Album der Woche Warum jetzt, Alicia?

Cover des neuen Albums von Alicia Keys
Reden wir über verpasste Chancen und schlechtes Timing: Ende Januar, es ist eine halbe Ewigkeit her, setzte sich Alicia Keys zu Beginn der Grammy-Verleihung, deren Gastgeberin sie war, ans Piano und stellte binnen zwei Minuten klar, warum sie ein Weltstar ist. "It's a new decade! It's time for newness!", rief sie beseelt ins Publikum und postulierte: "We refuse the negativity. Feel me on that".
Die ermutigende Energie, die von der US-Sängerin damals, am Tag nach ihrem 39. Geburtstag, ausging, konnte in diesem Augenblick nun wirklich jeder fühlen. So viel Optimismus, Glaube, Hoffnung - es treibt einem heute noch Tränen der Rührung in die Augen, wenn man den Clip ansieht. Es war ihr Moment.
Dann kamen Corona und der Lockdown, Krankheit, Angst und Tod. Dann wurde George Floyd getötet, und auf den Straßen Amerikas explodierte der Protest gegen Rassismus. New York, oft besungene Heimatstadt von Alicia Keys, Element ihrer musikalischen DNA, litt am schlimmsten. Von "Newness", vom Aufbruch in eine neue Dekade ist längst keine Rede mehr. 2020? Fuhgeddaboudit!
"Alicia", das siebte Album von Alicia Keys, hätte eigentlich im März veröffentlicht werden sollen, parallel zu ihrer Biografie "More Myself", die im Verlag von Oprah Winfrey erschien. Buch, Album, Welttournee, so das Triple-Kalkül. Wurde dann aber nichts, wegen der Pandemie. Ein halbes Jahr später wirkt die verspätete Veröffentlichung von "Alicia" nun seltsam willkürlich. Warum jetzt?
Songs wie das zwangspoppige "Underdog" (von Ed Sheeran mitgeschrieben) und "Good Job", eine Ode an die stillen Systemrelevanten des Alltags, trösteten bereits vor Monaten. Auch "Perfect Way To Die", eine berührende Piano-Ballade mit Billy-Joel-Touch über die Opfer von Polizeigewalt, wurde bereits im Juni, auf dem Höhepunkt der Black-Lives-Matter-Proteste, veröffentlicht. Sieben von 15 Songs sind bereits bekannt, darunter die ungenießbar bombastische Power-Ballade "Love Looks Better" (das können Beyoncé und Taylor Swift besser) und der an Funkadelic angelehnte Disco-Track "Time Machine".
Der Rest ist, nun ja, gediegen - verfügt aber nicht über die Experimentierfreude und Grittyness des Vorgängeralbums "Here" von 2016, das damals genau zur rechten Zeit erschien. "3 Hour Drive" (mit Sampha) weiß durch "In The Air Tonight"-Ambiente zu betören, "Me x 7" versucht vergeblich, die gefeierte Indie-Rapperin Tierra Whack in einen "Royals"-artigen Popsong zu zwängen.
Und die Zuversicht von "Authors of Forever" wirkt im Herbst dieses Krisenjahres mit seinen "It's all right"-Beschwörungen reichlich schal - zumal man zum karibischen Geklimper und Wellenrauschen (!) des Schunkelsongs ständig Lionel Richies "All Night Long" mitsummen will. Warum mit "Wasted Energy" auch noch ein Reggae aufs Album musste, bleibt ein Rätsel. Der Songtitel scheint Programm.
Man verstehe das Gemecker nicht falsch: Alicia Keys ist nicht nur eine tolle Sängerin, sondern längst auch eine politisch relevante Künstlerin und (zusammen mit zahlreichen Unterstützern) gute Songwriterin, die auf diesem selbsttherapeutischen Album ihre eigene Historie - Armut in Hell’s Kitchen, alleinerziehende Mutter, Aufstieg aus gesellschaftlicher Marginalisierung zum erfolgreichen Popstar - in einen größeren, soziokulturellen Zusammenhang setzt.
Dennoch wünscht man sich, Keys hätte "Alicia" damals einfach digital veröffentlicht, die finanziellen Einbußen hätte sie wohl verkraftet - und sich dann ans Piano gesetzt, um aus dem Corona- und Aufruhralltag ihrer City heraus ein paar rohe, unmittelbare, nicht so glattpolierte neue Songs geschrieben. Ungefähr so wie am vergangenen Freitag, als sie zur Eröffnung der NFL-Saison die heimliche Nationalhymne Afroamerikas sang. Ein weiterer Keys-Moment, der dieses Album überstrahlt. (7.0)
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Kurz abgehört
A.G. Cook - "Apple"
Die Apfel-Assoziation stellt klar: Charli-XCX-Produzent, PC-Music-Labelboss und Pop-Akzelerationist stellt sich in die Tradition von Tech- und Musikinnovatoren. Einen Monat nach seinem monströsen Solodebüt "7G" jagt er seine durchaus hinreißenden Hooks und Melodien hier weitaus weniger verstörend durch den Teilchen- und Geräuschebeschleuniger. Emocore für Futuristen. (7.5)
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Ava Max - "Heaven & Hell"
Die Promimagazine und Realityshows bei RTL brauchen ja immer viel affektierte Musik, um das Elend auf der Mattscheibe zu beschallen. Beim Debüt von Ava Max werden sie fündig: Das Radikalste an der irre erfolgreichen US-Sängerin ("Sweet but Psycho") ist ihr Haarschnitt und ein tolldreister Rip-off von "Major Tom" im Song "Born to the Night". Ob sie weiß, dass es Lady Gaga schon gibt? (1.5)
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Kitty Solaris - "Sunglasses"
Huch, die Gitarre ist weg! Kitty Solaris ist seit über zehn Jahren eine Heroine der Berliner DIY- und Indiepop-Szene, jetzt bringt sie ihr bisher bestes Album heraus: Elektronische Beats und Achtziger-Wave lassen die immer schon funkelnden Pop-Hooks ihrer Songs umso heller leuchten. Die "Sunglasses" braucht man aber allein schon wegen des grandiosen Corey-Hart-Covers. (8.0)
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Deradoorian - "Find The Sun"
Ist das noch psychedelisch oder bloß esoterisch? Egal. Angel Deradoorian, ehemals Sängerin und Bassistin der Experimental-Rockband Dirty Projectors, channelt aus ihrem Faible für vedische Astrologie und den Tiefen ihrer Einsamkeit ein weiteres, berauschendes Soloalbum, das klingt, als hätte Jefferson Airplane sich einst mit Can zur Jamsession getroffen. (8.2)
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Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)