Abgehört - neue Musik Prinzessinnen im Nebel

Vergessen Sie mal kurz Taylor Swift: Der Pop der Zukunft wird von jungen Künstlerinnen wie Abra und Kelsey Lu gemacht. Außerdem: Kendrick Lamars Gangsta-Bruder Schoolboy Q.

Abra - "Princess" EP
(Matador/Beggars/Indigo, seit 15. Juli)

Du nennst mich Heulsuse? Du bist es doch, der mich zum Weinen bringt! Abra, eine neue, postmoderne R&B-Hoffnung aus Atlanta, nimmt auf ihrer neuen EP "Princess" einer charmant gelangweilten Diva ein, die gerne umworben und erobert werden will, aber bitteschön nach ihren eigenen Regeln.

Der Eindruck der charmanten Langeweile entsteht durch den etwas leiernden Gesang Abras, von der man im Grunde nicht viel mehr weiß, als dass sie noch recht jung ist, in London geboren wurde und in Atlanta aufwuchs. Dort gehörte sie zur Posse um das Hip-Hop-Label Awful Records und musste sich damit auseinandersetzen, dass die Leute bei Konzerten von ihr eher Südstaaten-Rap erwarteten. Bei Abra gibt es zwar auch gerappte Passagen und das ganze Ambiente ihrer bisher auf einem Mixtape und einer früheren EP veröffentlichten Musik zeugt von einer Zeitlupenhaftgkeit, die man in Hip-Hop-Kreisen gerne mit dem exzessiven Konsum von Codein-Hustensaft zu erzeugen pflegt - aber das war's dann auch schon mit den - musikalischen - Gemeinsamkeiten. Ihr trunkener, düster-majestätischer R&B brachte ihr den Spitznamen "Darkwave Duchess" ein.

Im oben zitierten Track "Crybaby", also "Heulsuse" klackern und zwischen vielmehr die bleichen und nervösen Beats aus dem Rechner, die man aus Achtzigerjahre-R&B-Produktionen kennt - in die Gegenwart gepusht mit pulsierenden, schroffen Bässen - eine kühle Skelettierung, die mit den hitzigen Emotionen der Texte kontrastiert.

Neneh Cherrys "Buffalo Stance" und Howard Hewett "I Commit To Love" könnten hier Referenzpunkte sein, aber auch der gesamte Jam-und-Lewis-Katalog von der SOS Band bis Janet Jackson. Von letzterer stammt natürlich auch bei Abra die Blaupause für die feminine Pop-Ermächtigung, in deren Erbfolge sie sich - wie so viele andere junge und unabhängige Künstlerinnen zurzeit - stellt.

Auf dem Cover von "Princess" lehnt sie sich eher bedröhnt wirkend als lasziv mit entblößtem Oberkörper an einen Schimmel, den sie an eine ebenso weiße Leine gelegt hat. Ride the white horse, das kann man als Metapher für Heroin-Abhängigkeit deuten. Aber wenn der Zossen ein Hengst ist und für die dominante, abhängig machende Männlichkeit im Pop-Business steht, dann hat Abra, die Wert darauf legt, alles selbst zu produzieren, ihn möglicherweise gezähmt. Oder ist sie doch nur ein Junkie, der nach Aufmerksamkeit giert? Wie kriegt man das hin, heutzutage: Begehren und begehrlich sein, sich lustvoll zum Objekt degradieren zu lassen aber gleichzeitig selbstbestimmtes Subjekt zu bleiben?

Um derlei Ambivalenzen drehen sich die Songs auf "Princess", was Abra in eine Reihe mit verwandten Künstlerinnen wie Kelela und FKA Twigs stellt. Go tell them girls you can't come for me/ Go tell the world that they can't come for me", postuliert sie souverän im kurzen Eröffnungstrack. In "Vegas" stilisiert sie sich zum Hauptgewinn, den Männer sich leisten können müssen, aber nicht jeder qualifiziert sich, wie sie in "Big Boi" klarstellt: "I'm not mad I'm just bored so get this motherfucker off me/ I could be a lot of things but I ain't your girl".

