Abgehört - neue Musik Die Schönheit des Stirnrunzelns
(Fiction/Caroline/Universal, seit 7. August)
Als Another Sky die Songs für ihr Debütalbum probten, taten sie das in völliger Dunkelheit. Der Kellerübungsraum hatte nur ein kleines, hoch gelegenes Fenster zur viel befahrenen New Cross Road im Süden von London, sodass einzig die flackernden Blaulichter von Polizei- und Krankenwagen die Finsternis, die Musik und die Konzentration der Band illuminierten.
Eine schöne Legende und ein schönes Bild, aber wenn es so war, wie es die Band in Interviews erzählt, hat sich das immersive Abtauchen in den eigenen Sound gelohnt: Nur sehr selten erzeugte das Album einer Rockband in jüngster Zeit einen größeren Sog, eröffneten Rocksongs weitere, offenere Räume für beklemmende Themen wie Depression Entfremdung, Einsamkeit und Perspektivlosigkeit. Hätte die im letzten Jahr so verstörende wie betörende Teenage-Angst-Serie "Euphoria" nicht ohnehin schon einen sehr gelungenen Soundtrack, "I Slept On The Floor" hätte sich ideal geeignet - obwohl es kaum Elemente der gängigen Pop-Genres Hip-Hop und R&B enthält (außer im Titelstück), sondern den Post-Rock von Mogwai sowie Radiohead und Talk Talk zitiert.
Das allein wäre nichts Besonderes, eine weitere Bande von Epigonen halt, die sich am College kennengelernt haben (Goldsmith in diesem Fall, unweit des Proberaums an der New Cross Road) und schlaue, komplex arrangierte Rockmusik spielen wollen. Another Sky, zwei Frauen und zwei Männer, verfügen jedoch nicht nur über das handwerkliche Talent, aus diesem Anspruch tatsächlich auch gute Songs mit bezwingenden, energischen Hooks ("I Fell In Love With The City", "Brave Face") zu konstruieren, sondern zudem über das Songwriting und den Gesang von Catrin Vincent, einer Stimme, die nur alle paar Jahrzehnte mal in der Popmusik auftaucht. Das Spiel mit der Geschlechtsidentität der Frontperson ist inzwischen so etwas wie ein Running Gag in der kurzen Historie der Band. Erste Auftritte absolvierten Another Sky - natürlich - auf abgedunkelter Bühne, sodass im Publikum zunächst viele rätselten, ob der Gesang männlich oder weiblich war. Catrin Vincent fragt kokett: "Why does it matter?" und freut sich, dass ihr auf diese Weise immerhin zugehört werde.
Ähnlich wie Thom Yorke kann Vincent binnen weniger Takte vom sonoren Indie-Murmeln in operettenhaftes Bariton-Falsett wechseln, in den Höhenlagen klingt sie ein wenig wie die Alternative-Rock-Version von Joni Mitchell, eines ihrer musikalischen Vorbilder. Ansonsten nennt sie gern den Elektronik-Musiker Jon Hopkins, Tracy Chapman oder dystopisch veranlagte Schriftstellerinnen als Inspiration: Margaret Atwood, Sally Rooney. In ihren eigenen Texten wimmelt es von mörderischen Polizisten ("the blues"), Gewalt und Verzweiflung lauern hinter jeder Straßenecke. "Everyone is afraid" beginnt sie die Gefühls- und Gesellschafts-Exegese zaghaft nach einem langen, atmosphärischen Intro im ersten Song "How Long": "Are we just alive to be until we die/ Waiting for another open door?".
Als Kind, offenbar aufgewachsen in einer englischen Kleinstadt voller Rassismus und Bigotterie, habe Vincent derart unter Angstzuständen gelitten, dass sie nur auf dem Fußboden schlafen konnte. Vor Betten und dem, was sich unter ihnen verbergen könne, habe sie sich gefürchtet. Ihre Persönlichkeit, ihre progressiven Gedanken zu Sexismus, Feminismus und sozialen Missständen habe sie nicht preisgeben wollen. Erst der Umzug nach London habe dieses mentale Locked-in-Syndrom gelockert. Wütende Zeilen wie "You put on your brave face, now girl/ And when they push you, stand as stone, braver still", aber auch Sehnsüchtiges wie "Life Was Coming In Through The Blinds" erzählen aus dieser Zeit von Vincents allmählicher Selbstermächtigung. Mit dieser Kraft zieht sie sich nun sehr eindrucksvoll das von männlichen Nerds und Mathefreaks definierte Post-Rock-Genre in einen feministischen Zusammenhang.
