Album der Woche mit Phoenix Nachts im Museum

Ausgerechnet während der eigenen Musealisierung im Louvre gelangen den französischen Pop-Strebern von Phoenix die frischesten Songs seit Langem: »Alpha Zulu« ist unser Album der Woche. Und: Liedermacher-Gold von Tom Liwa.
Popband Phoenix

Popband Phoenix

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Shervin Lainez

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Album der Woche:

Phoenix – »Alpha Zulu«

Man weiß nicht genau, ob Thomas Mars und seine Kollegen von der französischen Band Phoenix Kartoffelbrei oder Tomatensuppe dabeihatten, als sie die Schlüssel zum Louvre ausgehändigt bekamen. Vermutlich eher nicht: Die vier Jungs aus Versailles, die schon zusammen Musik machten, als sie noch Teenager waren, gelten eher als Schöngeister, nicht als Punks. Sagen wir so: Andere erfolgreiche Künstler und Künstlerinnen aus Frankreich, die für einen aggressiveren Pop-Entwurf oder eine Herkunft aus dem Maghreb und der Banlieue stehen, wäre es sicherlich nicht so vertrauensvoll erlaubt worden, im Musée des Arts Décoratif, einem Seitenflügel des Palais Royal, ein Studio einzurichten. Dort haben Phoenix während der Schließzeiten des Coronalockdowns ihr siebtes Album »Alpha Zulu« aufgenommen.

Pop im Museum, dagegen haben sogar die Strebeur von Phoenix früher mal rebelliert. »Wie kann es sein, dass wir plötzlich wie eine Institution behandelt werden«, fragt sich Bandmitglied Laurent »Branco« Brancowitz im Begleitschreiben des Albums. Doch dann entdeckten sie inmitten von mittelalterlicher Kunst, Skulpturen und modernen Gemälden von Dalí dann doch einen tieferen Sinn hinter der metaphorischen Selbstmusealisierung. »Die Hinterbühne des Museums ist wie ein Mashup«, sagt Bassist Deck d’Arcy. »Es ist in gewisser Weise sehr poppig – so wie wir Musik machen.« Na gut.

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Kulturbeflissen wie sie sind, fühlten sie sich natürlich sofort an Godards Film »Bande à part« erinnert, in dem Claude Brasseur, Sami Frey und Anna Karina bekanntlich wetten, wie schnell man wohl durch das ehrwürdige Pariser Museum sprinten könne. Phoenix freuten sich wie kleine Kinder, nachts allein im Museum herumzutollen – und waren euphorisiert davon, dass sie nach der monatelangen Zwangstrennung (Sänger Mars wohnt in New York) endlich wieder zusammen spielen durften. Das Ergebnis ist kein gediegenes, saturiertes Spätwerk einer staatstragenden Bande von Mittvierzigern wie es das Botticelli-Gemälde auf dem Cover suggerieren könnte, sondern, erstaunlich genug, das frischeste Phoenix-Album seit Langem.

Gleich der Titelsong drängt mit pulsierenden Synthie-Grooves, »Umbrella«-Eh-he-heys und polymorphen Sprachsamples auf den Dancefloor, als ginge es darum, sich mit Macht den Staub aus den Knochen und den Designerpullis zu klopfen. »Wooh-ha, singing Hallelujah«, erinnert der Refrain wahrscheinlich nicht ohne Grund an das »Wooh-yeah« aus »Too Young«, dem ersten großen Hit von Phoenix aus dem Jahr 2000. Der Text ist Mars-typisch verrätselt, aber die Zeile »I must have died at fifty-one in 1953« verweist wohl auf »1901«, einen weiteren Hit vom vierten, in Indiepop-Kreisen wie ein Gral gehüteten Album »Wolfgang Amadeus Phoenix« (2009). »Why choose your body over time?«, gibt sich Mars befreit von Zwängen wie Zeit und Alter. Die Mona Lisa, »immortalized, décapitée« kommt auch im Text vor. Man war ja schließlich im Louvre.

Die Energie allein dieses Stücks ist beeindruckend und setzt sich in »Tonight« fort, für das Phoenix mit Ezra Koenig von der gleichsam eklektischen Band Vampire Weekend erstmals einen Gastsänger einluden. Auch wenn Gitarren, wenn überhaupt, eher im Hintergrund spielen und Songs wie »The Only One« an die Italo-Disco vom letzten Album »Ti Amo« (2017) anknüpfen, ist die Rückbesinnung auf den gerade wieder trendenden Nullerjahre-Sound überdeutlich. Fans der ersten Stunde können sich mit diesem Album gemütlich in Nostalgie einkuscheln, Barista-Kaffee schlürfen und im Ikeakatalog blättern, als wäre die Welt noch halbwegs in Ordnung. »Season 2«, in dem das Leben wie die nächste Staffel einer TV-Serie betrachtet wird, bringt dieses Gewohnheitsgefühl auf den Punkt. Musikalisch greift es die Einflüsse der Achtzigerjahre-Talking-Heads auf, die vor 22 Jahren bereits »If I Ever Feel Better« zum Hit machten.

