Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche
Soap&Skin - "Narrow"
(PIAS/Rough Trade, 10. Februar)
Es gibt den ach so düsteren Poor-Man's-Lord-Byron-Supermüll (Eisbrecher, Blutengel, Schwarzer Engel, ASP, Samsas Traum), der minderjährigen "Sonic Seducer"-Leserinnen aus Merseburg und Umgebung als schaurig-schöne Nachtmusik fürs Leben verkauft wird. Es gibt die authentizitätsfernen, tendenziell dunklen Klänge, die ernsthaft die Seele berühren, und es gibt Soap&Skin. Wie Michael Giras Zerstörungskommando Swans oder Philip Kochs Gefängnisdrama "Picco" sind die Schmerzenslieder der empfindlichen Österreicherin Anja Plaschg the real deal und Menschen, die den Griff zum Strick erwägen, unter keinen Umständen zu empfehlen. "Haltet alle Uhren an und hindert den Hund daran/ Das Rad anzubellen/ Wo immer ich aufschlage/ Finde ich dich/ Du fällst im Schatten der Tage/ Als Stille und Stich/ Ich trink auf dich Dutzende Flaschen Wein/ Und will doch viel lieber eine Made sein." So beginnt Anja Plaschgs Brief an den Vater, der vor zweieinhalb Jahren plötzlich verstarb. Das Unglaublichste an diesem vielleicht jetzt schon größten Song des Jahres ist die vollkommene Abwesenheit eines emotionalen Mauerwerks zwischen Künstlerin und Hörer: Man spürt den Geist des Bösen, die ausweglose Verzweiflung, den Pfad in einen Wald, in dem alle Bäume wie Riesen aussehen. Mit Begriffen wie Trauer oder Glück bekommt man das Phänomen Soap&Skin nicht zu fassen: Die Plaschg singt, weil sie singen muss, weil das tiefe, innere Bedürfnis, sich auszudrücken, nicht verschwindet, wenn man es ignoriert. Auch "Cradlesong" und das einmalige "Boat Turns Toward The Port" sorgen für schlechten Schlaf, doch die skelettierte, gebrochene Interpretation von "Voyage Voyage" (Desireless) ist der Gipfel schwarzer Romantik. Sieben Beichten und ein Todesfall. Ja, es ist Liebe. (9) Jan Wigger
Die Türen - "ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ"
(Staatsakt/Rough Trade, 10. Februar)
Da haben wir den Salat. Den Zeichensalat, den die Bohème-Befindlichkeits-Ironiker Die Türen auf ihrem neuen Album angerichtet haben. Man kann es sich, oh köstliche, postmoderne Spielerei, selbst bekleben mit allerlei popkulturellen Symbolen wie Warhols Banane oder einem Facebook-Daumen - oder man bastelt aus den beiliegenden Buchstaben des Alphabets einfach seinen eigenen Titel zusammen. "Pop ist tot" konstatieren die aus Westfalen stammenden Berliner um Sänger Maurice Summen, "denn böse Menschen kaufen keine Lieder/Sie laden nur darnieder". Die Reim-dich-oder-ich-fress-dich-Rhetorik, die sich im Übrigen etwas bemüht durch das mit Wortspielen und Aphorismen satte Album zieht, mal außen vor gelassen: Pop, heißt es im mitgelieferten kleinen Handbuch zur Platte, sei ja mal "der Rest einer irgendwie marxistischen Rest-Ideologie bei den sogenannten Poplinken" gewesen, um "das System von innen heraus zu durchwandern". "Was für ein Unsinn", höhnen die Türen nur zwei Sätze weiter, aber heute stehen die Ideale wie Pokale in der gläsernen Wohnzimmervitrine, wie es im Song "Aus der Mitte entspringt ein Hit" heißt. Früher war alles falsch, und heute ist es noch falscher? Aha. Wie es richtig geht, wissen die Türen offensichtlich auch nicht, aber den Anspruch erheben sie dankenswerterweise auch nicht. Stattdessen schaffen sie musikalisch zwischen Siebziger-Jahre-Glampop, Ska und verschachteltem Krautrock irrlichternde Pop-Gassenhauer, die Blumfelds "Verstärker" und die ewige Sterne-Hymne "Was hat dich bloß so ruiniert" mit zeitgemäßeren Slogans