Abgehört Die wichtigsten CDs der Woche
Babyshambles - "Sequel To The Prequel"
(Parlophone, Warner, seit 30. August)
Das phantastische Cover-Artwork deutet es an: Peter Doherty, einstmals illster Shamble unter der Sonne, hat mit allen Farben gemalt, die zur Verfügung standen. "Sequel to the Prequel" ist die erste Babyshambles-Platte seit "Shotter's Nation" (2007), zudem Dohertys erstes musikalisches sign of life seit "Grace/Wastelands" vor vier Jahren. Da mein Leben ohnehin in nichts anderem mehr besteht, als die Jahre 2007 und 2009 zurückzuholen, war ich bei den ersten Hördurchläufen von "Sequel to the Prequel" einigermaßen beglückt: Was für eine stürmische, aufgeräumte, Formen sprengende, konzentrierte Platte! Doherty brabbelt, stottert und lallt nicht mehr, er singt deutlich, forsch und absurd sentimental, während die Instrumente ihm immer folgen und man im äußerst allgemeinverträglichen Chorus von "Farmer's Daughter" sogar glaubt, Dohertys Verwandlung vom alten Spitzbuben und Ganoven in Jesus Christus beizuwohnen.
Doch Outlaw Pete starb nicht für unsere Sünden nach der Schrift, sondern lebt gegen jede Wahrscheinlichkeit im hinreißend schaurigen Paris weiter. Der Titelsong ist feinste Kinks-Süffisanz, "Dr. No" ein fertig-unfertiger Reggae (weil Pete es kann) und "Nothing Comes to Nothing" Byrds-infizierter Power-Pop in halbem Tempo. In "Penguins" besingt der Fuchs einen Schwarm, der am liebsten in den Zoo ging, um Affen, Schlangen und Pinguine zu beobachten - aber vergeben scheint: "I really don't like your boyfriend's face/ And I am going to try and take his place." Die vergleichsweise geordnete, maßvolle Dichtkunst erstaunt, und natürlich ist "Picture Me in a Hospital" das emblematischste Stück: "Picture me in a hospital/ The blood runs red and the bags are full of.../ It's hysterical, makes me powerful/ False alarm, there's still a song for me/ And I'm still here singing." Möge Albion, dieses Königreich aus Schutt und Watte, niemals untergehen. (8.4) Jan Wigger
Factory Floor - "Factory Floor"
(DFA/Pias, ab 6. September)
Wichtige Information für alle aufstrebenden Post-Wave-Bands, die nach prominenter Unterstützung suchen: Man kann einfach auf einen Briefumschlag "Stephen Morris, Macclesfield" schreiben - und schon kommt das Demo bei Joy Division/New Order-Drummer Stephen Morris an. So zumindest erlebten es Factory Floor, was dazu führte, dass Morris eine EP für das Londoner Trio produzierte. Okay, das macht Morris bestimmt nicht für jede dahergelaufene Kapelle, man sollte wohl mindestens so gut sein wie Gabriel Gurnsey, Dominic Butler und Sängerin/ Gitarristin Nik Colk Void, die bereits seit einigen Jahren mit brutal-minimalistischen Auftritten (mit Live-Drums und Gitarre) und flirrendem Video-Artwork auf sich aufmerksam machen und nun auf James Murphys DFA-Label ihr Debütalbum veröffentlichen.
Stephen Morris nannte den Sound von Factory Floor recht treffend "unsettling disco", britische Medien beschrieben das Minimal-Techno-Geklapper mit Voids verhalltem Gesang als postapokalyptischen Clubbing-Soundtrack. Ein guter Freund und Kritikerkollege beschreibt so etwas immer ganz pragmatisch als "kalten Elektro", und damit sind wir dann schon bei Anne Clark, mit deren frühen Pioniertaten "Sleeper in Metropolis" oder "Our Darkness" sich Factory Floors akribisch reduzierter Sound durchaus in Zusammenhang bringen lassen. Die Band selbst begreift sich als Fabrikarbeiterteam am Fließband der Musik und verwahrt sich dagegen, den Namen des berühmten Manchester-Labels aus reinem Opportunismus in ihren Namen übernommen zu haben. Tatsächlich scheinen die meisten Tracks bei kondensierendem Atem in strahlend weißen Labors mit stählernen Präzisionsinstrumenten entstanden zu sein. In "Work Out" (das Herbie Hancocks "Rockit" in Erinnerung ruft) oder dem "Blue Monday" zitierenden "Here Again" kommt aber auch ein gewisser Hang zur Funkyness zum Tragen, das Spiel mit Referenzen ist durchaus gewollt und funktioniert, ohne dass alles in seliger Rückwärtsgewandtheit erstarrt. Im Gegenteil: Getreu dem DFA-Credo bemühen sich Factory Floor um eine Übersetzung elektronischer Klänge in einen analog hergestellten, durchaus Kaltschweiß treibenden Rock-Zusammenhang. Was Nik Colk Void dazu mit entrückter, gefühlloser Androidenstimme nuschelt, bleibt im Verborgenen, wahrscheinlich sind es die post-industriellen Frustration und das emotionale Vakuum, die in dieser Musik Programm sind.
