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Eurovision Song Contest: Andreas Kümmert sagt ab

Foto: Jochen Lübke/ dpa

Kümmert-Rückzieher "Der wahrhaftigste Moment in der ESC-Geschichte"

Oje, der Sieger will nicht! Andreas Kümmert gewinnt beim ESC-Vorentscheid - und verzichtet zugunsten der Zweitplatzierten. Darf er das? Eurovision-Experten beantworten die wichtigsten Fragen zu Kümmerts Absage.

Wieso hat Kümmert eigentlich einen Rückzieher gemacht?

"Ich bin nicht wirklich in der Verfassung, diese Wahl anzunehmen", sagte Kümmert am Donnerstagabend. Über seine genauen Beweggründe wird noch gerätselt. Wie seine Plattenfirma Universal Music mitteilte, habe er die Entscheidung, nicht am ESC-Finale teilnehmen zu wollen, selbst gefällt. Eine Begründung? Blieb in dem Statement aus.

"Er scheint gemerkt zu haben, dass er all das, was vor und nach seinen Auftritten los ist, nicht ertragen konnte", vermutet der für den ESC zuständige ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber. Er habe nach Kümmerts Absage noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen.

"Du fährst jetzt nach Wien", sagte Moderatorin Barbara Schöneberger gestern der ungläubigen Ann Sophie. Ist die Entscheidung damit sicher?

Laut NDR habe Schöneberger "das einzig Richtige" getan. Auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE bestätigte Thomas Schreiber, dass es bei der Entscheidung bleibe.

Der Journalist Irving Wolther, der über den ESC promoviert hat, mutmaßt, dass Schöneberger das nicht allein entschieden haben kann: "Als Moderatorin hat sie einen Knopf im Ohr und bekommt Anweisungen von der Regie." Bei so einer großen Veranstaltung habe sie das aufgrund der juristischen Implikationen nicht einfach selbst entscheiden können.

Nun tritt die Zweitplatzierte für Deutschland in Wien an. Entspricht das dem ESC-Regelwerk?

Dass ein Gewinner absagt, hat es in der Geschichte des ESC noch nie gegeben. "Das hatten wir uns nicht vorstellen können", so ARD-Mann Thomas Schreiber. "Man rechnet ja auch nicht mit einem Raumschiff auf einem Gemälde von Vincent van Gogh", sagt ESC-Experte Jan Feddersen dazu. Es gebe darum schlichtweg keine Regeln, die diesen konkreten Fall abdecken. Also Ermessenssache: Für den internationalen Eurovision Song Contest gilt das internationale Regelwerk; in den Teilnahmeländern sind die Sender frei in ihrer Entscheidung. Damit scheint es in formaler Hinsicht in Ordnung, dass nun Ann Sophie antritt - obwohl sie im letzten Durchgang nur 21,3 Prozent der Stimmen erhielt.

Bekannt seien bislang nur Fälle von Disqualifizierungen, die damit zusammenhingen, dass Lieder zu früh veröffentlicht oder von anderen Künstlern gesungen worden waren, erklärt ESC-Experte Wolther. So wurde 1976 Tony Marschall disqualifiziert, als bekannt wurde, dass sein Beitrag "Der Star" vier Jahre zuvor von Niza Thobi gesungen worden war. Oder 1999 die blinde Sängerin Corinna May, deren Song "Hör' den Kindern einfach zu" vorher schon einmal veröffentlicht worden war.

Müsste der Vorentscheid nicht wiederholt werden?

"Grundsätzlich hat sich durch den Verzicht von Herrn Kümmert das ganze Wertungstableau verschoben", sagt Wolther. Deshalb sei es verständlich, dass andere Kandidaten verärgert seien und eine Wiederholung als wünschenswert empfinden könnten. Das hält Wolther aber auch aus Kostengründen für undenkbar: "Es wäre aus Sicht des Fernsehveranstalters unverantwortlich, wieder Hunderttausende Gebührengelder zu investieren."

Der ESC ist, obwohl die Sänger im Vordergrund stehen, ein Komponistenwettbewerb. Wäre es also nicht konsequent, dass ein anderer Künstler die von Kümmert und Christian Neander geschriebene Musik in Wien vorträgt?

Wie Wolther erklärt, sei das in der Vergangenheit - in einem aus seiner Sicht vergleichbaren Fall - schon einmal so praktiziert worden: 1971 hätten Nicole & Hugo für Belgien mit dem Song "Goeiemorgen, morgen" antreten sollen. Als Nicole erkrankte, performten Jacques Raymond und Lily Castel dann das Lied. "Das ist allerdings heutzutage, angesichts der engen Verstrickung zwischen Komponisten, Produzenten und Künstlern, nicht mehr so ohne Weiteres zu machen."

ARD-Mann Schreiber hält es offenbar für keinen guten Weg, Kümmerts Titel von einem anderen Künstler performen zu lassen. Er verweist auf Kümmerts eigene Darbietung: "Die Zuschauerinnen und Zuschauer haben zwar für einen Song angerufen, aber eben in der unvergleichlichen und einzigartigen Interpretation von Andreas Kümmert."

Nach der Absage Kümmerts buhte das Publikum; im Netz reagierten Nutzer mit Unverständnis. Was ist davon zu halten?

Für Wolther ist die Frustration des Publikums nachvollziehbar. Er deutet die Reaktionen nicht als eine persönliche Bekundung für oder gegen Kümmert oder Ann Sophie: "Die vielen Fans, die Kümmert die Daumen gedrückt, angerufen und SMS verschickt hatten, ließen so ihrer Wut freien Lauf."

Für Feddersen hingegen sind die Buhrufe so "kleingeistig", dass es ihm die Sprache verschlagen habe. "Kümmert hat einfach gesagt, dass er es nicht schafft - ein verheerendes Selbstbekenntnis", sagt er. Und fügt hinzu: "Das war der wahrhaftigste Moment in der deutschen ESC-Geschichte, an den ich mich erinnern kann."

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