ablösen wollen. "Don't Google yourself" heißt einer von diesen Hits, in dem es heißt: "Never mind the Mensch-Maschine/ Hier kommt die Such-Maschine". An anderer Stelle, im elfminütigen Anfangslied "Rentner und Studenten", wird ebenso radikal collagiert: "Wissen ist Macht kaputt was Euch kaputt macht" - bei den Türen flirren Punk, Kraftwerk, Roland Barthes, Michel Foucault zusammen mit Neil Young und Rio Reiser durch alle Hipster-Lokale der Hauptstadt und ecken überall mal an, sagen überall mal Hoppla, hier komm' ich. Dass das nicht nervtötend naseweis ist, sondern rasend unterhaltsam, ist der reinen, sehr sympathischen Chuzpe und der erstaunlichen musikalischen Professionalität der Band geschuldet, die ihr Manifest des Ich-weiß-auch-nicht-aber-ich-finds-Scheiße mit allerhand Gefühl für gute Popmusik vorträgt. Dieses "weiße Album plus Eins" will Kopf, kann aber auch Bauch. Das erinnert an das letzte deutschsprachige Album, das so einen Punch hatte: "DMD KIU LIT" von Ja, Panik. Die veröffentlichten auch auf dem Türen-Label Staatsakt, und Sänger Andreas Spechtl spielt hier die Gitarre. Alle zusammen im selben schwarzgelben Untergehboot. (8) Andreas Borcholte
Kettcar - "Zwischen den Runden"
(Grand Hotel Van Cleef/Indigo, 10. Februar)
Es gibt auf Kettcars neuem Album zwei Songs, die einen so richtig gemein an der Gurgel packen. Das erste, "Rettung" heißt es, handelt von den Momenten in einer Beziehung, wenn es darauf ankommt, den anderen auch in dessen hässlichsten Momenten Huckepack zu nehmen, ihm nach dem Katerkotzen zärtlich die Essensreste aus dem Haar zu streichen und dann, wenn man den verschwitzten, übelriechenden Liebsten wieder ins Bett gesteckt hat, im Türrahmen des Schlafzimmers zu stehen und immer noch zu denken: Du bist die Liebe meines Lebens. "Liebe ist nicht das, was man empfindet/ Nicht nur das, was man fühlt/ Liebe ist das, was man tut", singt Marcus Wiebusch dazu - und eröffnet das vierte Album seiner Band mit einem wunderbaren Moment der Wahrheit. Der zweite Song, der einen heftig schlucken lässt, bildet den Schlusspunkt: "Zurück aus Ohlsdorf" erzählt die Geschichte zweier Freunde, die früher "um die Ecken gezogen sind", sich dann auseinandergelebt haben. Nun ist der eine tot, und der andere fragt sich, warum man sich im Lauf der Zeit verloren hat. Allein diese beiden Songs machen klar, warum die Hamburger seit einigen Jahren zu den wichtigsten Bands aus Deutschland zählen: Marcus Wiebusch, und diesmal auch Bassist Reimer Busstorff, von dem die Hälfte der neuen Lieder stammt, können in ihren Texten Emotionen und Lebenslagen erklären, die in der deutschen Popmusik sonst zumeist nur hinter Fassaden von Intellektualität oder Kitsch versteckt werden. Kettcar ist aber auch eine Band, die sich ständig entwickelt, nie demselben Faden folgt, immer das Jetzt abbildet, daher klingt jedes Album anders. In den vier Jahren seit "Sylt" haben sich in Wiebuschs Weltsicht anscheinend einige Wogen geglättet: Allein das zornige "Schrilles, buntes Hamburg", eine scharfkantige Abrechnung mit den Gentrifizierungsprozessen in der Hansestadt, knüpft an die Wut an, mit der Wiebusch zuletzt in Songs wie "Graceland" oder "Kein Außen mehr" das erstickende Gefühl beschrieben hat, vom eigenhändig errichteten Kartenhaus der Bürgerlichkeit erdrückt zu werden. "Zwischen den Runden" ist schon allein musikalisch beruhigt, es dominieren flächige Streicher-Arrangements, hin und wieder geistert eine Trompete durch traurige Fluchtlieder wie "Nach Süden". Diese Lust an der Ästhetik spiegelt sich auch in den Texten wider, die, siehe "Rettung", sich an das Gute halten, die Hoffnung, inmitten aller Tristesse doch noch Verständnis und Liebe zu finden. Die Balladen "Weil ich es niemals so oft sagen werde" und "Schwebend" erzählen von solchen ersehnten Glücksmomenten. So viel Versöhnlichkeit war selten im Kettcar-Kosmos. Das muss man mögen. (7) Andreas Borcholte
