Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche
Arcade Fire - "The Suburbs"
(City Slang/Universal, 2. August)
Wir hassen Rhabarber, Behördengänge, Wartezimmer, Mark van Bommel und Serena van der Woodsen. Noch mehr aber hassen wir Menschen, die Arcade Fire hassen. Sollte es diese Leute wirklich geben, dann bereiten sie sich wohl gerade mental darauf vor, der Spider Murphy Gang und Status Quo auf ihrer kommenden Co-Headliner-Tour hinterherzureisen. Der Rest darf den Kanadiern bei der unmenschlichen Aufgabe zuhören, die unsterblichen Songs von "Neon Bible" zu übertreffen: "Intervention", "Keep The Car Running", "The Well And The Lighthouse", "No Cars Go", "Ocean Of Noise". Nun die Erinnerungsarbeit "The Suburbs", auf der Win Butler die Orte seiner Kindheit besucht, so wie im vollendeten Titelsong mit Neil-Young-Refrain, der einem jedes Mal die Knie zittern lässt: "I want a daughter while I'm still young/ I wanna hold her hand/ And show her some beauty/ Before this damage is done." Win Butler ist ein ernster Architekt des Schmerzes, und "Sprawl I (Flatland)" ist der vielleicht traurigste Song, den diese Hohepriester der Melancholie jemals verfasst haben: "Took a drive into the sprawl/ To find the places we used to play/ It was the loneliest day of my life." Die Black Heart Procession hat ähnlich finsteres Material zur Verfügung gestellt, doch die ruppige "Sheena Is A Punk Rocker"-Variante "Month Of May" wäre ihnen nicht in die Tüte gekommen. Das surreale, nur scheinbar simple "Rococo" mündet im flammenden "Empty Room", einem der wenigen direkten Anschlusspunkte an den Ikonoklasmus und die Ekstase von "Neon Bible". Doch der Pomp, die Unmittelbarkeit, der Taumel, die orchestrale Wucht und der religiöse Wahn sind größtenteils dahin: Wer nur wenig Zeit und Geduld hat, das Geheimnis von "The Suburbs" zu ergründen, wird die Platte schnell wieder weglegen und das umwerfende "The Suburban War" verpassen: "In the suburbs I/ I learned to drive/ And you told me we'd never survive/ So grab your mother's keys/ We leave tonight." Bis dahin leben Arcade Fire im Schatten ihrer eigenen Songs. Intuition takes them anywhere. (10) Jan Wigger
Prince - "20Ten"
(NPG Records, bereits erschienen)
"Compassion" heißt der erste Song auf dem 27. Album, und Mitleid ist ungefähr auch das, was man empfindet, wenn die Dreiviertelstunde von "20Ten" vorbei ist. Prince, einst als lüsternes, glamouröses Pendant zu Michael Jackson gefeiert, ein musikalisches Allround-Genie mit schier unerschöpflichem Output, hat es wohl neuerdings nötig, sich seinem mit ihm älter gewordenen Stammklientel mit einem matten Abklatsch seines aus Rock, Pop und Funk gespeistem Erfolgssound der Achtziger anzubiedern. Wohl nicht umsonst dominieren auf der aktuellen Tournee des Amerikaners die alten Hits. Es scheint, als befinde sich Prince in einer Phase der Regression, wünscht sich zurück in Zeiten, als er mit "Purple Rain", "Lovesexy" und "Around The World In A Day" als King of Pop der coolen Leute gefeiert wurde. Passt alles zusammen: In den Achtzigern gab es noch kein Internet und keine Smartphones, alles Dinge, die zur Verdummung der Menschen beitrügen, zürnte er kürzlich in einem Interview. Das neue Album, bis auf ein paar Background-Gesänge und Bläser komplett im Alleingang eingespielt, gibt es in Europa daher nur als Beileger zu einigen Zeitungen und Zeitschriften. In seiner Heimat darf Warner Bros. den Vertrieb übernehmen. Aber warum? Weil dort weniger Print-Publikationen gelesen werden? Alle im Internet? Damn! Klar, auch auf "20Ten" ist nicht alles öde: "Beginning Endlessly" verfügt ebenso wie "Lavaux" über jene Killer-Riffs und -Licks, die Prince zu einer Funk-Ikone gemacht haben. Balladen wie "Future Soul Song" bleiben jedoch weit hinter seinem Können zurück; im Sesamstraßen-Refrain von "Everybody Loves Me" wird die Prince-Show gar endgültig zur Farce. Schade eigentlich, denn der Mann aus Minneapolis war ja schon mal weiter, begab sich mit "Rainbow Children" und "Musicology" mutig aufs Jazz-Terrain. Und selbst die 2009 in Eigenregie übers - ha! - Internet verbreiteten Alben "LotusFlow3r" und "MPLSound" mit ihren ausufernden Jimi-Hendrix-Meditationen waren zwar retro, aber dennoch eine Weiterentwicklung. "20Ten" wirkt nun endgültig wie ein hastig aus dem umfangreichen B-Seiten-Archiv zusammengestellter Flohmarkt: Man findet ein paar Sachen, die man früher mal mochte, wird kurz nostalgisch, überlegt ein bisschen. Und dann lässt man ihn doch lieber liegen. Den alten Kram. (5) Andreas Borcholte
