Abgehört - neue Musik Drei Diven und ein Muffelschlumpf

Hobo mit Harfe: Hans Unstern verwandelt (Bart-)Haare und Gender-Trouble zu Gold. Husten haben Hymnen für die Corona-Isolation, Jackie Lynn trägt neue Masken, Laura Marling sucht Auswege. Die Popalben der Woche.
Hans Unstern - "Diven"

(Staatsakt/Bertus/Zebralution, ab 24. April)

Vielleicht gehört dieser Begriff besser aus dem Wortschatz gestrichen: Diva. Er klingt anstrengend, nach einer Person, die andere mit ihren Kapriolen nervt. Am Ende ist er vor allem sexistisch. Schließlich ist die kapriziöse Person ja meist eine Frau; die männliche Diva kommt selten ohne ironisierende Anführungsstriche daher. Insofern ist der Titel von Hans Unsterns drittem Album, dem ersten seit acht Jahren, nur passend: Unstern war immer schon ein Künstler, der seinem Publikum mit Extravaganz Arbeit macht - und noch dazu von sich selbst behauptet, gleich mehrere Personen auf einmal zu sein. Keine Diva eben, sondern Diven.

Als Unstern 2010 sein Debüt "Kratz' dich raus" veröffentlichte, reichten schon sein Bart und die Information, er sei als Straßenmusiker durch Europa gereist, um ihn als Hobo in Tradition von Tom Waits zu labeln. Gegen die Zuschreibung als vagabundierendes Genie sträubte er sich so heftig, dass er der Welt beim Folgealbum "The Great Hans Unstern Swindle", einer Abhandlung über die Gemachtheit von Pop, alle Handreichungen zu seiner Person verweigerte. Unsterns Botschaft: Vielleicht ist der Autor nicht nur tot - vielleicht liegen im Grab ja gleich diverse Autor_innen. 

Die vergangenen Jahre hat Unstern nun Jahre damit verbracht, sich für die Produktion von "Diven" eine elektroakustische Harfe zu bauen. Das kann man in Zeiten, in denen sich fast jeder denkbare Ton digital erzeugen lässt, für eine rührende Nerd-Aktion halten. Oder man begreift die Bastelei als notwendigen Teil einer künstlerischen Selbst-Geburt. 

Nie trieben Unstern Fragen um Gender und seine Überwindung so beständig um wie auf "Diven", selten wurde das Thema in deutscher Sprache so fernab von Slogan- und Formelhaftem bearbeitet. Mal mit Humor, wenn Unstern Helge Schneiders Pimmelwitz "Bonbon aus Wurst" zum "Bonbon aus Plastik" umdichtet. Mal in Form von klassisch schöner Sprachkunst: "Du kannst mich knicken/ Zu einer Nachtigall/ Mit Locken aus Gold", heißt es in "Haare zu Gold".

Der Gender-Trouble wird zur Herausforderung, wenn Unstern im Song "Nichtsdestotrotz" davon singt, dem Baby die Brust zu geben. Das berührt und irritiert dann doch anders als handelsübliche Bekenntnisse zu mehr geschlechtlicher Durchlässigkeit. Folgerichtig lässt Unstern im finalen Song "Cis" ausklingen - und damit vielleicht nicht nur die Ton-, sondern auch die Lesart, allein als Mann gedeutet zu werden. Vielleicht steht das männliche Pronomen in diesem Text deshalb auch falsch.

Die Harfe und das analoge wie digitale Instrumentarium, das ihr zur Seite gestellt wird, schaffen dabei einen Sound zwischen glänzendem (Kammer-)Pop und eckiger Retro-Computermusik. Hier unterbricht feingliedriges, nervöses Geklicker den Wohlklang, dort stört die ungebrochene Schönheit perlender Harfenklänge, wo man die nächste Klöppelei erwartet hätte. Unsterns Stimme hängt dabei so sonder- und wunderbar zwischen den Geschlechtern wie eh und je.

Allerdings streift auch die Identitätsmaschine Unstern manchmal das Problem, das besonders deutschsprachige Musik mit hehren Anliegen oft ereilt: Wo man das progressive Kunstwollen so deutlich spürt wie bei Unstern, wird aus Pop- manchmal Kopfmusik, die man beflissen weiterempfiehlt, aber selten anhören wird. Musik zum theoretischen Gutfinden also. Auch auf "Diven" ist vieles nicht nur klug, sondern neunmalklug. Wer die Diven-Revue allerdings ernst nimmt, hinterfragt auch bald, was man anstrengend findet - und aus welchem Grund. (7.9) Julia Lorenz

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Husten - "Wohin wir drehen"

(Vikram/The Orchard, ab 24. April)

Okay, der aufdringlichste Witz muss gleich mal aus dem Weg: Husten, hahaha! Wenn's die Band noch nicht seit drei Jahren geben würde, man hätte sie für die Corona-Pandemie erfinden müssen. Zusammen mit den noch imaginären Gruppen Fieber (NDW-Elektropop) und Gliederschmerz (Punk) käme da ein schönes Krisenfestival zusammen. Makaber? Too soon? Na gut.

