Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche

Nadine Shah läutet mit ihrem grandiosen Debüt-Album den Herbst ein, AlunaGeorge laufen mit süß-perfektem Designer-Pop dem eigenen Hype hinterher, Mäuse haben vielleicht endlich einen Hit - und die Elwins zeigen, dass man auch als fröhliche Band respektiert werden kann.
Von Andreas Borcholte und Jan Wigger

Nadine Shah - "Love Your Dum And Mad"
(Apollo Records/Alive, ab 26. Juli)

Absolut lobenswert, dass jemand eine Winterplatte im Hochsommer herausbringt! Durch "Love Your Dum And Mad" weht ein so kühler Herbsthauch, dass man sogar in diesen aktuellen, asphaltschmelzenden Temperaturen ein wenig fröstelt. Sehr angenehm, das. Mit rauem Wetter sollte sich Nadine Shah auskennen: Ihre Familienwurzeln sind norgwegisch und pakistanisch, aufgewachsen ist sie aber in einem kleinen Nordsee-Küstendorf mit malerisch-schroffen Klippen nahe Newcastle.

Nun sagt man ja den Nordengländern generell eine gewisse Ruppigkeit nach, Shahs Songs jedoch gehören zum Gefühlvollsten, was in diesem Jahr von der Insel kam, und dabei, wiederum sehr angenehm, ist Shahs Stimme alles andere als zart oder zerbrechlich zu nennen. Im Gegenteil: Vergleiche, sämtlich eher unpassend, mit Polly Jean Harvey und der späten Marianne Faithfull wurden von der britischen Presse bereits kolportiert. Was allerdings stimmt, ist, dass Shah ihre traurigen Weisen mit abgeklärter Nüchternheit und, bei aller stimmlichen Bandbreite und Virtuosität, mit einer gewissen Härte vorträgt - was dann vielleicht doch wieder zu ihrer nordischen Natur passt.

Nadine Shah, die in den vergangenen Jahren endlos durch Londons Live-Clubs tingelte und sukzessive ein immer größeres Publikum begeisterte, erzählt in ihren Liedern Geschichten, die nicht immer von ihr selbst handeln, die aber viel über ihre wohl grundsätzlich melancholische Haltung zu Liebes- und Lebensdingen verraten: "Aching Bones" eröffnet das Album mit einem industriellen Beat, der klingt, als hätte dafür jemand im Achteltakt mit einer Eisenstange an ein metallenes Geländer geschlagen. Dazu singt, nein: klagt und heult Shah darüber, wie es anfühlt, wenn man immer wieder vergeblich nach dem Glück sucht, aber doch jedes Mal enttäuscht wird: Alles tut weh - und stilistisch trifft Depeche Mode auf Nine Inch Nails.

Mit den Zipperlein des Alltags geht es in "To Be A Young Man" weiter, einem heiser gesungenen Abgesang an agilere Zeiten, getragen vom wuchtig-repetitiven Rhythmus einer Akustik-Gitarre - so etwas hätte, gesungen von Nick Cave, auch auf einem Bad-Seeds-Album Platz gefunden. "Runaway" beschreibt die Bitternis einer alternden Ehefrau, die von ihrem Mann im Stich gelassen wird, als die Kinder gerade aus dem Haus sind: "Los, renn schon zu deiner Hure", wirft sie ihm halb trauernd, halb verachtend hinterher, während sich die Musik im Hintergrund zu einem Sturm verdichtet. "All I Want" ist eine liebliche, elektronisch verfremdete Pianoballade, in der es darum geht, dass man auch mal schweigend im Café nebeneinander sitzen könnte, weil das eigentlich der ultimative Geborgenheitsbeweis ist. "Dreary Town" beschreibt mit burleskem Taumel den Stadtbummel zweier abgebrannter Lover durch die regnerische Stadt.

Die allseits ersehnte Happiness scheint ständig greifbar in diesen Liedern, doch im nächsten Moment ist sie schon wieder verflogen. Die Musik, ob elektronisch klirrend, metallisch schabend oder akustisch wallend, treibt und rotiert in einer stetigen Vorwärtsbewegung und suggeriert ewigen Fortbestand, doch dieses Gefühl der Kontinuität wird von Shahs Texten immer wieder durchbrochen, weil in jeder hoffenden Zeile auch die Ahnung eines Abschieds mitschwingt. Aus diesem Kontrast erwächst, bei aller Kühle, die Schönheit dieses erstaunlichen und berührenden Debüts. "I was a winter child", singt Shah in "Winter Reigns", dem letzten Song. Kein Zweifel. (8.3) Andreas Borcholte

