Abgehört Die wichtigste Musik der Woche
Kamasi Washington - "The Epic"
(Brainfeeder/Rough Trade, ab 15. Mai)
"He just plays the craziest shit, man. I mean everything - the past, present, the future": Steven Ellison alias Flying Lotus muss von Kamasi Washington schwärmen, er hat den 32-jährigen Saxophonisten und Bandleader bereits auf zwei seiner einhellig bejubelten Post-HipHop/Neo-Fusion-Alben protegiert, "Cosmogramma" und "You're Dead!". Mit seinem Label Brainfeeder Records und einer Gruppe junger Musiker aus Los Angeles will Ellison, Neffe der Jazz-Legende Alice Coltrane, HipHop und Jazz revolutionieren, Musik neue Relevanz, neuen "Punch" verleihen. Kamasi Washingtons wahrhaft episches Debüt-Album "The Epic", es erstreckt sich über drei Vinyls/CDs und ist mit 172 Minuten so lang wie "Der Pate", ist ein Meilenstein auf dem Weg, Brainfeeder zu einem so wichtigen Label zu machen wie Def Jam in den Achtzigern oder Impulse in den Sechzigern.
Erwartet hätte man von Washington eine ähnlich clevere und mutige Verschmelzung von modernen Beats und Rap mit Free- und Fusion-Jazz, wie es Flying Lotus und Brainfeeder-Bassist Thundercat auf ihren Alben bereits vorgemacht haben. Doch ein Teil der Radikalität von "The Epic" liegt genau darin, dieser Erwartung eben nicht zu entsprechen. Stattdessen feiert Washington mit einem 32-köpfigen Orchester, einem 20-köpfigen Chor und seiner zehnköpfigen Kernband aus jungen begabten Jazzern aus South Central L.A. eine so ungebrochen klassische Jazz-Messe, dass man beim ersten Hören gar nicht auf die Idee kommen würde, einem Album aus dem Jahr 2015 zuzuhören.
Schon im ersten Stück, es ist zwölf Minuten lang und heißt programmatisch "Changing Of the Guard", definiert Washington seinen Anspruch: John Coltrane, der große Erneuerer des Jazz, wird hier gleich in mehreren Phasen seiner Karriere zitiert - vom "Soul-Trane" über das erhabene "Love Supreme" bis zur explodierenden Hysterie von "Ascension" und "Infinity". Zwischendurch, inmitten dieses furiosen Orkans, der die Helden des Sechzigerjahre-Jazz-Aufbruchs variiert, von Coltranes klassischem Quartett über Ahmad Jamal und Jimmy Smith bis zu Miles Davis (mehr Inspirationen in meiner aktuellen Playlist!), gibt es ein, zwei Inseln der Ruhe, Gospel-Einlagen, die von den seelenvollen Gesänge Patrice Quinns getragen werden.
Und ganz am Ende, im Triptychon-Part der "Historic Repetition", nach dem großartigen, nach allen Sternen ausgreifenden "Re Run Home", nach dem sanften Swing von "Cherokee" und dem astralen Blues von "Clair de Lune", kommt in "Malcolm's Theme" der politische Charakter dieses Mammutwerks zum Vorschein, ein musikalischer Rückgriff auf den bürgerrechtlich bewegten Jazz und Soul der Sixties, auf das Black Power Movement des Revolutionärs Malcolm X, dessen beschwichtigende, für Verständnis und Frieden werbende Rede über Rassismus und Islam, Gott und Allah in der Coda zitiert wird.
Hier schließt sich der Kreis zu dem anderen herausragenden Album, das erst vor wenigen Wochen erschien und ebenfalls von der Brainfeeder-Posse betreut wurde: Kendrick Lamars "To Pimp A Butterfly". Es ist dieselbe revolutionäre Pose, derselbe Rückgriff auf diese damals so einzigartige Vermischung von Exkursen in kosmische Dimensionen und handfester, teils blutiger Realpolitik, von Silver-Surfer-Utopie und alltäglicher Segregation, die sich im Jazz der Sechziger manifestierte.