Husten sind eine Indie-Allstarband, die aus Sänger Gisbert zu Knyphausen, Tocotronic- und Beatsteaks-Produzent Moses Schneider und dem Musiker Tobias Friedrich alias Der dünne Mann (Ex-Viktoriapark) besteht. Zusammen kamen sie 2017, um einige Stücke für den Soundtrack zu der Verfilmung von Tino Hanekamps Hamburger Szeneroman "Sowas von da" zu liefern. Den Film gab es dann nach viel Hin und Her irgendwann, aber nicht mit der Musik von Husten. Spaß hatten die drei trotzdem, also bringen sie nun jedes Jahr eine EP mit fünf neuen Songs heraus. Dieses Jahr wollten sie sogar zum ersten Mal auf Tour gehen. Mal sehen, ob das was wird, was weiß man gerade schon?

Und genau darum, Pardon, "drehen" sich auch die Stücke auf "Wohin wir drehen": "Stell dir mal vor, und jetzt stell dir mal vor, alles wäre anders", singt Knyphausen hibbelig in "Ab ins Ungewisse", es geht eigentlich um eine Beziehung, die ihren Synchronismus verliert ("Du hast so viel Lust, und ich hab so viel Schiss"), aber der Fuß in der Tür, "der sagt: ‚Ich würd' gern abhauen'" passt wiederum aufs Schönste zur verbotenen Ausgehlust im Quarantäne-Modus. Man möchte den Song zusammen mit der soeben veröffentlichten, ausgewiesenen Corona-Hymne "Tanz die soziale Distanz" des Berliner Duos Theodor Shitstorm auf eine Doppel-A-Seiten-Single pressen und unters lockerungswütige Volk jubeln!

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Kurzum: Hier wird nicht nur klug aus dem Alltag getextet, hier lauert der generelle, sehr sympathische Weltekel hinter jeder lässig hingesungenen Pointe: eine breitbeinig inszenierte Verweigerungshaltung. Der musikalische Sound ist inzwischen allerdings weitaus offener als das streng rumpelnde Postpunk-Konzept der Anfangstage, das Titelstück eröffnet die EP so soulful mit Bläserfanfaren und Trommelwirbeln, als begänne ein Blaxploitation-Film in urbanen Schmelztiegel Hamburg-Ottensen. Im Ernst: Cleverer wurde der im US-Hip-Hop und -R&B allgegenwärtige Autotune-Effekt selten im deutschen Pop eingesetzt. Mit "Das Lehm" gibt's sogar eine schräg an Westernhagens "Giselher" angelehnte Ballade, in der schmalzige Streicher so enervierend mit jaulenden Gitarren kollidieren, bis jede Wohlklang- oder Kitschgefahr gebannt ist. Puh.

Husten können's aber auch immer noch klassisch. "Wo hast du nur all die gute Laune her", krakeelt Knyphausen in "Bad Karma Boy" irgendwo zwischen Springsteen und Niels Frevert, und bescheinigt all den besinnungs- und maskenlos im Park herumtollenden Lebensmüden da draußen ein jähes Ende: "Hey, ich geb' dir noch ein halbes Jahr, nicht mehr". Der trotzige Song wird zur vollendeten Stubenhocker-Hymne, wenn der muffelschlumpfende Sänger vom Balkon runtergröhlt: "Ruft mich an, gebt Bescheid, wenn alles neu ist, hier und überall!" Machen wir. (Den Gag, dass man sich mit diesem Husten durchaus gern infiziert… na ja, geschenkt). Bleibt zu Hause, verdammt noch mal! (7.8) Andreas Borcholte

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Laura Marling - "Song For Our Daughter"

(Partisan/Chrysalis/Kobalt, seit 10. April)

In der Grafschaft Berkshire gibt es Städte wie Reading und Slough sowie eine Million Menschen, die sich permanent für die Existenz dieser Städte entschuldigen. Kein zweiter Ort ist denkbar auf der Welt, an dem die Bevölkerung ähnlich zwiespältig zwischen lokalpatriotischem Geschichtsbewusstsein und ewiger Selbstherabwürdigung lebt. Es ist eine Welle der aggressiv passiv-aggressiven Höflichkeit, die einem aus der Grafschaft im Süden von England entgegenschlägt, und irgendwann ist Laura Marling auf dieser Welle in die Welt hinausgeritten. Berkshire hat keine poet laureate, keine wechselnden Hofdichterinnen, aber wieso auch, wenn niemand außer der 30-jährigen Geduldsfolkmusikerin dafür infrage käme?

"Song For Our Daughter" ist bereits ihr siebtes Album, eine behutsam, aber hochglänzend ausgestaltete Platte, auf der meistens nur Marlings Worte und die nötigsten Gitarrenakkorde erklingen. Den staatstragenden Status der Künstlerin wird das Album bestätigen, aber auch die längst verfestigten Urteile jener Kritikerinnen, die ihr reserviert gegenüberstehen. Marling ist eine gefasste Erscheinung, sie strahlt Strenge und selbst dann musikalische Makellosigkeit aus, wenn sie sich einmal gehen lässt. Weil obendrein ihr Vater mit irgendeinem Adelstitel daherkommt, gilt sie manchem Skeptiker als steife Repräsentantin der englischen Upperclass.