In "The Cracks", einem der besten Songs dieses erstaunlichen Debüts, findet Vincent zu postheroischer Resilienz: "Is it enough that we tried to see the void, give pain a voice?", fragt sie, um dann schnurstracks auf den Abgrund zuzulaufen: "So we run, headfirst into oblivion". Die Band entfacht dazu einen treibenden, auf donnernder Perkussion, Gletscherrauschen und perlender Akustikgitarre auf und ab schwingenden Hymnen-Sound, der sich wirkmächtig in Arenen entfalten wird, sollte man dort irgendwann wieder auftreten können. Ansonsten tut's auch der Abspann eines Klimakatastrophen-Blockbuster.
In der berauschenden, aus Emo und Goth, Hauntology und Protest-Folk, Arcade Fire, Chvrches und "808 & Heartbreak" destillierten Depri-Dramatik ballt sich der No-Future-Fatalismus der Generation Z zu einem mitreißenden, gänzlich unsentimentalen Pathos allgemeiner Missbilligung: Die Schönheit des Stirnrunzelns. Und wir dachten schon, Rock wäre tot. (9.0) Andreas Borcholte
(WSP / The Orchard, ab 14. August)
Über den österreichischen Rapper Crack Ignaz weiß man, dass er einen der fantasiebeflügelndsten Künstlernamen im deutschsprachigen Hip-Hop hat. Was man nicht weiß: Wie er wirklich heißt. Wie alt er genau ist. Was er noch so alles so treibt, neben seiner Kunst. Der selbsternannte "König der Alpen" ist gut im Verbergen.
Was man aber weiß: Bekannt wurde Crack Ignaz als Mitglied von Hanuschplatzflow, einer Salzburger Crew rund um Young Krillin und den aus Wien dazu gestoßenen Hipsterfavoriten Yung Hurn. Mit einem Klangkaleidoskop aus Trap, Schmäh und Dada. "Sturm & Drang", sein drittes Soloalbum, klingt nun nach einem Pop-Rap-Soundtrack zu Fragen wie: Ist das jetzt Liebe oder nur (noch) eine Simulation davon? "Baby, ich bin nicht dein fucking Game Boy", heißt es an einer Stelle. Und: "Baby, warum spielst du mit mir Spiele?"
Crack Ignaz tut nicht so, als würde er die Antworten kennen. Er druckst rum, wohl weil er selbst hin- und hergerissen ist, wie im Song "Bipolar": "Ich müsst' schon lang in Therapie, aber lieg' wieder hier bei dir." Die Beats dazu haben die Trap-Schule besucht. Sie treten einem zwar in den Hintern, aber nicht zu doll. Die Synthesizer sind so fluffig, als wollten sie vom Schmerz ablenken. "Du blickst durch mich durch mit deinen eisblauen Augen", heißt es in "Bipolar". "Wie als wär' ich nicht da, und ich fang an, es dir zu glauben. Wie als wär' ich nicht real." Zu erkennen, wer man ist und wer nicht, was Liebe ist und was nicht, scheint für Crack Ignaz durch die Allgegenwart des Virtuellen zusätzlich erschwert: "Online, allein, meine Liebe ist cyber", sprechsingt er im Track "Neontränen" - und fragt in einem anderen: "Bist du echt?" Crack Ignaz ist verwirrt. Und das ist ganz schön.
