Avril Lavigne "Punk ist alt, ich bin jung"
Gar nicht so einfach, das mit den Freuden der Jugend. Vor allem, wenn man zwischen 12 und 18 Jahren alt ist, ein Mädchen zudem. Dann gibt es eine Menge, was einem den Spaß verderben kann - Eltern und Lehrer, die nervige Vorschriften machen und nichts, was wirklich wichtig ist, zu begreifen scheinen. Jungs, die sich oft noch dämlicher anstellen und sich ständig daneben benehmen. Die eigenen Launen und Leidenschaften, die sich manchmal so schnell ändern, dass man selbst nicht mehr mit kommt.
Nicht mal auf den eigenen Körper ist mehr Verlass. Da kann man jede Unterstützung brauchen, die man kriegen kann. Die 14-jährigen Mädchen vor einem Hotel in Köln könnten ein Lied davon singen. Sie warten hier auf jemanden, der das an ihrer Stelle tut.
Seit die damals 17-jährige Kanadierin Avril Lavigne vor zwei Jahren in ihrem Song "Complicated" die Beziehungsnöte heranwachsender Mädchen in einem knackigen Popsong verpackte und auf der Bühne die aufmüpfige Göre gab, gilt sie jungen Mädchen weltweit als Identifikationsfigur. Von ihrem Debüt-Album "Let Go" wurden bisher mehr sechs Millionen CDs verkauft.
Lavignes Karriere begann in dem verschlafenen Nest Napanee in Kanada. Dort wurde die jüngste Tochter eines streng christlichen Haushalts, die seit ihrem achten Lebensjahr in der Kirche gesungen hatte, von ihrem ersten Manager Cliff Fabri entdeckt, als sie in einem Buchladen sang. Damals war Avril Lavigne gerade 14 Jahre alt. Ein behütetes Mädchen, das religiös gefärbte Country-Balladen sang und keine Ahnung davon hatte, was im Pop-Universum sonst so passierte. Im gleichen Jahr gewann sie einen Gesangswettbewerb. Der erste Preis: ein Live-Duett mit Shania Twain. Kurz nach ihrem 16. Geburtstag organisierte ihr Manager ein Treffen seiner jungen Sängerin mit einem Manager des Plattenkonzerns Arista. Der 15-minütige Termin endete mit einem Vertrag über zwei Alben, dotiert mit 1.25 Millionen Dollar. 2002 erschien ihr Debüt-Album. Und innerhalb kürzester Zeit avancierte Avril Lavigne zur großen Hoffnung der Pop-Industrie. Sie gilt als echter, authentischer Gegenentwurf zu Boy-Bands, Britney Spears, Christina Aguilera und all den anderen Stars, die durch eine clevere Casting- und Werbemaschinerie auf den Popthron gehievt wurden. Eine, die in Videos als Skater-Göre mit Punk-Attitude zu sehen ist und auf der Bühne selbst Gitarre spielt.
Ein Gegenentwurf, auf den die Zielgruppe, vor allem die weibliche zwischen 12 und 20, gewartet zu haben scheint. Auf ihren Konzerten schreien sich Horden von jungen Mädchen heiser, die meisten von ihnen gekleidet wie ihr Idol: weite Hosen, Turnschuhe, einfaches, ärmelloses T-Shirt und darüber eine gestreifte Krawatte, Lavignes Markenzeichen in den ersten Jahren.
Seit Wochen wirbt sie nun schon für ihr neues Album "Under My Skin", gibt Interviews und ist in amerikanischen Shopping-Malls aufgetreten, Akustik-Sets ohne Band, nur sie und ihr Gitarrist. Ort und Zeitpunkt der Konzerte wurden erst 48 Stunden zuvor im Internet bekannt gegeben. Trotzdem kamen Zehntausende. An diesem Abend wird sie in Köln ausgewählten deutschen Fans ihre neuen Songs präsentieren. Die Tür zu ihrem Hotelzimmer wird von zwei Kolossen versperrt. Die Männer haben die Statur von amerikanischen Wrestlern, die muskelbepackten Arme sind tätowiert. Einer hat die Haare zu einem Irokesenschnitt geschoren. Auch wenn sie freundlich grüßen, ihre schiere Präsenz ist einschüchternd.