Zwei Songs allerdings verorten Phoenix dann doch in einer moderneren Zeit: »Winter Solstice«, dessen Stream-of-Consciousness-Text über Entfremdung und fundamentale Veränderungen der Welt Mars ohne den Rest der Band in New York über ein zugeschicktes Programming sang, ist das vielleicht urbanste R&B-Stück, das die Band je aufnahm. Könnte auch an der erneuten Rihanna-Anlehnung liegen – in jedem Fall ist es ein hell schimmernder Diamant. Fast wie eine Sängerin klingt Mars im zweiten bemerkenswerten Stück, »All Eyes on Me«, das auf einem futuristischen Hi-NRG-Beat und düsteren Synthie-Gezappel darauf hinweist, dass Phoenix auch im Klassiker-Modus noch in der Lage sind, die Geisterbahn des Louvre in einen (gutbürgerlichen) Großstadtklub zu verwandeln. »I’m not that innocent«, säuselt Mars darin, und dass er unsere Aufmerksamkeit schüren wolle. Accompli! (7.8)

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Kurz abgehört:

Tom Liwa – »Eine andere Zeit«

Es gibt Songs, die einem sofort, nach nur wenigen Takten und ein paar Versen, in Mark, Herz und Gebein fahren. Und wenn dann der Refrain kommt, ist man komplett hinüber, will schluchzen und jubeln zugleich, mit weit offener Brust. »Schon wieder Februar« ist so ein Song, es ist gleich der erste vom neuen Album des Singer/Songwriters Tom Liwa. Es geht darin wie auf dem Album um die großen Fragen nach dem eigenen Selbst, das Suchen nach dem Sinn und das große Scherbenaufkehren nach Jahrzehnten des Herumwurstelns im Leben und zwei Jahren Pandemie. »Trotzdem Hoffnung, trotzdem Liebe, trotzdem frohes neues Jahr«, singt Liwa, der Ende der Achtziger als Sänger der Flowerpornoes begann, im Distelmeyer-Duktus, den er schon vor Blumefld beherrschte, und man weiß: Das ist die Hymne, zu der man sich an Silvester in den Armen liegen wird. Bob Dylan, Neil Young, Van Morrison schauten Liwa immer schon über die Schulter, auch hier, zum Beispiel in der Soulballade »Hunter«. Aber auf seinem vielleicht 22. Soloalbum ballt der 61-Jährige aus Duisburg noch einmal seine ganze, ureigene Songschreiberkraft zusammen, zwitschert sich einen im Park, singt aus der Perspektive von Frauen, bespiegelt sein Weltbild mit fiebrigen Rumpelrocksongs wie »Metal«, die von den Psychedelic Furs stammen könnten, wären die jemals wirklich psychedelisch unterwegs gewesen. Die Februar-Meditationen enden nach einem halben Jahr im Thailand und dem »Virgin Birth Blues« mäandernd und experimentell, fast im Jazz, beim zehnminütigen »Fast schon März auf dem Traumschiff Aida«. Und dann, in den Zugaben, zeigt sich der ganz und gar erfrischte Veteran ganz locker, Folk-flockig und verliebt in den »Einhornjungen«, in Joni Mitchell und Lou Reed (»Live in New York«), bis dann der Regen kommt, die Leuchttürme aus dem Nebel auftauchen und das Frühjahr ankündigen, vielleicht eine andere, bessere Zeit (»April Scythe«). Tom Liwa ist so ein Leuchtturm. (9.0)