"To Be A Young Man"-Videoclip von Nadine Shah auf tape.tv ansehen 

AlunaGeorge - "Body Music"
(Island/Universal, ab 26. Juli)

AlunaGeorge, ein Londoner Duo, bestehend aus der Sängerin Aluna und dem Programmierer George Reid, wurden bereits Ende letzten Jahres unter anderem von der BBC und uns zum nächsten großen Ding erklärt. Der Buzz, der sich in der Szene über Wochen oder Monate aufbaut, ist die Währung, in der Popmusik heute gehandelt wird, Aluna George oder andere aktuelle Hype-Geschöpfe wie Icona Pop, Charli XCX, Iggy Azalea, Haim oder Azealia Banks zögern die Veröffentlichung ihres Debüts aber vielleicht zu lange hinaus: Pop ist ein Geschäft mit kurzen Erregungsphasen, den Aufmerksamkeitsbogen zu überspannen, ist also gefährlich, denn von der Hype-Währung kann man sich als Künstler nichts kaufen, von Erlösen aus Plattenverkäufen aber schon, deshalb ist die CD-Veröffentllchung immer noch ein Muss.

Fast acht Monate nach dem ersten Ausrufezeichen erscheint nun also auch das AlunaGeorge-Debüt "Body Music" und muss den Vorschusskredit einlösen. Tut' auch: Frischer, eingängiger, blauäugig-seelenvoller klang britische Popmusik schon lange nicht mehr. Diese ultramoderne Soulmusik eignet sich perfekt, um zu ihr in einer lauen Sommerbrise zu swingen, am Hugo zu nippen, sich über die neuesten Mode-Accessoires auszutauschen oder auch nur träge am Bootssteg mit dem Fuß zu wackeln, der im besten Fall in einer teuren Designer-Sandalette steckt. AlunaGeorge ist Design-Pop, Hipster-Musik, Vernissagen-Soundtrack, Beschallung für den Catwalk, sprich: "Body Music" ist eines dieser Alben, auf dass sich vor allem die Zeitgeist-alerte Großstadt-Ausgehmeute einigen kann, und zwar vor allem deshalb, weil sie nicht den immer plumper werdenden Bump-and-Grind-Vorgaben des amerikanisch geprägten R&B und HipHop folgt, sondern sehr elegant Elemente aus Avantgarde-Elektronik und aktueller europäischer DJ-Kultur einfließen lässt.

Das ist vor allem George Reid zu verdanken, ehemals Mitglied einer nerdigen Mathrock-Band: Er mixt Dubstep, Glitch, 2Step und andere moderne Stile zu einer Musik, die eigentlich ein Echo aus den Neunzigern ist: Aaliyah, Destiny's Child und TLC stehen Pate, wenn Aluna Francis mit ihrer sehr süßen und unschuldig klingenden Stimme zu naiven Gesängen anhebt, die vom ebenso süßen Nichts handeln: Beziehungszeugs und Schwärmereien eben, nichts Besonderes. Die Cover-Version von Montell Jordans Swingbeat-Klassiker "This Is How We Do It" (Bonus-Track auf der CD) bringt die clevere Re-Animation dieser R&B-Phase, an der die allgemeine Retro-Welle gerade angekommen ist, schön auf den Punkt.

Wer AlunaGeorge hört, wird also intelligent und auf der Höhe der Zeit unterhalten, und das ist uneingeschränkt toll. Man wird aber auch nicht wirklich überfordert, denn "Body Music" ist zugleich so überleicht und locker wie einer dieser ganz in weiß beworbenen Raffaelo-Snacks - und streckenweise leider auch ebenso aseptisch.

Bemerkenswert außerdem: Auch wenn sich AlunaGeorge nun wirklich genug Zeit gelassen haben, um ein Album fertigzustellen, sind dennoch die bereits bekannten Songs die stärksten: "Attracting Flies" ist ein Pop-Stück für die Ewigkeit, dicht gefolgt von "You Know You Like It", "Your Drums" und "Just A Touch", allesamt bereits erfolgreich als Singles oder Internet-Tracks veröffentlicht. Von den neuen Songs überzeugen vor allem der an die Fragilität von The xx herantastende Opener "Outlines" und das Uptempo-Stück "Superstar".

