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Cameron Carpenter: Meine Orgel und ich

Foto: Thomas Grube

Orgelzauberer Carpenter Wie ein Kind in der Schokoladenfabrik

Cameron Carpenter hat einst die Kirchenorgel für die Show entdeckt. Jetzt erdachte er für sich selbst ein ganz neues Instrument. Nicht im Konzertsaal war Premiere, sondern im Hamburger Mojo Club - doch die Revolution blieb aus.

Der Hamburger Kiez brezelt sich derzeit mit Architektur auf: Am Millerntor, wo nicht nur der FC St. Pauli spielt, sondern auch die Reeperbahn beginnt, steht seit Herbst 2012 ein neues Wahrzeichen, die "Tanzenden Türme", vom Hamburger Architekten Hadi Teherani in einer Hochhaus-Ästhetik entworfen, die auch von Bau-Laien noch als urban wahrgenommen wird. Sturmfest und doch in schwungvoller Bewegung, so wie sich die Hansestadt selbst gern sieht. Botox fürs Rotlicht-Antlitz.

Der Schatz der Türme jedoch liegt versteckt darunter, in den Katakomben. Nur wenn ein Programm ansteht, tut sich der Boden zu Füßen des Gebäudes auf, und man steigt hinab in den Untergrund. Dort ist im Februar 2013 der legendäre Mojo Club wiederauferstanden. Im Zuge der fortschreitenden Kiezrenovierung bekam der Club ein neues Heim.

Anders als die maroden und bald abgerissenen "Esso-Häuser" lebte der Mojo Club weiter und wollte mehr als ein popkulturelles Alibi sein. Raffiniert zwischen schick und schäbig gestylt, etablierte sich der neue Mojo Club als cooles Kiez-Symbol zwischen Lounge und Konzertsaal. Party und Konzerte erlebt man jetzt auf zwei Ebenen, schlicht möbliert, ohne Designer-Gedöns.

Die Orgel auf neuen Image-Höhen

Also der ideale Ort für einen Tasten-Tarzan wie Cameron Carpenter, der die Orgel zu neuen Image-Höhen führte - nicht nur die Hammond, sondern anfangs vor allem die ehrwürdige Kirchenorgel. Carpenter spielte, wenn es sein musste, mit Gewalt, rasender Verve und Expressivität, ohne Rücksicht auf Stilgrenzen. Dafür bekam er von den Bostoner Instrumentenbauern Marshall & Ogletree ein neues, digitales Orgel-Modell designt.

Carpenter hat schon, so will es die Legende, einige Kircheninstrumente durch aggressives Spiel zerlegt. Am Donnerstag feierte der 33 Jahre alte Künstler mit der neuen Orgel die Premiere seiner Deutschlandtournee im Mojo. Carpenter, auch äußerlich ein Exzentriker mit Glitzer-Boots, Pailletten-Tops und Wuselfrisuren, hatte sich diesmal für züchtiges Schwarz und einen angekräuselten Irokesen entschieden, eher dezent, um nicht allzu sehr von der Musik abzulenken.

Er begann den Abend ernst und seriös mit Bach und Tschaikowsky. Dessen durchaus poppige "Pathétique"-Symphonie, aus der Carpenter einen griffigen Part spielte, klang unter seinen Händen schon sehr nach "American Songbook" und Richard Rodgers. Zu dessen "Slaughter on Tenth Avenue" aus dem Jahre 1936 spannte Carpenter danach flugs den Bogen, auf den er an diesem Abend aus war: Alles ist möglich, alles ist gut, man muss nur das Große im vermeintlich Kleinen entdecken. Die Orgel macht alles mit.

Den variablen, vielstimmigen Klang bezieht Carpenter aus den vielen Registern seines halbrunden Spezialinstrumentes, die von chinesischen Gongs über vogelgleiches Zwitschern bis hin zu tiefsten, körperlich bedrängenden Basstönen reichen. Alles ist in dieser Orgel, und manchmal mag sich Cameron Carpenter wie das Kind in der Schokoladenfabrik fühlen, dem nun plötzlich alle Süße der Welt zugefallen ist. Solche Fülle schlägt dann eben auf den guten Geschmack.

So kann man darüber streiten, ob ein eher schlichter, aber berührender Song wie Gordon Lightfoots "If You Could Read My Mind" mit einer Fülle von Soundideen dekonstruiert werden und damit zur Zirkusnummer deklassiert werden muss. Songs wie etwa Patsy Clines "Back in Baby's Arms" mutieren im Hammond-Gewand zu Tanztee-Nummern, die an Walter Wanderleys "Rain Forest" erinnern, aber ohne dessen Stil und Genügsamkeit. So wird aus der M&O-Wunderorgel stellenweise wieder das gute, alte Kinoinstrument. Wenn sich Carpenter dann durch die Begleitmusik zu einem putzigen Käfer-Trickfilm wurlitzert, bekommt der Revolutionär schon wieder nostalgische Züge.

Wirklich wunderbar gelingen Carpenter sinnigerweise seine Darstellungen der vorklassischen Orgelmusik: Wenn er delikat den ersten Satz von Bachs sechster Triosonate für Orgel interpretiert, tut sich der Himmel auf. Und da seine umwerfend variable Orgel auch den Barock-Sound perfekt "drauf" hat, dürften Bach-Fans vollends entzückt sein.

Zu diesem Bach jubelte übrigens ein bunt gemischtes Publikum aller Altersschichten: Mit Künstlern wie Cameron Carpenter muss man sich um die Zukunft der Konzertmusik keine Sorgen machen.

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