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Hawa – »Hadja Bangoura«

Diese Frau hat keine Zeit zu verschwenden: Mit 15 hatte sie, eine der jüngsten Absolventinnen des Kompositionsprogramms der New Yorker Philharmoniker, genug von Partituren und war gelangweilt von Händel und Haydn. Sie wandte sich ihren afrikanischen Familienwurzeln in West-Guinea zu, wo die gebürtige Berlinerin auch teilweise aufwuchs, verschmolz Afrobeat-Einflüsse mit modernem Elektronik-R&B voller Glitches und atmosphärischer Leerstellen, wie ihn FKA Twigs oder James Blake entworfen haben. Nach einer bereits aufsehenerregenden EP vor zwei Jahren folgt nun ihr Debütalbum beim renommierten britischen Indie-Label 4AD. Gewidmet ist es ihrer afrikanischen Großmutter. Nur 18 Minuten und elf ultrakurze, manchmal skizzenhafte Tracks braucht die jetzt 22-jährige Sängerin, um mit selbstproduzierter Musik und einer heiseren, tiefen und verletzlichen Stimme ein bezwingend sinnliches Ambiente zu erschaffen, einen Klub- oder Resonanzraum ihrer Gefühle, in dem sie tiefe Bässe zum Tanzen wummern lassen kann (»Gemini«), aber auch gedämpfte Piano-Balladen wie »Progression« ausprobiert. Sie will den Respekt der Popbranche, sagte die selbstbewusste Quereinsteigerin in einem Interview. Sollte nach dieser Machtdemonstration kein Problem sein. (7.7)

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Moin – »Paste«

Anders als der norddeutsch klingende Bandname vermuten ließe, kommen Moin aus London und gehören im weitesten Sinne zu der dort gerade boomenden Post-Postpunk-Szene. Das Spektrum von »Paste«, dem zweiten Album des Trios, ist allerdings eher Post-Hardcore, wenn man solche Genres und Zuschreibungen mag. Wie bei Shellac kreist die oft improvisierte und weit offen gehaltene Musik um das präzise Schlagzeugspiel von Drummerin Valentina Magaletti, dazu spielen Joe Andrews and Tom Halstead (beide ehemals von Raime) Bass, Gitarren und Geräusche. Aber vom energetischen Lärm solcher Vorbilder sind Moin sehr weit entfernt. Tracks wie »In A Tizzy«, das nur aus Flageolett-Tönen, Hintergrundgeschnatter und -gelächter sowie anderen Field Recordings besteht, betonen den experimentellen Anspruch und erinnern an Slint, aber am besten sind Moin, wenn sie ihr Hardcore-Skelett in einen angespannten, aber auch sehr sinnlichen Groove versetzen, wie in »Wrong Foot« oder »Yep Yep«. Der Sound, (Großstadt-)Wüstenrock von Mathematikern, ist tief in der Vergangenheit verwurzelt, wirkt aber dennoch auf den Punkt modern. Man denke: Dry Cleaning, wenn Florence Shaw gerade mal nichts zu sagen hat. (8.2)

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Special Interest – »Endure«

Nicht ganz so elaboriert, dafür aber bezwingend energetisch ist das queerfeministische Bandprojekt Special Interest, das aus der DIY-Szene in New Orleans hervorgegangen ist – und das Publikum mit seinem zweiten Album in einen heiß brodelnden Kessel Disco-Punk schubst. Auch hier ist der pulsierende Drumbeat das zentrale Element, er ist allerdings synthetisch und treibt einen düster-dumpfen, elektronischen Industrial-Sound an; man stelle sich am besten eine verschwitzte, dreckige Arbeiterklassen-Version von Gossip vor. Zu den Einflüssen des Quartetts, angeführt von der charismatischen Frontfrau Alli Logout, muss man aber auch so unterschiedliche Acts wie Ministry oder Coil, B-52’s oder klassischen Chicago-House zählen. Es ist ein wilder, eklektischer Mix, der sich manchmal anhört, wie man sich Mitte der Neunzigerjahre, in zivilisationsdystopischen Filmen wie Kathryn Bigelows »Strange Days« die Rockmusik der Zukunft vorstellte. Diese Dystopie, gespeist aus neuem Faschismus, erstickender Gentrifizierung, Rassismus und Hassreden im Internet, ist nun Realität in den Texten von Logout, die ihre Band zusammen mit Gitarristin Maria Elena 2020 und einer Bohrmaschine (!) inmitten der US-Proteste gegen Polizeigewalt startete. Der Rave-Track »(Herman’s) House« handelt vom jahrzehntelang eingesperrten Black-Panther-Aktivisten Herman Wallace, der sich im Knast sein Traumhaus in Freiheit ausmalte. Den hämmernden, wütend an den Verhältnissen rüttelnden Soundtrack zum Prison Riot liefert diese Band. (7.7)

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

Abgehört im Radio

Mittwochs um Mitternacht (0.00 Uhr) gibt es beim Hamburger Webradio ByteFM  ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte. Seit 1. Januar 2022 sendet ByteFM in Hamburg auch auf UKW (91,7 und 104,0 MHz).

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