Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche
Lee Ranaldo - "Between The Times And The Tides"
(Matador/ Beggars/ Indigo, erscheint am 16. März)
Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, Kunststück, es ist ja auch gerade mal drei Wochen her: Wir sitzen auf dem Sofa, ein Freund und ich, insgesamt etwa 44 Jahre Sonic-Youth-Erfahrung. Wir erwarten eine weitere "schwierige" Avantgarde-Soloarbeit Lee Ranaldos. Doch wir hören ein Meisterwerk ohne jeden Ausfall, das im ersten Halbjahr 2012 vielleicht nur noch durch - Sie ahnen es bereits - Rufus Wainwrights unmittelbar bevorstehendes, siebtes Studioalbum "Out Of The Game" übertroffen werden könnte. "I know exactly what you mean/ I know the secrets that you dream" singt die alte Astronauten-Stimme in verwaschenem Lila, und dass "Waiting On A Dream" immer wieder "Paint It Black" zitiert, ist kein fauler Zauber, sondern der erste deutliche Hinweis darauf, wie Lee Ranaldo in leichter Strömung durch die Rockgeschichte gleitet. "Off The Wall" ist eines der gewichtlosesten, eingängigsten Stücke, die er jemals geschrieben hat, durch "Xtina As I Knew Her" und "Shouts" ziehen sich Gitarrenfurchen, die davon künden, welche Orte Lee zwischen "Hey Joni" und "Rats" aufgesucht, welche Dunstschleier er durchschritten hat, ohne zurückzublicken. Im vergleichsweise hellen "Lost" sieht Ranaldo eine Verwandschaft zu Dave McFadden: "I'm lost lost lost, licking my lips in groundless clear eternity." Die stillen Songs ("Hammer Blows", "Stranded") sind ereignisreicher als alles auf Thurston Moores "Demolished Thoughts", und wenn man sich genau konzentriert, hört man durch die Nebelwand ein gravitätisch gesprochenes Poem von Michael Stipe, oder hat eine von Buffalo Springfield gezeichnete Landkarte des amerikanischen Westens vor Augen. Ten true things. (9) Jan Wigger
VCMG - "Ssss"
(Mute/ Good to Go, erscheint am 9. März)
Es war einmal ein kleines Studio namens The Cabin irgendwo in den Wäldern von Maine. Ein kleines, blasses Männchen aus England spielte spät nachts noch an einigen seiner unzähligen Analog-Synthesizer aus alter Zeit herum. Vince Clarke war einsam, aber er hatte ein paar gute Tracks, ein paar echt clevere Sounds, coole Techno-Beats, die so retro sind, dass sie schon wieder Avantgarde sind. Ach, dachte er, schön war das damals, in den Achtzigern, als Techno noch Electronic Body Music hieß. Aber wem das ganze Zeug vorspielen? Alison Moyet? Eric Radcliffe? Andy Bell! Ah nee, Andy hat davon noch nie was verstanden. Ist mir eh ein Rätsel, warum wir mit Erasure noch mal auf Tour gegangen sind, neulich. Blöder Pop-Mist, das ging mir damals schon auf die Nerven. Damals... hm, da war doch was! Und dann klappte Vince seinen Laptop auf und schickte spontan eine E-Mail mit ein paar seiner Skizzen an Martin L. Gore, mit dem er seit mindestens hundert Jahren nicht gesprochen hatte. Aber irgendwann musste er ja mal darüber weg kommen, dass Depeche Mode auch ohne ihn erfolgreich wurden. Szenenwechsel: London, ein grauer Nachmittag. Martin Gore raufte sich das verbliebene Blondhaar. Boah, dachte er, diese Fans nerven vielleicht: Lieber Martin, wann kommt endlich ein neues Depeche-Album!? Gar nicht, ihr Schwachmaten, würde er am liebsten rausbrüllen, schon gar nicht, wenn Dave Gahan lieber bei den Soulsavers einsteigt, statt mit mir an neuen Songs zu arbeiten, der Arsch. Pling! Oh nein, nicht noch eine E-Mail! Aber es war die Nachricht von Old Vince, gefüllt mit gnadenlos gutem Retro-Techno. Wie geil ist das denn, jubelte Martin, das ist ja wie früher! So, liebe Kinder, und der Rest der Geschichte, die sich ungefähr so ereignet haben könnte, ist jetzt auf "Ssss" nachzuhören, dem ersten gemeinsamen Album von Vince Clarke und Martin L. Gore, beide um die 50, seit sie sich 1981 nicht mehr über die Zukunft von Depeche Mode einigen konnten. Es ist ein klassisches, instrumentales, sehr altmodisches, analoges Techno-Album geworden, mit Lasergeräuschen, Bleeps und Klonks und allem, was so dazu gehört. Vor allem einem Mörderbeat. Erasure-Fans gibt's ja eh kaum noch, daher: Hallo, Depeche-Fans? Lasst bloß die Finger davon, ihr macht euch nur unglücklich. Der Rest: ab in den Club, am besten, wenn's schon hell ist. (7) Andreas Borcholte