Im Song mit der flexenden Wortneuschöpfung im Titel, "Herzschmerzgang", gibt er sich erst gefühlskalt ("Was ist love, scheiß auf love, weil ich money make"), um in der nächsten Strophe die Traurigkeit zu umarmen ("Wir sind diese Crew mit dem Herz so schwer"). Ach, die Liebe. "Könnte nicht einmal beschreiben, was der Scheiß bedeutet", rappt er in "Flaschenpost". Kann er aber doch, auch wenn Crack Ignaz in seinen Sprachbildern vor allem kontrastreiche Tupfer setzt und lieber viel Weißraum lässt, statt alles auszumalen. Er deutet vieles an, ohne zu viel zu verraten, passend zum Image als Verberger. Er taucht alles in eine geheimnisvolle Melancholie, nach der auch die entrückten Sound-Anspielungen des italienischen Produzenten Bvrger klingt: Anspielungen an Funk, an Soul, an Kanye Wests "My Beautiful Dark Twisted Fantasy". Und wenn in "Flaschenpost" die Wellen rauschen, dann fragt man sich gleich: Sind die echt? (7.4) Jurek Skrobala
(14th Floor/Warner, ab 14. August)
Wonach riecht die Band Biffy Clyro? Es ist kein Geheimnis, sie riecht nach Erfolg. Unter anderem. Mit schweißtreibender Rockmusik und oberkörperfreien Konzerten hat sich die schottische Kleinstadtgruppe um den Sänger und Gitarristen Simon Neil eine Ausnahmestellung erarbeitet. Biffy Clyro sind die letzte größte Band der Welt, sie spielen in Stadien und Riesenhallen, mit Luftballons, Konfettikanonen und unsichtbarer Gitarrenverstärkung. Sie haben ein Image und eine Formel, und beide funktionieren. Biffy Clyro haben sogar "Q" und "NME" überlebt, die beiden englischen Popzeitschriften, die jahrzehntelang darüber bestimmten, wer denn nun die größte Band der Welt ist.
Neil und die Johnston-Zwillinge Ben (Schlagzeug) und James (Bass) haben nie geleugnet, dass ihr Aufstieg zu Nummer-eins-Alben und Platinauszeichnungen ohne Feinjustierung nicht möglich gewesen wäre. Im Lauf der letzten 20 Jahre sind Biffy Clyro vom Art-Rock-Nachwuchs zum Alt-Rock-Mutterschiff mutiert, sie haben dafür vieles abgeworfen, was die dynamisch-vertrackten Songs ihrer ersten Karrierephase ausgezeichnet hatte. In manchen Ecken genießen alle Biffy-Alben vor 2005 Kultstatus. Es gibt eine kleine, laute Rock'n'Roll-Minderheit, die der Band ihre Popstar-Wendung bis heute verübelt.
Dabei haben Biffy Clyro nichts verlernt: Auch in ihrem heutigen Pop- und Stadionrock steckt noch manche ihrer früheren Eigenheiten. Man muss sie nur freischaufeln unter "Woah-oh-woah" und "Hey-hey-hey"-Refrains, hartem Kitsch aus dem Orchestergraben und Synthie-Spielereien, zu denen höchstens The Killers noch sagen würden: Geiler Sound, Brüder! "A Celebration Of Endings" heißt das achte Album von Biffy Clyro, es enthält all die gerade beschriebenen Geschmacksverirrungen, und doch ist es den Ärger wert, den alte Hardcore-Fans und weiterhin Rock'n'Roll-gläubige Zuhörer damit haben werden.
Als hätten sich Queen in eine schottische Kneipenschlägerei verwickeln lassen, beginnt "A Celebration Of Endings" mit "North Of No South", einer artistischen Kombination aus mehrstimmigem Gesang und Mähdreschergitarre. Es folgen Geigen, gestrichen und gezupft, noch mehr Mähdrescher und schließlich der Biffy-typische Befreiungsrefrain. Besser als mit diesem Auftakt kann man das Stadion nicht bespaßen - erst im späteren Verlauf des Albums kommen die "American Idol"-Balladen und die allzu offensichtlichen Crowd-Pleaser, ohne die es heute wohl nicht mehr geht.
