Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche
The Roots: "Undun"
(DefJam/Island/Universal, bereits erschienen)
Und wieder endet das Jahr mit einer großen HipHop-Platte. Im Dezember 2010 mussten plötzlich die Jahresbestenlisten noch einmal umgeschrieben werden, weil Kanye West unverhofft aus den Trümmern seines allzu öffentlichen Privatlebens das epochale "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" hervorholte; und nun, fast 12 Monate später, bringen The Roots genau das hochambitionierte Konzeptalbum heraus, das man seit, ja seit wann eigentlich, von den Rappern aus Philadelphia erwartet hat. Seit den slicken Jazz-Beats von "Things Fall Apart" (1999), seit den tollkühnen Experimenten von "Phrenology" (2002) oder dem düsteren TripHop von "Game Theory" (2006)? Egal, "Undun" führt die vielen Metamorphosen, die diese Band seit Anfang der Neunziger durchlaufen hat, in knappen 38 Minuten zu einer logischen Konklusion zusammen, die gleichzeitig die Essenz von Consciousness-Soul und -Rap beinhaltet: Dokumentiere das Leben auf der Straße mit Worten, Beats, Reimen, straight from the heart of the ghetto.
"Undun" erzählt rückwärts die kurze Lebensgeschichte des Drogendealers Stephen Redford (1974 - 1999), und sie beginnt mit dem unerbittlichem Pfeifen der Flatline aus dem Herzmonitor. Was dann folgt, sind Szenen aus einer Existenz der heftigen Highs und langen Lows, Alkoholexzesse, Spielsucht, Crack und Huren, die ganzen Klischees, mit denen die Gangsta-Rapper ihre BlingBling-Kultur illustrierten und als American Way of Life in the Ghetto verkauften. Millionenfach. The Roots gehörten nie zu diesem HipHop-Mainstream, der in den Neunzigern das Genre zu dominieren begann, sie fühlten sich dem Sozial-Soul von Curtis Mayfield und Gil Scott-Heron verpflichtet, dem Polit-Rap von Public Enemy und den Last Poets. Mit "Undun" invertieren sie die muskulösen Heldengeschichten von Tupac bis 50 Cent zu einem elendsdürren, sehr deprimierenden Abgesang auf diesen Ghetto-Kapitalismus, der für viele der realen Protagonisten doch nur ins Verderben oder ins Gefängnis führte. Die Bezüge und Verschlüsselungen in den Texten sind komplex, es hilft auch nicht viel, dass sie der CD nicht beiliegen. Man wird ein paar Wochen brauchen, bis man die ganze Bandbreite dieses Albums erfasst hat.
Aber das soll nicht abschrecken, denn die achtköpfigen Roots, in fast 20 Jahren zu einer echten Band gereift, verpacken ihre Endzeit-Botschaft in zum Teil bittersüße Melodien und verhelfen damit ihrer bisher tristesten Platte zu einigen der brillantesten Pop-Momenten ihrer Karriere: "Kool On", "The OtherSide", "Lighthouse" oder "Tip The Scale (My Way)", um ein paar Beispiele zu nennen. Musikalisch zwischen Free-Jazz, Siebziger-Soul, Oldschool-Beats und sogar Indie-Rock schwingend, beweisen Questlove, Black Thought und die anderen, dass sie ihre Finger am Puls des Zeitgeists haben, denn was nützte schon ein so aufrüttelndes Album ohne Mainstream-Appeal? Dennoch leisten sie sich mit der vierteiligen Instrumental-Suite am Ende (Gast: Sufjan Stevens) auch noch einen Ausflug ins Prätentiöse, so kitschig seufzen die Streicher, so traurig tropft das Piano. "Lotta niggas go to prison/How many come out Malcolm X/ I know I'm not... shit", heißt es in "Tip The Scale (My Way)" - "Undun" ist das Album für die 99 Prozent der Ghetto-Kids, die es aus dem Nebel aus Meth und Booze nicht ans Licht geschafft haben. Sie haben sich einfach darin aufgelöst, they came undone. (8) Andreas Borcholte
Rammstein - "Made In Germany" (Super Deluxe Edition)
(Universal, bereits erschienen)
Natürlich möchte man mit den üblichen Rammstein-Fans, die in immerhin selbstgemachten "Biernot Racing Team Alicante 2005"-T-Shirts und lustigen Winkehänden marodierend die jeweilige Welttournee begleiten, nichts zu tun haben. Mit den meisten Sensibilisten, die sich mit glänzenden Augen und Weihnachtsgesichtern andächtig William Fitzsimmons, Bon Iver oder Mumford & Sons live reinziehen, ohne nach spätestens 25 Minuten wegzupennen, doch aber auch nicht! Schon ein paar Flammenwerfer oder Till Lindemanns 9000-Liter-Spermakanone würde den Barhocker-Säuslern entscheidend weiterhelfen, aber ach: Man will es sich doch nicht verscherzen mit der reflektierten Studentenschar