Wahl bei den Berliner Philharmonikern
Wer folgt auf Simon Rattle?
Die Berliner Philharmoniker küren als einziges Top-Orchester der Welt ihren neuen Chefdirigenten selbst - und entscheiden so über ihre künstlerische Zukunft. Wer wird der Nachfolger von Simon Rattle? Eine Übersicht.
Simon Rattle: seit 2002 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker
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Klar, im Prinzip will jeder den Chef-Posten bei den Berliner Philharmonikern. Auch wenn sich manche Kapellmeister offiziell zieren oder Gleichgültigkeit heucheln, gilt doch: Allein gefragt zu werden, kommt schon einem Nobelpreis gleich.
Wer den ersehnten Anruf bekommt, steht aber auch vor einem Höllenjob. Er prägt die künstlerische Zukunft des für viele besten Orchesters der Welt; er muss einen Haufen von Spitzenkönnern bändigen, die schon alle und alles können und kennen. Und ein Karajan wird nun mal nicht jedes Jahr geboren. Womit wir schon beim Kandidaten Nummer eins wären.
Christian Thielemann: Berlin dürfte ihm noch besser gefallen
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Der Favorit:Christian Thielemann, 56. Als Schüler Herbert von Karajans, geboren in Berlin, bestens zu Hause im deutschen Kernrepertoire der Berliner Philharmoniker, erscheint er beinahe als Reißbrettentwurf für den Idealkandidaten. Obendrein im soliden Dirigenten-Alter und mit durchsetzungsstarkem Chef-Gen ausgestattet, könnte er den Laden führen. Sogar in Richtung modernes Repertoire hat er sich schon orientiert. Falls das nicht bei Schostakowitsch endet, wäre er eine vernünftige Wahl.
Nicht jeder mag ihn, aber was soll's: Everybody's Darling ist everybody's Depp, sagte einmal eine Münchner Führungspersönlichkeit. Thielemann residiert in Dresden bei seiner Staatskapelle auf einem komfortablen Thron, aber Berlin dürfte ihm noch besser gefallen. Er käme ohne Frage sofort, wenn man ihn ruft.
Der Kandidat der Herzen:Gustavo Dudamel, 34. Der quirlige Venezolaner gilt als diszipliniertes Energiebündel, er kann motivieren und so unterschiedliche Orchester wie das Los Angeles Philharmonic und die Göteborger zum Klingen bringen.
Mahler beherrscht er, Beethoven auch, ebenso Schostakowitsch und Strawinsky oder selten gespielte Komponisten wie Carl Nielsen. Ob sein Charisma auch für eine Institution wie die Berliner Philharmoniker ausreicht, bezweifeln manche. Spannend wäre die Paarung auf jeden Fall, aber ein Risikounternehmen. Fraglich, ob Dudamel wirklich über die Berufung ehrlich jubeln würde.
Mariss Jansons: Fachlich perfekt
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Der Makellose:Mariss Jansons, 72. Der Lette hat allen alles bewiesen, er dirigiert die Wiener souverän und liefert mit seinem Orchester des Bayerischen Rundfunks regelmäßig Weltklasse ab.
Jansons kämpft in München auch für den neuen Konzertsaal, er ist ein intelligenter, respektierter Spitzenmusiker mit weitem Horizont und allen Qualifikationen, allerdings nicht mehr ganz jung. Es gibt kaum einen fachlich besseren Kapellmeister als ihn. Er hat allerdings gerade seinen Vertrag mit dem Bayerischen Rundfunk bis 2021 verlängert.
Der jugendliche Held: Andris Nelsons, 36. Ein Schüler von Mariss Jansons und mit ähnlichem Charisma begabt: Andris Nelsons aus Riga wirkte schon mit 24 als Chefdirigent der dortigen Oper, überzeugte mit seinem Bayreuther "Lohengrin" und fasziniert mit einem breiten Repertoire. Entspannt und lächelnd kitzelt er auch aus den größten Routiniers prickelnde Neugier heraus, was zu Spitzenleistungen führt.
Eigentlich hat er sich gerade für das Boston Symphony Orchestra entschieden. Und alle mögen ihn - vielleicht ist er zu nett für die Berliner?
Kirill Petrenko: Natürliche Autorität
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Der Perfekte: Kirill Petrenko, 42. Er hat wohl schon still abgewinkt, denn an der Münchner Oper herrscht Kirill Petrenko so souverän, dass er sich kaum verbessern muss.
Nach seinem Bayreuther "Ring"-Triumph kann er sich die Engagements aussuchen. Alles, was er anfasst, gelingt derzeit. Dazu ist er bescheiden, hat natürliche Autorität. Petrenko zaubert einfach, und er scheint gerade erst damit angefangen zu haben. Da käme ein Job in Berlin ohnehin nicht zur optimalen Zeit.
Yannick Nézet-Séguin: Keine Angst vor Populärem
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Der Geheimtip: Yannick Nézet-Séguin, 40. Ein Könner und ein Kraftpaket, mit einer knallharten Schlagtechnik wie Erich Kleiber. Nézet-Séguin ist vielseitig und hat keine Angst vor Populärem. Sein Schumann schäumt, sein Mozart entzückt, er ist relativ jung und bestimmt topmotiviert für Berlin. Und ihm fehlt noch eine ganz große Herausforderung.
Er wäre eine überraschende Wahl, nicht ohne Risiko, aber mit Blick nach ganz weit vorn. Nézet-Séguin könnte in Berlin wachsen und den Philharmonikern eine Frischzellenkur verpassen, ohne gleich die Revolution auszurufen.
Riccardo Chailly: Solide, aber nicht betulich
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Der Solide: Riccardo Chailly, 62. Der Könner mit Ausdauer: Sowohl sein Beethoven- wie auch sein Brahms-Zyklus mit seinem Leipziger Gewandhausorchester brachten ihm jüngst höchstes Lob ein, vermeintlich allzu Bekanntes frischt der Italiener auf.
Ein Steher mit immenser Erfahrung - solide, ohne betulich zu wirken. Kraft und Visionen - wunderbar für ein Spitzenorchester wie die Berliner.
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Der coole Exot: Teodor Currentzis, 43. Nein, der wird es nicht werden, aber die Vorstellung hat etwas Berauschendes: Der wilde Grieche, der im russischen Perm die Oper rockt, einen unvergleichlichen Mozart darbietet und mit historischem Sound und wahnsinniger Akribie neue Klang-Maßstäbe setzt. Rau, leidenschaftlich, mitreißend. Der könnte ein ganz neues, junges Publikum in die Philharmonie locken, Pop mit seriösem Tiefgang.
Ein blendender PR-Mann in eigener Sache ist der intelligente Currentzis auch noch, nicht eben schlecht als Chef eines Markenartikels wie den Berliner Philharmonikern. Seine Berufung wäre ein mutiger Schattensprung.