Biffy Clyro wirken mitunter zerrissen zwischen Ambition und Pflicht, aber auch daraus machen sie einen Song. "Cop Syrup" war bereits angekündigt als vertonte Lebensgeschichte ihres Sängers, nun streckt sich das Stück über sechs Minuten, mit Kreischattacke, Mellotron und Streicheroutro inklusive New-Age-Touch. Fast hätte man das Album für dieses Kitschfinale in Erinnerung behalten, aber dann folgen seine besten 20 Sekunden, ein letztes Aufbäumen der ursprünglichen Dreierbesetzung von Biffy Clyro, das es bei den Foo Fighters, bei Muse und all den anderen Rockriesen niemals geben würde. Das Schlusswort? "Fuck everybody, woo!" Stimmt so, danke. (7.4) Daniel Gerhardt
(Four Music, seit 7. August)
Zugezogen Maskulin sind so etwas wie das alternativ-innovative Architektenbüro des Deutschrap und dessen innerlich kaputteste Abrissunternehmer zugleich. Moritz "Grim104" Wilken und Hendrik "Testo" Bolz haben sich einst während ihres Praktikums bei der Internetplattform Rap.de kennengelernt und sind heute nicht bloß Hip-Hop-Akteure, sondern auch kritische Beobachter des Genres. "Zehn Jahre später", rappt Grim104 bilanzierend im Titeltrack ihres neuen Albums, "ich bin so müde vom Ringen zwischen Kommerz und Kunst."
"10 Jahre Abfuck" gibt dem Wort "Abrissparty" eine neue Bedeutung: Auf dieser Party wird nicht mit Konfettikanonen geschossen, diese Schüsse gehen gleich "ins Genick" oder "in mein' Kopf". Wenn hier getanzt wird, dann "auf dem Vulkan". Und über all dem hängt keine Discokugel, sondern ein Schild, auf dem "Exit" steht. So heißt der letzte Track, der klingt, als wollte er sich mit seinen beständig störenden und dazwischen funkenden Sounds am liebsten gleich selbst zerlegen. "Ich will raus, ich will raus. Viel zu lange schon abhängig von Applaus", rappt Testo. "Hatte Hype, hatte Rausch, alles brannte. Doch es ging vorbei, und es blieb kalte Asche."
Schon 2015 brannte auf ihrem zweiten Album wirklich alles, dann begingen Zugezogen Maskulin auch noch "Vatermord", jetzt übergießen sie sich selbst mit Benzin. Hieß die Losung ihres dritten Albums noch "Alle gegen Alle", richten sie sich nun zwar auch gegen Nazis oder toxische Männer, aber vor allem gegen sich selbst. Gegen ihre Existenz als Rapper. Gleich mehrere Despoten herrschen in den Tracks, hier ein "depressiver König Midas", da "König Alkohol": Monarchie und Abfuck. Und wenn "Der Erfolg" besungen wird, dann ist es eine Chiffre für: Die Oberflächlichkeit. Die Einsamkeit. Die Düsternis.
Preisabfragezeitpunkt
06.03.2021 13.13 Uhr
Keine Gewähr
"Ihr sollt uns weiter lieben, während wir euch alle hassen", hyperventiliert Grim104 verzerrt in "Dunkle Grafen" über das perverse Verhältnis zwischen Stars und Fans, während einer der Produzenten des Albums, Ahzumjot, die Aussage im Track "Fans" umdreht und so die Scheinheiligkeit der Rapper offenlegt: "Ich lieb' meine Fans, also gib mir dein Geld." Der Bass darunter scheint den Zuhörern, also den Fans, eine Herzrhythmusstörung wünschen zu wollen. Sogar im Sommerhit des Albums, der, logisch, davon handelt, dass der "Sommer vorbei" ist, klingt der Synthesizer am Ende so traurig aus, als wollte er sicherstellen, dass niemand einen happy Popsong im Gedächtnis behält.
Überhaupt stottert die Musik auf diesem Album, das eines der ungemütlichsten und besten Deutschrap-Alben der vergangenen Jahre ist. Sie schwankt oder stolpert, als könnte sie keinen Halt finden. Die Bässe vertonen, was Testo wohl meint, wenn er rappt, dass er "in den Abgrund starre" - um sich zu fragen: "Aber wird es wirklich schlimmer oder wird mein Blick nur klarer?" Beides, vermutlich. (8.9) Jurek Skrobala
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