CD-Kritik Bad Religion: "No Substance"
Skandalgeschichten über zerstörte Hotelzimmer, betrunkene Ausfälle oder Sex'n'Drugs and Rock'n'Roll gibt es nicht. Die Texte befassen sich statt mit Frustparolen und Zerstörungswut mit Themen wie Umweltverschmutzung, Überbevölkerung und Zensur.
Ihre Aufrufe zur Rebellion klingen wie Ratschläge wohlmeinender Lehrer: "Wissen ist Macht!" "Fortschritte lassen sich nur durch fundiertes Wissen und Intellektualität erzielen!" "Bildung ist kein Vorrecht der Elite!" Immerhin weiß Sänger und Texter Greg Graffin, wovon er spricht: Der 33jährige ist Dozent am amerikanischen Ivy-League College, Cornell University, und beendet gerade seine zweite Doktorarbeit. Er ist anerkannter Wissenschaftler auf dem Gebiet der Evolutionsgeschichte, aber auch einer der Väter des amerikanischen Punk. Seit 1980 tingelt Bad Religion mit ihrem aufklärerischen Pop-Punk durch die Welt.
Die Band ist auch auf dem zwölften Album ihrer Thematik treu geblieben. Die erste Singleauskopplung, "Hear It", befaßt sich - in gewohnter Manier - mit den leeren Phrasen von Politikern und Medien, und der Hörigkeit der Masse gegenüber Trends und Moden. Mit "No Substance" hat die Band ihr bisher melodischstes Werk abgeliefert. Direkten, schnellen Punk mischen sie chartsträchtig mit eingängigen Melodien, so daß erst beim aufmerksamen Hören die komplexen und fundierten Aussagen durchdringen.
Von den Anfangstagen als Garagenband haben sie sich inzwischen meilenweit entfernt, Graffins Texte sind ausgearbeitete Essays, über deren Inhalte und Wortwahl er nächtelang grübelt und die für ihn fast zur Besessenheit geworden sind. In der 18jährigen Bandgeschichte hat sich der gebildete Rebell Graffin mehr und mehr vom Drei-Akkorde-Punk entfernt. Auf dem neuen Album ist auch ein Duett mit Deutschlands Vorzeigepunk Campino ("Raise Your Voice") zu hören.
Interview mit dem Bandleader Greg Graffin.
SPIEGEL ONLINE: Wieso singt Campino in "Raise Your Voice"?
Graffin: Wir kennen uns schon seit Jahren. Die Themen, über die wir singen, unterscheiden sich zwar stark voneinander, aber wir haben beide das Anliegen, mit dem Publikum zu kommunizieren, statt zur Party aufzurufen.
SPIEGEL ONLINE:Worum geht es in dem Song?
Graffin: Eigentlich um unser Kernthema, nicht blind einem Führer nachzulaufen. Es gibt zu viele Rattenfänger, in der Politik, der Religion, in den Medien.
SPIEGEL ONLINE: Willst du nicht mal weg von den Oberlehrer-Themen?
Graffin: Meine Texte haben sich mit der Zeit verändert, ich sehe die Dinge nicht mehr nur schwarz und weiß, ich habe das Farbspektrum dazwischen entdeckt. Ich will die Leute immer noch wachrütteln, aber ich will nicht der Vordenker sein.
SPIEGEL ONLINE: Welche Verbindung besteht zwischen der Veränderung der Knochenstruktur in der Evolutionsgeschichte (Thema einer von Graffins Doktorarbeiten) und deinen politischen Songs?
Graffin: Neugierde und der Wille, Leute zum Nachdenken zu bringen. Ich provoziere gern, ich mache das im Klassenzimmer oder auf der Bühne. Ich habe ein wichtiges Talent, ich kann trockenen akademischen Stoff verständlich und interessant rüberbringen. Egal, ob an der Uni oder auf der Bühne, ich gebe Gedanken weiter.
SPIEGEL ONLINE: Danke, setzen! Das klingt alles sehr nach Musterschüler...
Graffin: Ich war nie ein guter Schüler, ich zweifelte und fragte zuviel, das mögen Lehrer nicht. In Mathe war ich hoffnungslos.
SPIEGEL ONLINE: Was reizt einen Musiker an der Wissenschaft?
Graffin: Es ist ein verdammt gutes Gefühl, daß es keinen Musiker gibt, der mehr von Evolution oder Geologie versteht als ich, und keinen anderen Wissenschaftler, der sich wirklich in allen Bereichen des Musikbusiness' auskennt.
Ich will nichts zerstören, sondern nur umgestalten, ich bin kein englischer Punk. Der riefe vor allem zu Aufständen und Zerstörung auf. Auf unserer Seite des Atlantiks ging es beim Punk vor allem darum, die Leute zum Nachdenken zu bewegen. Der englische Punk starb spätestens 1982, der amerikanische Punk war immer schon mehr eine politische Bewegung und ist zu einer neuen Form der Folk-Musik geworden. Das, was Dylan und Joan Baez in den Sechzigern waren.
Für mich ist Punk eine Einstellungssache, die man nicht am Outfit oder grünen Haaren festmachen kann. Punks sind für mich alle, die nicht mit dem Strom schwimmen. Fast alle großen Wissenschaftler und Entdecker sind gegen den Strom geschwommen, haben an ihren Ideen und Visionen festgehalten und sich nicht der schweigenden Mehrheit angeschlossen!
SPIEGEL ONLINE: Du redest wie ein Politiker.
Graffin: In zwanzig Jahren möchte ich für das Amt des Präsidenten der USA kandidieren, dann bin ich 53, das ist noch recht jung. Politiker geben sich oft als "Professional Celebrities", sie hüllen sich in diese mysteriöse Aura - das tun auch viele Musiker; Bowie oder Prince zum Beispiel. Diesen Snobismus lehne ich völlig ab. Wer ein Land regiert, der muß mit beiden Beinen auf dem Boden stehen und nicht im Elfenbeinturm sitzen, abgeschirmt von dem, was im Lande wirklich passiert!
SPIEGEL ONLINE: Und das Wahlprogramm wird auf CD gepreßt... Von was singst du auf dem neuen Album?
Graffin: Es beschäftigt sich damit, wie unsere Gesellschaft ziellos dahintreibt und immer unmenschlicher und oberflächlicher wird. Mode und Trends haben die inneren Werte ersetzt. Menschen radieren ihr wahres Gesicht, ihre Persönlichkeit und Individualität aus, um zu Barbie-Imitaten zu werden.
Es ist durchaus legitim, sich an Schönheit und Ästhetik zu erfreuen, aber Jugend und glatte Haut sind die Götzen der breiten Masse geworden, welcher Platz bleibt für Persönlichkeit, Bildung, Intellekt? Das sind die Fragen mit denen wir uns auf "No Substance" beschäftigt haben. Allerdings geben wir keine Antworten, sondern sagen, wo man sie finden kann: Nur in sich selbst, den eigenen Erfahrungen. Das Ziel ist nicht das Wichtigste, der Weg dorthin ist es.
Das Gespräch führte Gaby Schleinkofer
Bad Religion: "No Substance" (Dragnet/Epic): Sony