Ceremony - "Zoo"
(Matador/ Beggars Group)
Damien Abrahamson, prominentester Vollbartträger des Hardcore-Punks, sitzt in diesen Tagen sicher das eine oder andere Mal zu Hause, hält mit der einen Hand seinen Nachwuchs auf dem Schoß und haut mit der anderen Hand wütend auf den Tisch, dass der vegane Babybrei nur so splattert. Der Sänger der kanadischen Band Fucked Up, die im vergangenen Jahr mit ihrem Album "David Comes To Live" als willkommene Wiederbelebung des HC-Genres gefeiert wurde, hatte im November angekündigt, eine längere Pause zu machen, weil ihn gleichzeitiger Familiendienst und Bandarbeit überforderten. Ha, Memme! Denn in Kalifornien gibt es eine Band, die Fucked Up ganz schnell den Ruhm streitig machen könnte. Ceremony gibt es seit 2006, da waren deren Alben allerdings noch knappe 20 Minuten lang, die Songs kaum länger als eine oder zwei Minuten. Klassischer Achtziger-Jahre-Hardcore stand im schwarzen T-Shirt und kurzen Hosen Pate, die Haltung war schön linksliberal, und Fleisch und Alkohol gab's auch nicht - alles schön straight edge also, als wären nie fast 30 Jahre seit Minor Threat, Black Flag oder D.R.I. vergangen. Bereits auf dem letzten Ceremony-Album "Rohnert Park" deutete sich allerdings ein leichtes Erweichen des Dogmas an. Bandleader Ross Farrar interessierte sich für Pop-Bands wie The xx und hörte manchmal sogar auf zu brüllen, um stattdessen das Singen zu üben. Auf "Zoo" gibt sich die Band nun vielseitig und melodisch, was einen ähnlichen Effekt hat wie letztes Jahr bei Fucked Up: Dem immer noch extrem populären, leider arg rückwärtsgewandten Genre werden jede Menge kräftige Pogo-Schübse verpasst, durch den das starre Konstrukt aus Lärm, Wut und Schreierei in Bewegung gerät und auch für Nicht-Hardcore-Fans zugänglicher wird. Unterstützt wird dieser Prozess nicht zuletzt durch das Mainstream-Indielabel Matador (Pavement, Sonic Youth), das nach Fucked Up nun auch Ceremony unter seine Fittiche nahm. Die Einflüsse auf "Zoo" reichen von Hüsker Dü" ("World Blue") und Dead-Kennedys-Punk ("Citizen") über Joy-Division-Gloom ("Hotel, Video") bis hin zu jenem entschleunigtem Washington-HC, der an Fugazi erinnert ("Nosebleed"). Im Gassenhauer "Community Service" gibt es sogar ein schönes Surfgitarren-Intro, als Verbeugung vor dem klassischen Bay-Area-Sound. Now rise above, boys! (8) Andreas Borcholte
The Magnetic Fields - "Love At The Bottom Of The Sea"
(Domino)
Ist man Zyniker, versucht man den besorgten Bekanntenkreis meist mit der Feststellung zu beruhigen, es sei bloß Sarkasmus. Wird man auf negative Denkmuster hingewiesen, erteilt man die Auskunft, man sei doch nur realistisch. Der schwule Songschreiber Stephin Merritt hat beinahe alle Wege, sich durchs Leben zu schlagen, als untauglich erkannt und übt sich auf "Love At The Bottom Of The Sea" in feinem, zuweilen fatalistischem Witz, wobei er tradierte Rollenbilder auf die beste Art und Weise nutzt: Er bringt sie durcheinander. Seine Liebe zu "Andrew In Drag" ("I would even sell the Jag/ If I could spent my misspent youth with Andrew in drag") wird unerwidert bleiben, den Ex-Freund und dessen neue Freundin lässt Merritt in "Your Girlfriend's Face" einfach abmurksen. In den allesamt kurzen Tracks auf "Love At The Bottom Of The Sea" vermischt Stephin diesmal synthetische Sounds, neumodisches Instrumentarium und die gute, alte (und hier immer leicht verhallte) Akustik-Ballade. Den tausend guten Gründen, keinen Sex zu haben, werden im Spottgedicht "God Wants Us To Wait" noch die altbekannten sinnlosen Ursachen hinzugefügt: "Despite my beauty, and the scent of jasmine/ Could you be happy in the knowledge of sin?". Dass derselbe Stephin Merritt vor 13 Jahren mit "Washington, D.C." eines der schönsten Liebeslieder aller Zeiten verfasst hat, ist nur Teil der besonderen Magnetic-Fields-Logik. (7) Jan Wigger