Hafdis Huld - "Synchronised Swimmers"
(Strange Ways/Indigo, bereits erschienen)
Der britische Comedian Phill Jupitus sagte, nachdem Hafdis Huld bei ihm in der Show war, er habe noch nie eine durchgeknalltere Person zu Gast gehabt. Sie selbst sang vor vier Jahren auf ihrem Debüt-Album "Dirty Paper Cup" zuckersüß von ihrer "Fucked Up Mind". Man soll sich also nicht von der niedlichen Häkel-Umrandung und dem harmlos-unschuldigen Blondchen auf dem Cover ihrer neuen Platte "Synchronised Swimmers" täuschen lassen: Die Isländerin, die als Teenager bereits mit der Elektro-Gruppe Gus Gus durch die Lande tourte, hat es faustdick hinter den Ohren, mag sie auch noch so entrückt mit ihrer Elfenstimme herumflöten. Als Einflüsse gibt Hafdis Huld Burt Bacharach und Dolly Parton an; ihr mit vielen kleinen Instrumenten wie Ukulele und Xylophon instrumentierter Melancholie-Pop hat aber mindestens ebenso viel von sarkastischeren Vorbildern wie Aimee Mann geerbt. In ihren neuen Liedern singt sie unter anderem von einem Gänseblümchen, das die Sonne nicht wert ist, die auf sie scheint ("Daisy") und träumt von einem mechanischen Freund, mit dem sie Enten am Teich füttern gehen kann ("Robot Robot") - im Gegensatz zum "Action Man", ohne den sie gut auskommen kann. Nichts auf diesem fast schon unerträglich luftigen Album tut wirklich weh, aber fast alles trifft ins Herz. Das beschwingte "Könguló" (isländisch für "Spinne") widmete sie dem französischen Klettermax Alain Robert. Noch so ein Durchgeknallter. Man möchte mit Hafdis Huld barfuß über eine Wiese rennen und einen Drachen steigen lassen. (6) Andreas Borcholte
Blind Guardian - "At The Edge Of Time"
(Nuclear Blast/Warner, 30. Juli)
Sicher, man könnte jetzt schreiben, dass es Neues an der Klampfenfront gibt, dass Fellgerber Frederik Ehmke die Schlagwerker-Legende Thomen "The Omen" Stauch endgültig ins Nirwana prügelt und die neue Scheiblette des Krefeld-Vierers sich wieder mal oberamtlich in die Gehörgänge schraubt. Aber muss das wirklich sein? Über die leicht bekloppte Blind-Guardian-Welt aus Zwergen, Gnomen, Elfen und anderen Mittelerde-Bewohnern muss man hinwegsehen: Wir alle haben "Das schwarze Auge" gespielt, Stephan Grundy gelesen und das "Follow The Blind"-Cover im Kunstunterricht als zweifelhafte Inspiration genutzt. Das fesselnde "Traveler In Time" von "Tales From The Twilight World" war der perfekte Song (vor 20 Jahren), schon nach drei Alben hatten der Hansi und die anderen alles gesagt und hätten glücklich abtreten können. Es folgte der auf den Original-"More Than Words"-Barhockern eingespielte "Bard's Song", "Time What Is Time" "The Script For My Requiem", "Mirror Mirror" und bald darauf das Opus Magnum "A Night At The Opera": Sänger Hansi Kürsch wollte Freddie Mercury sein, doch die Kuttenträger konnten zu dem ambitiösen Bombastrock nicht mehr bangen. "At The Edge Of Time" macht nun alle Drohungen wahr: Prager Symphonieorchester, 180-köpfiger Kirchenchor, Irish Folk, Oriental Metal, Zwerge, Gnome, Elfen. Dazu ein "Lord Of The Rings"-Nachhall ("War Of The Thrones"), den klassischen, hochmelodischen Guardian-Brecher ("A Voice In The Dark"), der Rückgriff auf Speed-und-Thrash-Wurzeln ("Tanelorn (Into The Void)") und die übergeschnappte High-End-Hymne ("Wheel Of Time"). Lieber "Metal Hammer": Natürlich ist das Kitsch. Aber auch ein Teil unseres Lebens. (6) Jan Wigger