What goes around comes around: Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Ferguson und anderer rassistisch motivierter Übergriffe bei gleichzeitiger Prekarisierung ganzer Bevölkerungsgruppen, vorzugsweise Migranten oder ethnisch Minderheiten, sehen die Musiker um Steven Ellison und Kamasi Washington die Notwendigkeit für eine sich ebenso radikalisierende Musik. Wenn Lamars "Butterfly" die Erzählung für das Heute ist, eine auch musikalisch aktualisierte Novelle zum Zeitgeist, dann verhält sich "The Epic" dazu wie ein dickes Geschichtsbuch. Und zwar ein ziemlich aufregendes, sehr spannendes und extrem aufwühlendes. Eine Kampfschrift quasi.
Für die Schönheit und unbegrenzte Möglichkeit der Musik. Und wenn es diesen Brainfeeder-Leuten aus L.A. gelingt, die HipHop-Kids, die ihnen dank ihrer Hipster-Reputation eh schon folgen, für politisch motivierten Free Jazz zu interessieren, könnte das einer Revolution ganz schön nahe kommen. (10.0) Andreas Borcholte
Brandon Flowers - "The Desired Effect"
(Island/Universal, ab 15. Mai)
Diese Platte klingt ein bisschen nach Album des Jahres. Album des Jahres 1986, wohlgemerkt! Das war das Jahr, in dem Forschern von der Londoner Queen Mary Universität zufolge die Charts so einförmig klangen wie sonst nie in den letzten 50 Jahren. Das lag vor allem an den Drumsounds, konstatierten sie, die Snare mit ordentlich Patsch und Hall nach vorne gemischt.
Brandon Flowers liebt solche Schlagzeugklänge offensichtlich sehr, und auf seinem zweiten Soloalbum kann er diese Vorliebe mal so richtig ausleben. Angeblich hat den 1981 Geborenen ja der ältere Bruder auf den Sound der Achtziger gebracht, und er hat ganze Arbeit geleistet. Hier mal ein kleines Saxofon-Solöchen, dort eine Heroen-Phrase im Text, und dieses perlende Klavier? Ja, wirklich: von Bruce Hornsby gespielt.
Am weitesten treibt es Flowers bei "I Can Change", wo großzügig aus "Smalltown Boy" von Bronski Beat gesamplet wird (und Neil Tennant von den Pet Shop Boys eine Zeile singt).
Dass das so viel Spaß macht und nicht bloß ein nerdiges Nostalgieschwelgen ist, liegt zum einen daran, dass die Produktion von Ariel Rechtshaid natürlich bei allen Anspielungen absolut von heute ist. Und zum anderen daran, dass Brandon Flowers großes Talent für Refrains zum Hände in die Luft recken hat. Das bringt im Zusammenspiel mit dem gitarrenlastigeren Klang der Killers oft arg großes Pathos mit sich, hier haben sie etwas Verspielteres an sich.
Sieht man dann noch, wie sich der Sänger auf dem Cover und im Booklet formvollendet in Pose wirft, kann man David Fincher nur den Rat geben, für seine geplante HBO-Serie , die im Musikvideo-Milieu um 1983 herum spielt, eine Zusammenarbeit mit Flowers anzustreben. Für den Soundtrack natürlich! Ein paar Songs, die stilecht nach "Dritte Single aus dem Album, wir brauchen dringend ein Video mit Models" klingen, hat er sowieso. Aber eben nicht nur. (7.9) Felix Bayer
Hot Chip - "Why Make Sense?"
(Domino/Goodtogo, ab 15. Mai)
So viel kostenlose und zielgruppengerechte Werbung hat sich der Fußbekleidungs-Hersteller Nike nicht in den kühnsten Träumen vorstellen können: "Huarache Lights" heißt der erste Song auf dem neuen Album der britischen Elektropop-Band Hot Chip, also genauso wie der unter Sneakerfreaks längst legendäre Turnschuh. Sänger Alexis Taylor deutet das bekannte Streifenmuster am Schuhwerk zum Symbol für die neue Tanzbodensicherheit Hot Chips um: "When I see the beams of those Huarache Lights, I know every single thing will be just right", singt er und schwelgt ein bisschen in der Live-Atmosphäre seiner in den letzten Jahren immer öfter absolvierten DJ-Gigs.