Werden AlunaGeorge dem Erwartungsdruck also auf Albumlänge nicht gerecht? Falsche Frage. Besser: Führt die momentane Tendenz, den Hype zu strapazieren, nicht zu einer Überreizung, von der am Ende weder Künstler, noch Plattenfirma profitiert. "Body Music" ist ein gutes Album und AlunaGeorge ein aufregendes Pop-Projekt. Man wünschte nur, man hätte gerade eben erst zum ersten Mal davon gehört. (7.5) Andreas Borcholte

"You Know You Like it"-Videoclip von AlunaGeorge auf tape.tv ansehen 

Mäuse - "Das Judasevangelium"
(Monkey/Rough Trade, seit 12. Juli)

Rats! Wer stört mich beim "Rock Of Love"-Gucken? Der weitgereiste und in mindestens sechs Meisterdisziplinen genialische Tex Rubinowitz natürlich. Tex hat die wertvollsten Informationen, die besten Geschichten, die demütigendsten und erhebendsten Erfahrungen und die äußerst seltene Gabe, Ereignisse so einzuordnen, dass sie gleichzeitig niemals und auf jeden Fall so stattgefunden haben könnten.

Rückblende: Die allererste Mäuse-LP verkaufte damals 171 Einheiten; Kunststück, denn in den Läden wurde sie in der Märchenabteilung einsortiert - und die Leute dachten, es befänden sich erzählte Witze, etwa über Nilpferde und Nagetiere, auf der Platte. Der zweifelhafte Name Mäuse blieb an der Band über all die Jahre kleben wie Pech oder ein ausgetrocknetes Capri-Eis.

Das neue Album der mehrfach aufgelösten Wiener Band, die Krautrock und frühen Industrial ebenso liebt wie die Melvins, ist eine einzige Freude (und "unhörbar", wie diverse Abgehört-Stammleser bemerken werden): "Nichts ist besser als gar nichts" - mit lässig kühlem Joy-Division-Beginn - könnte der größte (oder einzige) Mäuse-Hit aller Zeiten werden, "Herbst auf Heroin" hat den straightesten The-Devil's-Blood-Song "Christ Or Cocaine" im Hinterkopf, "Il Pullover" zitiert "Another Day In Paradise" kurz vor der Verwesung, aber nein, das Riff stammt ja doch von "Als ich wie ein Vogel war" (Klaus Renft Combo)! "Der Hammer in der Hand des Idioten": Ein Hinweis auf Jeffrey Dahmer, der Löcher in Köpfe bohrte und Salzsäure reinträufelte, weil er dachte, er macht die Leichen so zu willenlosen Sexzombies. Und bevor ich es vergesse: Dass die Musik zu "In der Schlichtheit liegt der verdorrte Pomp" von Agnetha Fältskogs Ex-Verlobtem Dieter Zimmermann kommt, ist für mich als ABBA-Überfan eine mehr als willkommene Zugabe. (7.4) Jan Wigger

The Elwins - "And I Thank You"
(Affairs Of The Heart/Indigo, seit 12. Juli)

Schon seit vielen Jahren wacht der sanfte Riese Jan Schewe über sein durchaus nicht selten veröffentlichendes Label Affairs Of The Heart. Jetzt, im Juli 2013, hat er den großen Wurf gelandet. "And I Thank You" erschien anderswo bereits vor eineinhalb Jahren, und hätte man es schon damals gekannt, man wäre auf eine ähnliche Referenzliste wie heute gekommen: The Long Winters im vierten Gang, Brendan Benson zwischen "One Mississippi" und "Lapalco", Sloan zu Zeiten von "Twice Removed" (Wer "Penpals" nicht kennt, darf mit seinen Jellyfish-Vinylpressungen ab sofort nicht mehr angeben!), The Three O' Clock, Beatles und Beach Boys sowieso. Mit verwandten Worten: Formvollendeter Power-Pop aus Kanada, der den Sixties ebensoviel zu verdanken hat wie dem klassischen Gitarrenpop der neunziger Jahre. Für mich bemerkenswert ist dazu noch die Gemütslage der Protagonisten: Die vergnügte, freudestrahlende Musik scheint von ebenso glücklichen Menschen aufgenommen worden zu sein. Zitat Infoschreiben: "Eine fröhliche Band zu sein, ist keine leichte Entscheidung. Fröhliche Bands ziehen von Natur aus Misstrauen auf sich. Wir mögen unsere Künstler gequält, getrieben von dunklen Leidenschaften und Psychosen, darbend in der Dachkammer oder auf dem Fußboden ihrer Mietwohnung liegend." Wer das "And I Thank You"-Artwork kennt und "Come On Out" oder "Sittin' Pretty" gehört hat, versteht instinktiv, warum es in Zukunft auch anders sein könnte. (7.6) Jan Wigger

"Forgetful Assistance"-Videoclip von The Elwins auf tape.tv ansehen 

Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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