Süßlich und verletzlich gibt sie sich hingegen in "Pull Up" und "Thinking Of You": "Everything I have is yours", säuselt sie darin, und: "I want to build you a garden/ Filled with roses for each day the cold world caused your heart to harden". Wie lieblich! Aber Obacht: Letztes Jahr, in ihrem ebenso floral inspirierten Track "Roses", ließ sie bereits durchblicken, dass es mit ihren Fähigkeiten als Gärtnerin der Liebe nicht weit her ist: "I'm young and I'll waste you away".

Das ganze Spektrum identitärer weiblicher Fragestellungen, kondensiert in nur sechs ziemlich aufregenden, zwischen Depression, Aggression und Euphorie taumelnden Tracks. Von der Darkwave-Herzogin zur R&B-Prinzessin hat Abra es damit schon mal geschafft… (8.0) Andreas Borcholte

Kelsey Lu - "Church" EP
(True Panther Records, seit 8. Juli)

Verwunderlich ist es nicht, dass Kelsey Lus Debüt-EP in den USA beim selben Label erscheint, das auch Abras "Princess"-EP herausbringt: Beide Frauen eint, dass sie sich althergebrachter Stilistiken bemächtigen, um sie in eine gegenwärtige Tonalität und Gefühlswelt zu übersetzen. Anders als Abra bedient sich Kelsey Lu dabei größtenteils analoger Mittel. Ihre EP heißt vor allem deshalb "Church", weil sie live in einer Kirche in Greenpoint, Brooklyn aufgenommen wurde. Lu, die eigentlich Kelsey McJunkins heißt und aus Charlotte in North Carolina stammt, spielt Cello und singt, als Hilfsmittel kam eine Loop-Station zum Einsatz.

Die Kirche habe sie stets nur als Ort des Wehklagens wahrgenommen, erklärte Lu in einem Interview. Sie wuchs - ohne großen Zugang zu Popkultur - in einer strengen Gemeinde von Zeugen Jehovas auf. In die Kirche ging es nur zu Begräbnissen. "Wann immer ich dort war, sah ich Leute in tiefer Trauer, schreiend und weinend. Es sind sehr emotionale Orte für mich." Ihrer religiös-repressiven Kindheit entfloh sie durch einen Umzug nach New York, wo sie inzwischen von Devonte Hynes alias Blood Orange als für sein aktuelles Album gebucht wurde und sich als experimenteller Freigeist gibt. Auf einem aktuellen Foto entblößt sie provokant ihre Achselbehaarung, während ihre Brüste unter einer - durchsichtigen - Bluse kokett-keusch verborgen bleiben. Auf dem Kopf trägt sie stolz einen mächtigen Afro.

Mit den sechs Songs ihrer EP erobert sie nun ähnlich unverschämt den Befangenheitsraum Kirche für sich zurück. Die Töne ihres Cellos klingen warm-vertraut und außerweltlich zugleich, durch den natürlichen Hall und akzentuiert gesetzte Effekte entsteht ein Drone-artiger Gothic Noise, der geisterhaft aus einer fernen Vergangenheit herüberzuwehen scheint. Darüber erhebt Lu, quasi als Echo ihrer persönlichen Erfahrungen, einen von schrill bis sonor reichendes, in Folk und Gospel ebenso wie im klassischen Lied verwurzeltes Wehklagen. Man denke: Joanna Newsom mit Soul.

Es geht um Gefühlswirren in "Liar", "Morning After Coffee" oder im herzzerreißenden "Empathy", aber auch um die Transzendenz von Zeiten und Zuständen in "Time" oder "Visions Of Old". "I feel you in my dreams" sinnt sie im siebeneinhalbminütigen "Dreams" verwehenden Erinnerungen nach, gemeint sein kann hier sowohl ein Lover als auch ihr afroamerikanisches Kulturerbe. Politisch oder privat - Bedeutungen und Konnotationen verstrudeln beim Durchören der EP zu einem ganz und gar immersiven Ertasten von Ewigkeit. "Reality is sinking", singt Kelsey Lu einmal. Einfach fallenlassen. (7.7) Andreas Borcholte

Schoolboy Q - "Blank Face LP"
(TDE/Interscope/Universal, seit 15. Juli)

Am 7. Juli, wenige Stunden, nachdem der 32-jährige Afroamerikaner Philando Castile in Falcon Heights, Minnesota Opfer von Polizeigewalt wurde, twitterte Schoolboy Q folgende Zeilen aus seinem Track "Neva Change": "You see tHem ligHts get beHind us/ THey pull me out for my priors/ Wont let me freeze for tHey fire/ You say tHat footage a liar". Es ist eine tragische Spirale der Gewalt, die der Rapper aus Los Angeles hier beschreibt, die mit den gezielten Schüssen auf Polizisten in Baton Rouge ihren vorläufigen Tiefpunkt erreicht hat.