Aber manchmal sind Andeutungen ja viel aufregender als totale Transparenz, so wie im Videoclip zur Single "Fall Back", das als angenehme Antithese zur Full-Frontalness des notorischen "Blurred Lines"-Clips zu verstehen ist: Acht Minuten lang sieht man Kopf und Oberkörper eines blonden Models, das aufreizend lächelt, aber nicht mehr tut, als sich immer wieder die Haare im Nacken zusammenzuhalten und dann wieder auszuschütteln: eine Shampoo-Werbung, verfremdet mit bunten Video-Art-Einsprengseln, unterlegt mit monoton peitschendem Beat und somnambulen Vocals, die wie ein mutwillig emotionsbefreiter Pornofilm-Dialog wirken. Ein fröstelnder Blick in die Mechanik konsumistischer Erotik. (7.6) Andreas Borcholte
FKA Twigs - "EP2"
(Young Turks/XL Recordings/Beggars/Indigo, ab 6. September)
Immer wieder sind es die Schlafzimmer oder dunklen Kellerräume, Teenager-Höhlen oder -Refugien, in denen aufregende Popmusik entsteht. FKA Twigs, deren Spitzname "Zweige" ist, weil ihre fragilen Knochen immer so laut knacken, stammt aus dem ländlichen Gloucestershire und gibt zu, nicht gerne auszugehen, und wenn, dann um am Tresen des örtlichen Pubs ein paar Pfund dazuzuverdienen. Eine schüchterne, Ballett-tanzende 25-Jährige mit jamaikanischen Wurzeln, die Songs schreibt, seit sie 16 ist und mit ihrer zweiten EP eine vielversprechende Aussicht auf ihr 2014 erscheinendes Debütalbum gibt, wenn nicht auf einen der definierenden Sounds des kommenden Jahres. Und dabei ist das alles eine sehr feine, sehr leise, eher unscheinbare Angelegenheit. Man könnte sogar sagen: Größere Intimität, sorry James Blake, hat Pop seit dem ersten Album von The xx nicht mehr erzeugt; folgerichtig erscheint FKA Twigs nun auch auf dem xx-Imprint Young Turks.
Mit verhauchter, schüchterner Soulstimme (von irgendwo aus der Vergangenheit wehen Massive Attack herüber) singt Twigs über Krieg und Frieden im Porzellanladen der Liebe, dazu wird sie von spärlichen, gebrechlich-verblichenen Synthie-Geräuschen und klackernden Beats begleitet, die irgendwie immer eine Art Melodie ergeben, auch wenn die Zwischenräume, die Glitches, zwischen den einzelnen Soundelementen manchmal mehrere Sekunden zu dauern scheinen. FKA Twigs gibt sich als zartes Pflänzchen ("Water Me"), das sich naiv-lasziv über emotionale Dürre beschwert: "He won't make love to me now". Im zugehörigen Videoclip von UK-Künstler Jesse Kanda zeigt sie sich enervierend buggy-eyed als personifiziertes Kindchenschema. Im Clip zu "How's That", noch so einer geflüsterten Venusfalle von Song, werden Körper aus flüssigem Metall oder Papier grafisch von der Musik in Fetzen gerissen. "How does that feel", fragt Twigs dazu kokett. Es wird ja einerseits viel über die große Verinnerlichung der als alternativ geltenden Popmusik geredet, den Rückzug ins Allerprivateste, andererseits aber auch über die Hinwendung von Musikern zur Mode- und Kunstwelt. FKA Twigs verbindet diese beiden Trends instinktiv. Ihr hypermoderner TripHop ist akribisch designtes, aber dennoch pur vermitteltes Gefühl, eine Andacht gebietende Offenbarung von Seele, die idealerweise den Klangraum einer Kirche braucht, damit sich ihre Leerstellen mit Resonanz aufladen - und damit so viel Nähe überhaupt erträglich wird. (8.2) Andreas Borcholte
