Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche

Kanye West ist kindisch, selbstverliebt, großmäulig und hält sich für den neuen King of Pop. Zu Recht, meint Andreas Borcholte, nachdem er Wests bombastisches neues Album "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" gehört hat. Jan Wigger rupft die "fremden Federn" von Element of Crime.

Kanye West - "My Beautiful Dark Twisted Fantasy"
(Def Jam/Universal, bereits erschienen)

"I guess every superhero needs his theme music", rappt Kanye West in seiner neuen Single "Power". Wenn man West also als Superhelden der R&B-Szene betrachtet, nennen wir ihn mal "Ego-Man", dann ist sein neues Album der zugehörige Blockbuster, ein millionenschwerer Actionkracher, vollgestopft mit Stars in kleinen und großen Nebenrollen, die alle dazu beitragen, dass der eine, der große Star noch heller strahlt. Lustigerweise hat Kanye West tatsächlich einen Film zu seiner neuen Platte gedreht - ein 35 Minuten langes, bombastisches, elegisches Monstrum von Videoclip, in dem Alienfrauen mit Engelsflügeln, apokalyptische Explosionen und eine überlebensgroße Michael-Jackson-Statue vorkommen. Schon klar: Was Jacksons "Thriller"-Video für die Achtziger war, soll "Runaway" für die Zehnerjahre sein. Beängstigend daran ist: Auch wenn dem plump-protzigen West-Machwerk die nötige Finesse und Eleganz fehlen, der Vergleich passt schon. Ähnlich wie sein großes Vorbild, der King of Pop, hat auch West in den vergangenen Monaten so seine Erfahrungen mit den Schattenseiten des Ruhms gemacht. Nach dem berüchtigten "Taylor Swift Incident" bei den MTV Music Awards 2009 schlug dem ebenso großmäuligen wie größenwahnsinnigen Musiker so viel Hass entgegen, dass sich sogar Barack Obama genötigt sah, ihn als "Jackass", Vollidiot, zu bezeichnen. Derart geadelt zog sich West nach Hawaii zurück, schmollte ausführlich und entwarf sodann sein Opus Magnum, ein Album mit universellem Anspruch, das nichts mehr mit den cleveren HipHop-Samples seiner ersten Platten und nichts mehr mit dem vielfach belächelten Elektro-Minimalismus seines letzten Albums zu tun hat. Ähnlich wie seine Kollegin Janelle Monae sprengt West hier endgültig sämtliche Genre-Grenzen, seine opulent instrumentierten Song-Epen bedienen sich beim R&B ebenso wie bei Progrock, Pop und Klassik - und sollen bei aller Abgründigkeit und unverhohlener Seelensuche in den Texten vor allem eines klarstellen: Lauter, größer, virtuoser, breitwandiger, frecher und unverschämter kann es gerade keiner. "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" ist so schamlos überladen, so unverstellt prahlerisch und gleichzeitig so rührend in seinem kindlichen Heischen nach Anerkennung und Liebe, dass man es einfach nicht hassen kann. Es ist grotesk und hässlich, aber auch wunderschön. Und ja, Kanye West ist ein Vollidiot und ein krankhafter Narziß. Aber er ist eben auch ein Genie. (9) Andreas Borcholte

Element Of Crime - "Fremde Federn"
(Vertigo/Universal, bereits erschienen)

In einer erheiternden Kurzbesprechung der Monatszeitschrift "Intro" rief man, auf "Fremde Federn" angesprochen, kürzlich reflexartig nach der Oma oder irgendeinem in Ehren ergrauten Mitarbeiter des Feuilletons. Denn beide, so der Rezensent sinngemäß, würden ja genau in die Zielgruppe von Sven Regeners Seniorenstift fallen. Einerseits fehlte hier natürlich jegliches Wissen um die fabelhaften Alben von Element Of Crime, andererseits werden Coverversionen wie "Leise rieselt der Schnee", "Heimweh" (Freddy Quinn), "Auf der Espressomaschine" (Franz-Josef Degenhardt) und das vergnüglich geschmetterte "Hamburg 75" (Gottfried und Lonzo) so manchen erst recht darin bestärken, in "Fremde Federn" die muffig-verstaubte Ansammlung von Liedern aus Onkel Erichs Skatrunde zu sehen: Wer zu Hause am liebsten Paul Kalkbrenner, !!! oder Health hört, darf sich natürlich nicht mit einer derart reaktionären Platte erwischen lassen. "Fremde Federn" ist größtenteils ganz wunderbar: Weil die schönsten Stücke von Alexandra immer auch ihre gruseligsten waren, haben Element Of Crime eine sensationelle, verhallt-kaputte Interpretation von "Akkordeon" aufgenommen, das die Frau mit der Stimme eines Todesengels einmal von Serge Gainsbourg ("Accordéon") übernahm. Dazu Andreas Doraus zauberhafte "Blaumeise Yvonne", der "Nightlife"-Lichtblick "You Only Tell Me You Love Me When You're Drunk" (Pet Shop Boys) und ein sehr empathisches "I Started A Joke", das zum gelungenen Teil der nicht zufriedenstellenden Bee-Gees-LP "Idea" zu zählen ist. Bloß jene Coverversionen, die wir uns immer einmal von Sven Regener gewünscht hatten ("They Don't Know" - Kirsty MacColl, "Dress Sexy At My Funeral" - Smog, "A Song For Europe" - Roxy Music) sind nicht enthalten. Die prügeln wir dann selbst mit dem Vorschlaghammer ein. (7) Jan Wigger