Dass die Rap-Zeilen vor dem Ereignis in Minnesota geschrieben wurden: egal. Immer wieder werden junge Schwarze willkürlich von Polizeistreifen kontrolliert. Das sogenannte racial profiling wird offiziell dementiert, aber im Alltag findet es offensichtlich statt: Der Generalverdacht, kriminell zu sein, führt zu erhöhter Gewaltbereitschaft der Beamten - am Ende sterben Unschuldige.

Schoolboy Q oder Quincy Matthew Hanley, wie er eigentlich heißt, ist nicht unschuldig, er blickt auf eine Vergangenheit als Gang-Mitglied und Drogendealer zurück. Bis vor kurzem war er selbst abhängig, vor allem von lean, dem Codeine-haltigen Hustensaft, der in der Hip-Hop-Szene populär ist. Q ist Mitglied der Top-Dawg-Posse um Kendrick Lamar und verbuchte 2014 mit seinem Majorlabel-Debüt "Oxymoron" einen Chart- und Kritikererfolg. Doch erst jetzt, ausgenüchtert und mit geklärtem Blick, veröffentlicht er sein bisher bestes Album.

"Blank Face" ist im Grunde ein Anachronismus, ein Gangsta-Rap-Album mit düsteren Geschichten von der Straße. Das ist eigentlich nicht mehr populär, seit unter anderem Label-Kollege Lamar das Genre für Spiritualität, Hoffnung und Vernunft öffnete, den Appell, die Verhältnisse zu ändern. Diesen Optimismus gibt es in den Versen und Reimen von Schoolboy Q nicht. "Neva Change", unterlegt von einem melancholischen Swingbeat, ist das zentrale Thema dieses bemerkenswert suggestiven Albums: So lange sich nichts ändert, werden die Biographien junger Schwarzer immer wieder auf die schiefe Bahn geraten, Drogen, Gewalt, Vorstrafenregister, "Niggas still killing niggas/ Cops slavin' niggas".

In "Black Thoughts", einem anderen Schlüsselstück von "Blank Face" berichtet Q aus dem Alltag: Entweder man wird verhaftet, bevor man einen klaren, verantwortlichen Gedanken fassen kann, oder die Drogen benebeln einem das Hirn. Jede gerappte Zeile ist wie ein zynisches Ausspucken, eine verbalisierte Verachtung, die in ihrer kalten Eindringlichkeit an Ice Cube erinnert.

Die Musik zu diesen lakonischen Bestandsaufnahmen lauert im Hintergrund, um Qs nun kohärenten und pointierten Raps Raum zu lassen. Nicht ganz so avantgardistisch, aber ähnlich wie bei Kendrick Lamar schleicht sich auch hier zwischen die sanft rollenden, unterschwellige Anspannung generierenden Beats und Bässe ein interessantes Jazz- und Soul-Feeling, ein Orgel-Motiv hier, ein Saxophon-Sample dort - bis hin zu Anderson.Paaks streichersatten Curtis-Mayfield-Hommage im Titeltrack.

Überhaupt Gäste: Von Kanye West, Jadakiss und SZA bis hin zu Miguel und Vince Staples listet Q eine beeindruckende Zahl charakterstarker Features auf. Bemerkenswert jedoch: Keines sorgt, wie sonst bei derartiger Promi-Huberei, dafür, dass der angespannte, wie aus einer Session wirkende Fluss des Albums unterbrochen wird. Im Gegenteil, es wird zum letztlich schmerzhaft aktuellen Kriegsberichterstatter-Choral: Im Westen? Nichts Neues.

Angestachelt von Kendrick Lamars "Good Kid, m.a.a.d. City" wollte Schoolboy Q einst unbedingt auch ein Meisterwerk raushauen. Mit "Blank Face" ist es ihm nun, etwas verspätet, gelungen, dem bad kid. (8.5) Andreas Borcholte


Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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