Das Mädchen in dem Hotelzimmer dagegen verschwindet beinahe in den Sofapolstern. Sie reicht ihrem Bodyguard gerade mal bis zur Brust, ihre Hüfte ist schmaler als dessen Oberschenkel. Seit sie vor einigen Monaten von einem Stalker bedroht wurde, geht Avril Lavigne nicht gerne ohne Schutz in die Öffentlichkeit. Millionenfach verkaufte Alben und begeisterte Fans machen das Leben als Teenager nicht unbedingt leichter. Avril Lavigne, dunkel gekleidet, schwarz gefärbte Strähnen in ihrem langen Haar, eine große Brille auf ihrer Nase, sieht missmutig aus. Wenn sie könnte, würde sie wohl tatsächlich in den Polstern versinken und so den ewigen Fragen entgehen. Lieber würde sie auf der Bühne stehen, rocken, Spaß haben. "Alles andere", sagt sie , "interessiert mich nicht."
In der Championsleague des Pop besetzt Avril Lavigne den Platz der jugendlichen Rebellin. Eine Rebellin, mit der sich auch Erziehungsberechtigte einverstanden zeigen, Mütter bedanken sich bei der Sängerin, dass sie sich nicht so anzieht wie Britney Spears und ihren Töchtern ein gutes Vorbild gibt. Eine Art nette große Schwester, der man es nachsieht, wenn sie hin und wieder ein wenig über die Stränge schlägt. Ein echtes junges Mädchen eben, kein Produkt schmieriger Männerphantasien. So die Legende.
Eine Legende, die beinahe zu gut klingt, um wahr zu sein. Und ganz so wahr wohl auch nicht ist. Wie groß die Beteiligung der jungen Musikerin an ihren Hit-Singles gewesen sein soll, ist strittig. An ihrem ersten Album, inklusive der Hits "Complicated" und "Skaterboy", hat ein Produzenten- und Autorenteam maßgeblich mitgearbeitet, und Fabri, ihr erster Manager, den sie kurz nach Unterzeichnung ihres Plattenvertrages feuerte, behauptet gar, ihr ganzes Image sei aufgesetzt und von der Plattenfirma entwickelt. "Sie ist vielleicht künstlicher als Britney jemals war," sagt er. "Als ich sie kennen lernte, war sie eher eine Folk-Sängerin als Punk." Die Wahrheit liegt, wie immer im Pop, wohl irgendwo dazwischen.
Avril Lavigne mag all das Gerede um Punk und Rebellion mittlerweile nicht mehr hören. "Dieses Image hat sich die Presse ausgedacht," sagt das zierliche Mädchen, "sicher, ich bin kein Engel und halte mich nicht immer an Regeln. Aber ich sehe mich auch nicht als Rebellin." Das gleiche gilt für ihr Punk-Image. "Ich hasse das", sagt sie, "ich bin kein Punk, meine Musik ist kein Punkrock. Ich habe keine Ahnung von Punk, Punk ist ziemlich alt, ich bin jung. Ich frage mich, wo zum Teufel dieses blödsinnige Image herkommt."
Tatsächlich taugt das Mädchen, das in ihrer frühen Jugend keinen Jungenbesuch auf dem Zimmer empfangen und nicht auf Partys gehen durfte, nur bedingt zur wüsten Rebellin. "Damals hat mich das geärgert, ich wollte ausgehen, Spaß haben, mir mit Freunden die Nächte um die Ohren schlagen. Heute bin ich froh, dass meine Eltern so streng mit mir waren", sagt sie. "Sie haben mich beschützt. Jugendliche geraten einfach zu schnell in Schwierigkeiten." Sie weiß, wovon sie redet - einmal hat sie sogar ein Auto gestohlen und gegen die Wand gefahren, weil sie den Besitzer nicht leiden konnte. Aber das macht tatsächlich noch keinen wilden Punk aus ihr.
Mit dem Image der Anti-Britney dagegen kann sich die 19-Jährige durchaus anfreunden. "Das finde ich okay", sagt sie. "Ich denke, ich bin in vieler Hinsicht tatsächlich das Gegenteil - ich trage Kleidung, ich kann singen und ich schreibe meine Stücke selbst." Das ist das Thema, über das Avril Lavigne besonders gerne redet: Wie sie die Stücke für ihr neues Album, das am 25. Mai erscheint, gemeinsam mit der kanadischen Singer-Songwriterin Chantal Kreviazuk geschrieben hat, dass diese Stücke gitarrenlastiger, dunkler, tiefer und ernster als die auf ihrem ersten Album sind und ihre Persönlichkeit widerspiegeln. Stücke, in denen sie die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens thematisiert, nicht zuletzt auch den Stress mit hohlköpfigen Jungs, die einem Mädchen immer nur an die Wäsche wollen.
Ihren Fans, den Mädchen vor ihrem Hotel und anderswo, wird das genügen.