Dazu sorgt Tour-Drummerin Sarah Brown für einen satten Beat, der den gesamten Hot-Chip-Sound auf bemerkenswerte Weise vom eher zerebralen Nerd-Studiogefummel auf die Disco-Bühne holt. Erstmals wird die Band ihren durchaus schwitzigen Live-Konzerten auch auf Platte gerecht.
Aber ist das auch gut? In der britischen Presse wird "Why Make Sense?" bereits als bisher bestes Album in der zehnjährigen Band-Historie bewertet, weil Anfassbarkeit und Live-Wärme im erweiterten Rock'n'Roll-Bereich eben immer noch als Qualitätsmerkmale gelten. Dabei traten gerade Hot Chip ja einst mit einem Gegenentwurf an, der den Grenzbereich zwischen Minimal-Techno, House und Soul einerseits klug auslotete, andererseits aber auch nicht vor pursten Pophits zurückschreckte: "Over And Over", "One Life Stand", "Ready For The Floor", "Don't Deny Your Heart" - Klassiker des beginnenden 21. Jahrhunderts.
Solche eindeutigen Hits gibt es auf "Why Make Sense" nicht, auch wenn "Huarache Lights", "Love Is The Future" (mit Gastrap von De La Souls Posdnuos), "Cry For You", "Started Right" (mit "Superstition"-Clavinet) und vor allem das an Imaginations "Just An Illusion" lehnende "Easy To Get" sich redliche Mühe geben. Stattdessen steht der Gesamtsound im Vordergrund, das Auskosten der neu gefundenen Muskulösität, als ginge es darum, Daft Punks über weite Strecken dann doch lahmende Disco-Erneuerung "Random Access Memories" zu ergänzen, wenn nicht zu übertreffen.
Der Album-Titel ist insofern Programm: Warum muss immer alles Sinn ergeben, wenn man's einfach auch mal unbeschwert grooven lassen kann? "You make my heart feel like it's my brain", säuselt Taylor verknallt in "White Wine And Fried Chicken". Das ist genussvoll, aber nicht unbedingt geschmackssicher. Willkommen im Mainstream. (7.2) Andreas Borcholte
Metz - "II"
(SubPop/Cargo, seit 8. Mai)
Auf dem Weg von Los Angeles nach Las Vegas, je nachdem, welche Route man nimmt, kommt man irgendwann, so auf halber Strecke, wenn es schon richtig heiß ist im Wagen, an der Ortschaft Zzyzx vorbei. Versuchen Sie mal, das auszusprechen, ist ein sehr psychedelischer Moment. Man grabbelt nervös nach hinten auf den Rücksitz im schon fast leeren Drogenkoffer nach einem Knick-und-Riech, aber es ist nur noch Äther da. Ach ja…
Mit Metz hat das eigentlich wenig zu tun, zumal die Band aus Toronto kommt, Ontarios New-York-Ersatz, an dessen glatten Hochhausfassaden sie mit ihrem schroffen, extra ungehobelten Hardcore-Sound kratzen wollen. Offenbar waren die drei Kanadier auf ihren ausgedehnten Tourneen aber auch irgendwann mal in Zzyzx, denn so heißt ein sonisch sehr interessantes Interludium auf "II", dem, nun ja, zweiten Album von Metz.
Es ist ein kurzer, nur eine halbe Minute langer Moment des Ausharrens in einer stürmischen, drängenden halben Stunde Angst- und Frustrations-Rock, wie er eigentlich gar nicht mehr hergestellt wird. Außer von einer knallharten Gruppe auf deftige Namen eingeschworene Bands wie Holy Fuck oder Fucked Up, beide ebenfalls aus Ontario. Graham Walsh von Holy Fuck, man kennt sich ja, übernahm dann auch gleich erneut die Produktion, wobei davon eigentlich keine Rede sein kann, sieht man von ein paar akustischen Mätzchen und Novitäten (Loops! Fuzz!) ab.
Das Schöne an "II" ist ja gerade, dass es keine großen Veränderungen gegenüber dem sehr guten ersten Album gibt. Metz, und da schließt sich dann doch der Kreis, sind eine Irritation wie Zzyzx, sie machen Lärm gegen das Gefühl, unsichtbar, irrelevant und unerwünscht in einer gleichgeschalteten Welt zu sein. Und das machen sie sehr, sehr gut. (7.0) Andreas Borcholte
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)