Mark Lanegan Band - "Blues Funeral"
(4AD/Beggars Group/Indigo, bereits erschienen)
Isobel Campbell, mit der Mark Lanegan eine lose musikalische Partnerschaft pflegt, sagte einmal über ihren Kollegen, sie liebe seine klassische, mühelose, amerikanische Stimme. Klassisch, amerikanisch, okay, aber was sie mit mühelos, effortless, meint, erschließt sich nicht gleich. Denn Mark Lanegans Musik, ob er sie mit den Screaming Trees, den Gutter Twins, den Twilight Singers, den Soulsavers oder den Queens of the Stone Age spielt, ist nicht nur geprägt von seinem spröden Bariton, sondern vor allem durch eine fast schon zur Heiligkeit erhobenen Schwermütigkeit. Tatsächlich aber hat die Frequenz und Ausdauer, mit der Lanegan seine mystischen Beschwörungen der Schattenseite des amerikanischen Traums vertont und verbreitet, etwas Leichthändiges. Der inzwischen 47-jährige, aber seltsam alterslos wirkende Sänger wirkt dabei manchmal wie eine Figur aus einem Stephen-King-Roman, ein schattenhafter Stellvertreter des Bösen wie Randall Flagg, der "Man in black", der zu Beginn der "Dark Tower"-Saga durch die Wüste flieht, einen Revolvermann auf den Fersen. Fiebrig sind diese Figuren, aber auch verführerisch, und aus dieser unguten Erotik schöpft auch Mark Lanegan die Energie, uns in seinen Bann zu ziehen. "Blues Funeral" ist sein erstes Solo-Album seit "Bubblegum". Dessen elektronische Experimente sind hier nun mit traditionellem Blues-Tonleitern verschmolzen. Blues steht bei jungen US-Musikern gerade wieder hoch im Kurs, und das verwundert nicht, bedenkt man die tiefe soziale und gesellschaftliche Kluft, die von der Wirtschafts- und Finanzkrise quer durch God's own country gerissen wurde. Lanegan ist ein Schamane, der diese depressive Stimmung zur Religion erhebt, in "Bleeding Muddy Water" füllt er seine Lungen gierig mit dem Blues-Elixier aus dem Mississippi, und im Abgesang auf eine einst strahlende Industrie-Metropole, der "St. Louis Elegy", beschwört er die Verzweiflung einer ganzen Nation: "These tears are liquor and I've drunk myself sick". Natürlich trägt er den Blues nicht zu Grabe, er weiß genau, dass ein Begräbnis auch der Beginn von etwas Neuem sein kann: Tabula rasa. Wer in den düster-brütenden Versen von Hoffnungslosigkeit, in denen Männer an endlosen Landstraßen im Regen stehen, oder, wie in der grandiosen "Ode To Sad Disco", zum zerkratzten Computerbeat auf die Knie sinken, nur Selbstmitleid und Lust an der Schwarzmalerei vermutet, hat den kathartischen Sinn von American Gothic nicht verstanden: Amerikas Alptraum ist die Angst vor dem orientierungslosem Herumirren in unendlicher Freiheit. Deshalb klingt der Refrain von "Phantasmagoria Blues" - "You're free/ You're free again/ One more time" - auch mehr nach Drohung als nach Erlösung. Glück, das ist eben auch der warme Pistolenlauf nach dem Schuss, Freiheit auch die Rasierklingen am Handgelenk. Und Mark Lanegan, der seine Eltern hasste und mit 18 schon alle Drogen hinter sich hatte, führt seine Jünger wie ein Anti-Moses kreuz und quer durch dieses Wasteland. Ganz unbeschwert auf der road to nowhere. (7) Andreas Borcholte
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)