Well-Soon-Interviews erklären musste, was eine Vinyl-Schallplatte ist ("Das ist so was wie eine CD, nur ein bisschen größer."), war Peter Hein leider nicht im Raum. (7) Jan Wigger
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)