Es war dann auch der allzeit pflicht- und klassenbewusste "Guardian", der in seiner Rezension zu "Song For Our Daughter" darauf hinwies, dass Marling bisweilen vergeblich versuche, ihre ultrakorrekte received pronounciation zu verbergen. Eigentlich eine wunderbar gehässige Anmerkung, doch wer so genau hinhört, überhört womöglich das Wesentliche. Es sind aufgewühlte, Lieder, die Marling auf ihrer neuen Platte mit der ihr eigenen Seelenruhe singt. Töchter erben und verprassen darin den Notgroschen ihrer Mütter, gespartes Geld, das für Reißausversuche gedacht war, die niemals verwirklicht wurden. "Song For Our Daughter" ist ein Album über vererbte Unterdrückung und Benachteiligung, aber auch auf der Suche nach Auswegen.

"I won't write a woman with a man on my mind", singt Marling in "Only The Strong", einer vergleichsweise üppigen Ballade mit Streichern, Klavier, wortlosem Chorgesang und durchlaufendem Metronomticken. Keine Lieder mehr über Frauen, die eigentlich von den Männern im Leben dieser Frauen handeln: Das war die Regel für "Song For Our Daughter". Darin steckt der Schlüssel zu diesem Album, daraus schöpft es Beruhigung und Bestärkung. Dass "Only The Strong" auch eine Berkshire-typische Entschuldigung für seine oben zitierte Leitlinie enthält? Beweist lediglich, dass der "Guardian" nicht allein ist mit seiner Gehässigkeit. (7.7) Daniel Gerhardt

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Jackie Lynn - "Jacqueline"

(Drag City/Indigo, seit 10. April)

Im Sommer 2016 erschien das selbst betitelte Debütalbum von "Jackie Lynn". Damals hatte die in Chicago lebende Haley Fohr, die in der internationalen Musikszene bereits als Circuit Des Yeux seit vielen Jahren ihren Songvisionen folgt, eine Kunstfigur erfunden und ihr eine Geschichte angedichtet, die zwischen "Natural Born Killers" und "Lolita" von Drogen, Liebe, Flucht und Verschwinden erzählte - ein Konzeptalbum, in sich geschlossen und vollkommen.

Dass dieses starke Narrativ problemlos weitergesponnen werden kann, zeigt Fohr nun auf "Jacqueline", wobei die Dramaturgie, der diese neun Songs folgen, einen Zeitsprung erkennen lässt: Wir sehen Jackie Lynn allein, der fiktive partner in crime des Debüts - Tom Strong - ist abhandengekommen. Jackie ist untergetaucht, mit neuen Perücken, neuen Masken, neuen Biografien. Wir erleben die Geschichte einer Abtrünnigen, hören Flucht als Emanzipation, lesen Autofiktion als Authentizität. Und wie nicht anders zu erwarten war, ist dieses neue Leben äußerst intensiv: "Casino Queen", das erste Stück des Albums, zeigt Jackie ausgelassen tanzend in einer zitierten Disco. Es wirkt, als wäre man heimlicher Zeuge, könne durch die Stereoanlage beobachten, wie ein Mensch sich neu erfindet, die Vergangenheit abschüttelt, ohne sie dabei zu vergessen.

Konventionell an zweiter Stelle findet sich dann der Hit der Platte, das rumpelnde "Shugar Water", das von einer Gelassenheit und Coolness ist, die im weiteren Verlauf auch Pophymnen ("Short Black Dress") und musikalischen Mediationen ("Lenexa") Raum lässt. Ein weiteres Highlight ist "Odessa", das souveräne, chorale Gesänge mit Wave-Minimalismus paart und trotz seiner sieben Minuten Länge noch ewig so weiter gehen könnte.

So setzt sich diese musikalische Geschichte narrativ wie auch klanglich aus diversen Schichten zusammen. Trotz Heimproduktion klingt sie mal fett, dann wieder sanft und nachdenklich: Sparks, Stereolab, wirrer Hi-NRG-Sound à la Divine, alles zusammengehalten von einer extremen Stimme, die zwischen Liebe und Hass wenig Raum lässt. "Jacqueline" ist die gut gemachte Erfindung einer besonderen Musikerin, die ihrer Figur viele Facetten schenkt, sie nie in Eindeutigkeit verblassen lässt.

Neben Haley Fohrs Marianengraben-tiefer Stimme - in Deutschland kann hier nur Stella Sommer mithalten (oder -tauchen) - ist dies der Aspekt, der das Album so aufregend macht. Denn es zeigt sich darin, zu welch faszinierenden Erzählungen Pop fähig sein kann, wenn er sich einer gewissen Konsequenz verpflichtet. Für das Hörvergnügen ist das alles zweitrangig: Die Musik zeugt von starkem Songwriting und einem sensiblen Bewusstsein für Produktion, sodass es den Kontext des Narrativen nicht braucht - liest man ihn jedoch in den Klängen mit, ist das Ganze umso lohnender. (8.5) Hendrik Otremba

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

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