Imaad Wasif - "The Voidist"
(Tee Pee Records/Viva Hate/Cargo, bereits erschienen)

Und noch so einer, der in der Vergangenheit lebt und der aktuellen Retro-Sehnsucht folgt: Imaad Wasif, ein Kalifornier, der gut befreundet ist mit den Yeah Yeah Yeahs, Sebadoh und der Gang um Jack White, hat bereits zwei Alben veröffentlicht, aber erst mit seinem dritten, "The Voidist", gelingt ihm mehr als das wuchtige, gitarrenschwere Indie-Geschrammel, das es da draußen als Dutzendware gibt. Schon der erste Song, das träge dahinrollende "Redeemer", zeugt von einer Neuerfindung, wenn nicht Erleuchtung des spirituell bewanderten Gitarristen mit der wilden Mähne im Devendra-Banhart-Stil. Die Siebziger sind es, die Wasif mit ihren ausufernden, mäandernden Rockepen locken, Led Zeppelins Spätphase, komplett mit keltischem Einschlag, wird gleich mehrmals zitiert, an anderer, akustischerer Stelle fühlt man sich an die Folk-Progressionen von Donovan erinnert. Dazu singt Wasif mit zumeist hinterlistig distanzierter Stimme, die sich aber auch - analog zur entfesselten Gitarre - in ekstatische Höhen schrauben kann wie einst bei Jeff Buckley. Songs wie "Fangs" oder "Our Skulls" beginnen leise und mit unterschwelliger Spannung, bis sie sich dann in psychedelischem Bluesrockgewitter entladen. Im geradlinigen "Priestess" zeigt Wasif hingegen, dass seine Sammlung früher Radiohead-Alben ebenfalls komplett ist. Sind das nicht verdächtig viele Verweise und Referenzen? Ist der Mann nicht doch nur ein cleverer Epigone? Papperlapapp! Mit "The Voidist" hat Imaad Wasif eine eigene Stimme und seinen originären Sound gefunden, auch wenn er sich selbst - analog zum Titel seiner Platte - als Leerstellenhalter bezeichnet. Vor vierzig Jahren wäre er über Nacht zum Star geworden. (7) Andreas Borcholte

Miles Davis - "Bitches Brew: 40th Anniversary Collectors Edition"
(Columbia/Sony, bereits erschienen)

Legen Sie für einen Augenblick das "Jazz Podium" beiseite und stellen Sie sich einen lieben Menschen vor, der keine einzige Jazz-Platte besitzt. Nicht mal eine von Paulchen Kuhn. Würden Sie ihm oder ihr aus dem Nichts heraus ausgerechnet die 94 Minuten von "Bitches Brew" empfehlen? Wohl eher John Coltranes "A Love Supreme", "Brilliant Corners" (Thelonious Monk) und "Out To Lunch" von Eric Dolphy. Geht es aber um Miles Davis, wären wohl "Kind Of Blue" und "In A Silent Way" die (in dieser Reihenfolge) günstigste Wahl für Novizen. "Bitches Brew" zählt einerseits zu den wagemutigsten und herausfordernsten Jazz-Alben überhaupt, ist andererseits aber keines dieser bibelartigen Monumentalwerke, die vorsichtige Interessenten auf der Stelle überfordern. Im Gegenteil: Schon der geniale Bassklarinettist Bennie Maupin allein formt in "Spanish Key" und anderswo eine eigene, spukhafte Sprache - wie Sonic-Youth-Gitarrist Thurston Moore, wie Frank Zappa auf "Hot Rats", David Thomas auf den frühen Pere-Ubu-LPs "The Modern Dance" und "Dub Housing" und Sun Ra im "The Nubians Of Plutonia"-Universum. Das 27-minütige Titelstück "Bitches Brew" ist ein ausgezeichnetes Beispiel für das vollkommen freie, gleichzeitig aber wie magisch ineinander verzahnte Spiel aller Musiker, denen hier die Gnade zuteil wurde, mit Miles Davis Musik machen zu dürfen. Weil es weltweit nicht an Essays , Abrissen und Dissertationen über "Bitches Brew" mangelt, müssen wir es - vor allem aus Platzgründen - dabei belassen, auf die gewichtige Box im LP-Format hinzuweisen: "Bitches Brew" auf 180g-Vinyl und CD (6 Bonustracks!), 48-seitiges Booklet, ein Tanglewood-Auftritt (1970, CD), einer aus Kopenhagen (1969, DVD) und exzellent verpackte Poster und Memorabilia. Directions in music. (10) Jan Wigger

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