und der kleinen Anna-Sophia (17, Deutsch und Geschichte Leistungskurs), die nach dem Konzert noch mit ins Hotelzimmer darf, um sich all die Tourgeschichten anzuhören, die der Herr storyteller ganz allein für sie erzählt. Doch zurück zum Thema top notch entertainment: Ich nehme mir das ja selbst kaum ab, doch die Rammstein-Show vor ein paar Wochen hat mich so exquisit unterhalten wie in den letzten Jahren höchstens die E Street Band. Direkt mal die "Super Deluxe Edition" im Granitblock-Format besorgt und mit dem Hammer aufgeschlagen: Fast alle Hits, amtliche Remixe, alle Videos mit mehr als ausführlichen "Making Of"-Filmen, ein Steinbruch voller CDs und DVDs. Insgesamt fällt auf, dass Rammstein nicht nur ziemlich viele schlechte, sondern auch ziemlich viele gute Songs hatten. Die wagnerianische Kraft, die "Panzerkreuzer Potemkin"-Reminiszenzen (klagend, anklagend), das Leni-Riefenstahl-Video (das man selbstredend nicht gut finden darf) und die kräftezehrende Berg-und Bachwanderung im fulminanten "Ohne Dich" sind immer auch Spiegelbild dessen, was wir an uns selbst hassen, aber nicht verbannen können. Und wenn sie euch im Osten erzählen wollen, dass Rammstein sowieso nur Oomph! mit Funkenregen sind: Einfach weghören. Live: (10), Werkschau: (4-8) Jan Wigger
The Fall - "Ersatz GB"
(Cherry Red/Rough Trade, bereits erschienen)
Die nette Labeldame sagt: "Die Platte wird nicht promotet, aber ich besorge sie dir trotzdem." Ich denke, ja gut, das wird dann sicher wieder so ein typisch schrottiges Mark-E.-Smith-Jewel-Case mit einzelnem Blatt als Cover und Gekritzel und Songtiteln wie "Laptop Dog" und "Happi Song" sein, und ja, so war es dann auch. Nach geschätzten sieben bis neun The-Fall-Besprechungen in den letzten elf Jahren sehe ich - gerade im lahmen Box-Set-Monat Dezember - keinen großen Sinn mehr darin, die Vor- und Nachteile von Smiths Genörgel, Gemecker, Genöle und Gegreine aufzuzählen. Ich sage lediglich, dass The Fall sehr tolle ("The Marshall Suite", "Live At The Witch Trials", "The Wonderful And Frightening World Of The Fall", "This Nation's Saving Grace") und nicht gar so tolle ("Levitate", "Are You Are Missing Winner") Platten gemacht haben, und dass jeder ergebene Fall-Jünger das Ding in jedem Fall haben muss. Man kann die Supernerds bei Pitchfork.com, die "Ersatz GB" messerscharf als totale Katastrophe und Selbstparodie erkannt haben, einerseits verstehen, möchte ihnen aber andererseits auch zurufen: "Kommt doch selbst mal damit durch, über 30-mal dasselbe Album aufzunehmen, ohne verhaftet zu werden. Und sucht euch mal ein Hobby." Die schönste Textzeile auf "Ersatz GB" findet sich in "Mask Search": "I'm so sick of Snow Patrol/ And where to find Esso lubricant/ And mobile number." If I can see/ And you can see/ Why can't they see? (6) Jan Wigger
Phil Spector - "The Philles Album Collection"
(Legacy/Sony Music, bereits erschienen)

Für Menschen, die irgendwann einmal den zweifelhaften Beruf ergriffen haben, öffentlich über Musik zu schreiben, wäre es mehr als lachhaft, sich nur für Künstler der letzten 30 Jahre zu interessieren. Bei so manchem Leser sieht das anders aus: Der Wunsch, ab Leadbelly oder Robert Johnson möglichst lückenlos Bescheid wissen zu wollen, kann ruhig noch aufgeschoben werden: Die Boxen mit altem Kram von Omas Dachboden stören sogar kurz vor Weihnachten, wenn gar keine aktuellen Studio-Alben mehr erscheinen. Phil Spectors ausgezeichnete "Philles Album Collection" ist für beide Parteien eine gute Idee, denn wie die Stax- und Motown-Sachen sind ja auch viele Spector-Produktionen in der eigenen Sammlung eher auf verstreuten Vinylschallplatten und Kompilationen zu finden (Am schlimmsten: das Cover von "Phil Spector's 20 Greatest Hits"). In dieser Box: Der Liebreiz und die Gefährlichkeit der Ronettes ("...Presenting The Fabulous Ronettes", mit der Göttergabe "Walking In The Rain", "Breakin' Up" und "Be My Baby"), beide Crystals-Alben ("Twist Uptown" & "He's A Rebel"), die durchaus entbehrlichen flipsides des Wall Of Sound Orchestras, das Debüt von Bob B. Soxx & The Blue Jeans (mit Darlene Love!), eine Hit-Kopplung der Crystals, die "Today's Hits" und extensive liner notes. Back to mono! (8) Jan Wigger
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)