Earl Sweatshirt - "Doris"
(Columbia/Sony, seit 30. August)
Vom kindlichen Kraftmeier im Friseurstuhl, der noch vor drei Jahren im Video zu "Earl" damit angab, Drogen- und Alkohol-Cocktails aus dem Fruchtsaftmixer zu saufen, ist nicht mehr viel übrig. Damals muss Thebe Neruda Kgositsile 15 oder 16 gewesen sein, ein juvenile delinquent, das jüngste Mitglied der Odd-Future-Truppe um Tyler, The Creator, das damals schon als größtes Talent des HipHop-Haufens aus Kalifornien betrachtet wurde. Doch als Odd Future ihren Weg in den Rap-Mainstream begannen, fehlte von Earl Sweatshirt plötzlich jede Spur, Fans begannen, auf Konzerten mit "Free Earl"-T-Shirts herumzulaufen. Dann kam heraus, dass seine Mutter Cheryl, eine Bürgerrechtsaktivistin und Anwältin, ihn nach Samoa in ein Erziehungscamp verschifft hatte, weil das ständige Herumhängen und -dösen mit der Rap-Posse sich auf seine schulischen Leistungen ausgewirkt hatten. 2012 gab es ein zaghaftes Comeback, unter anderem mit einem Gastrap in "Super Rich Kids" auf Frank Oceans "Channel Orange"-Album, und nun soll sich mit Earls Debüt-Album "Doris" endlich das größte Versprechen der jüngeren HipHop-Geschichte erfüllen.
Man weiß nicht, was auf Samoa passiert ist, der Wandel ist jedoch signifikant, wenn man das berüchtigt-blutige Earl-Video mit Sweatshirts jüngstem Auftritt bei Jimmy Fallon vergleicht: Dauerbedröhnt ist er wohl noch immer, aber gleichzeitig auch nüchterner, düsterer, reflektierter. In "Burgundy", das er auch in Fallons Show darbot, entschuldigt er sich dafür, vielleicht nicht genug um seine jüngst verstorbene Oma getrauert zu haben, weil er zu sehr damit beschäftigt war "this fucking album" fertig zu bekommen. Er reflektiert den Erwartungsdruck, der auf dem jungen Reimtalent, Sohn eines früh abwesenden Promi-Poeten aus Südafrika, lastet ("I'm afraid I'm gonna blow it"), kündigt aber zugleich an, aus genau diesem Druck Kraft und Inspiration zu schöpfen: "I'm about to gonna relish in this anguish". Und genau das macht er dann auch auf Albumlänge: "Doris" ist, ähnlich wie die Debüts von Altersgenossen wie Kendrick Lamar oder A$AP Ferg, eine Coming-of-Age-Geschichte aus der dritten Rap-Generation, die strengen Old-School-Regeln folgt: Kaum eine Melodie, kein Hook durchbricht den steten abgeklärt und sonor vorgetragenen Wortfluss, der, in Stücken wie "Hive" oder "Hoarse" mit bedrohlich nächtlichen Noir-Beats und TripHop-Atmosphären aufgeladen wird.
Sweatshirts Stärke ist nicht, wie bei Lamar, das Narrativ, sondern die Wortreihung, seine Reime sind kunstvoll und treffsicher - eine konzentrierte Abrechnung mit Gangster-Lifestyle, Vaterkomplex und Rollenkonflikten, deren world weariness auf traurige Weise das Alter des Protagonisten konterkariert. Statt mit ausgeschlagenen Zähnen und Drogenküche schockt Earl Sweatshirt drei Jahre nach seiner Initiation mit der Desillusion und Erschöpfung eines von der Straße früh Verschlissenen. Und begeistert mehr denn je als einer der intensivsten und begabtesten Rapper seiner Generation. Allein um seiner Kunst Willen möchte man hoffen, dass er mit seinem Testament der Angst noch nicht alle Dämonen aus seiner Seele vertrieben hat. (7.9) Andreas Borcholte
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)