Beth Ditto und Gossip Ein Popstar hat es dick
Das Sat.1-Frühstücksfernsehen ist auch schon da. Die Techniker haben Scheinwerfer aufgebaut, um die dunkelste Ecke eines Berliner Schrammelclubs grell auszuleuchten. Der Redakteur hat Barhocker ins Licht geschoben. Dort sitzt jetzt die dicke Frau und soll erzählen, warum sie sich auf der Bühne auszuziehen pflegt.
Die dicke Frau ist kein bisschen irritiert, sie ist solche Fragen gewohnt. Ihr schallendes Lachen füllt den Raum, dann stellt sie die Dinge klar: Mitnichten pflege sie sich auszuziehen, nur manchmal rutsche eines dieser Designerkleider unvorteilhaft nach oben und entblöße eine ihrer "grauen Oma-Unterhosen".
Der Sat.1-Journalist ist zufrieden. Er hat eine dicke Frau auf Band, die sich bereitwillig das für Amerikaner nur schwer auszusprechende deutsche Wort "Schlüpfer" auf der Zunge zergehen lässt. Und er hat die Versicherung von Beth Ditto im Kasten, dass sie nicht vorhat, auf Dauer der Welt den Anblick einer nackten dicken Frau zuzumuten. Das Publikum des Sat.1.-Frühstücksfernsehens kann beruhigt in den Tag starten.
Spielend Klischees aufmischen
Es ist ein Spiel, sagt Beth Ditto anschließend, man kann sich nur entscheiden, ob man mitspielen möchte oder ob man es lieber bleiben lässt. Ditto, knapp 100 Kilo schwer, 1,55 Meter groß, offen lesbisch, die beste Freundin von Kate Moss und neuerdings Liebling der Boulevardpresse, hat sich dazu entschieden mitzuspielen.
Dass Ditto nicht nur eine dicke Lesbe mit einem gesunden Selbstbewusstsein ist, sondern auch eine der gewaltigsten Stimmen ihrer Generation, dass ihre Band Gossip heißt und dass diese Band demnächst ein formidables neues Album namens "Music For Men" herausbringt - all das bleibt in diesem Medienspiel immer öfter auf der Strecke.
Die restlichen zwei Drittel der Band haben sich damit abgefunden. "Man kann die Medien nicht kontrollieren", sagt Gitarrist/Bassist Brace Paine, das einzige heterosexuelle Mitglied von Gossip. Und die flächendeckend tätowierte Schlagzeugerin Hannah Billie ergänzt: "Wenn sich die Leute lieber auf diesen VIP-Dreck konzentrieren wollen, dann ist das deren Problem, nicht unseres."
Pur und stur
Ein Problem, tatsächlich. Denn auf "Music For Men" klingen Gossip so gut wie nie. Mit der Hilfe von Starproduzent Rick Rubin hat die in Portland ansässige Band ihren aufs Allernötigste reduzierten Sound verfeinert, ohne dessen archaische Kraft aufzugeben.
Immer noch beruhen die Songs allein auf Schlagzeug, Bass und Gitarre, ergänzt von vorsichtigen Synthesizer-Einsprengseln. Über allem thront die beeindruckende, im Kirchenchor geschulte Stimme von Ditto. Das ist Punk, aber vor allem Soul, und in dieser jederzeit tanzbaren Verschmelzung hat man die beiden Genres zuvor noch nie gehört.
Mit ihrer Musik hat es allerdings nur bedingt zu tun, dass die Sängerin Beth Ditto mittlerweile zum Liebling des Boulevards geworden ist. Dass sie mit Noel Gallagher um die Häuser zieht, bei Modeschauen in Paris in der ersten Reihe sitzt und Kate Moss mit feministischem Gedankengut infiziert. "Die Presse ist verrückt geworden", sagt Ditto, die seit Jahren glücklich mit einem transsexuellen Mann zusammenlebt, "keine Ahnung, wie das passieren konnte, aber der Knackpunkt war wohl der 'NME'-Titel".
Im Juni 2007 präsentierte sie ihre nackten Rundungen auf dem Titelbild des "New Musical Express" und wurde dafür nicht nur von der australischen Feministin Germaine Greer gelobt. Dass sie vor drei Monaten den hüllenlosen Auftritt auf dem ersten Titelbild des neuen Mode-Magazins "Love" wiederholte, markierte dann die endgültige Ernennung der 28-Jährigen zur Mode-Ikone, die mittlerweile sogar Karl Lagerfeld und Stella McCartney entdeckt haben.
Breite Öffentlichkeit
Die überraschende Popularität nutzt sie, um ihre Anliegen in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen. "Fat Pride" und "Lesbian Pride", weibliche Selbstbestimmung und Homo-Ehe, das alles macht sie durch ihre bloße Existenz zum Thema: "Ich habe das Gefühl, das was ich tue, hat eine positive Wirkung auf Mädchen, die sich zu dick finden oder sich für hässlich halten, weil ihnen ihr ganzes Leben gesagt worden ist, sie seien dick oder hässlich. Diesen Mädchen gebe ich Selbstvertrauen, und das ist nicht nur wichtig für ihre Sexualität, sondern für ihr ganzes Leben."
Eine Haltung, die in Dittos Biografie begründet liegt. Die professionelle Außenseiterin wuchs auf im provinziellen, bigotten Arkansas, fühlte sich unverstanden, bis die Musik von Riot-Grrrl-Bands wie Bikini Kill oder Sleater-Kinney sie aus düsteren Gedanken rettete und der jugendlichen Beth Ditto die Selbstmordgedanken austrieb. "Heute", sagt sie, "ist es meine Aufgabe, ein 14-jähriges Mädchen davon abzuhalten, sich von einer Brücke zu stürzen."
"Vogue" hat Ditto zum "neuen It-Girl" ernannt und bereits plakativ gefragt: "Ist dick das neue chic?" Doch dass ihre überraschende Prominenz bereits ein Umdenken eingeleitet habe, eine Abkehr von Fitnesswahn und Schlankheitsdiktat, das bezweifelt Ditto: "Wenn ich mich so umsehe in den Medien, dann habe ich immer noch das Gefühl, dass da ganz andere Trends propagiert werden, Trends wie die Trenndiät."
Beth Ditto weiß sehr gut, dass der Mainstream sie momentan zwar feiert, aber noch lange nicht akzeptiert. Die Medien führen sie vor wie einen Freak, der sich ins Scheinwerferlicht verirrt hat. Dort darf sie ein paar Mal "Schlüpfer" sagen, damit dem Fernsehzuschauer morgens das Frühstück aus dem Mund fällt. Es ist ein Spiel und Beth Ditto ist der Hofnarr, von dem sich die Öffentlichkeit kritisieren lässt, so lange die Quote stimmt.
Gossip: "Music For Men" (Columbia/ SonyBMG)