CD-Kritik Meret Becker - "Nachtmahr"
Grönemeyer, Westernhagen, Ochsenknecht, Schygulla... Schauspieler singen, die Herren machen in Rock, die Damen meist in Chanson. Meret Becker singt Moritate. Solche der finstersten Sorte. "Mich interessiert der Zustand, wo sich die Realität verschiebt, wo man nicht mehr weiß, was ist Wirklichkeit und was nicht", umreißt sie das Programm ihrer neuen Platte "Nachtmahr", "ein Gefühl, das jeder kennt, das aber nur noch Kinder zulassen und darüber staunen." Mit eigenen Texten und Melodien schafft Meret Becker eine spielerische Verbindung von deutschem Lied und französischem Chanson mit der finsteren Kunst der Moritat. Sie erzählt kleine böse Geschichten und stellt sich in die Tradition romantischer Grusel- und Schauergeschichten, die mit sublimer Erotik und übersinnlichem Thrill gegen die bigotte Moral der bürgerlichen Gesellschaft opponierten. "Ich mag die deutschen Balladen, diese ganzen Horrorgeschichten. Ich finde es großartig, daß man eine Geschichte nimmt - und Chanson' bedeutet für mich, über Musik eine Geschichte erzählen - und darin die Bilder sorgfältig kreiert und in Versform auf eine halbe Seite bringt."
Auf 12 Titeln gibt sie ihrem Alpdrücken musikalische Gestalt, Lieder voll kobolzender Schattenwesen und schräger Nachtgedanken. Selbst ein Liebesduett mit Produzent und Lebenspartner Alex Hacke ("Im Bauch") muß in dieser Umgebung etwas gruftig geraten. "Ich achte darauf, daß es bösartig genug ist. Nicht um die Leute zu verschrecken, einfach um nicht in Kitsch abzudriften. Der reine Pathos ist irgendwie langweilig, für mich sind die Brüche interessant. Über diese Brüche eine gewisse Härte zu behalten, ist mir wichtig."
Im programmatischen Zentrum der Platte steht die "Ballade vom kleinen Meretlein". Nach einem Bericht in Gottfried Kellers Roman "Der grüne Heinrich" wird das Schicksal eines 7jährigen Kindes besungen, das dem religiösen Wahn seiner Mitmenschen zum Opfer fiel. Otto Sander liest aus der beklemmenden Chronik, Becker überblendet leitmotivisch die Textpassagen. Eine aufsässige Kindlichkeit schwingt in ihrer Stimme, ein sanftes, weiches Timbre, das in einen bitterbösen Alptraum lockt. Der Gesangstil hat etwas Koboldhaftes, ansonsten kennt ihre Stimme jede Schattierung zwischen frivoler Sinnlichkeit ("Lolita"), plärrender Boshaftigkeit ("Marsch No 667") und klezmeresker Nestwärme ("Bobinke") annehmen kann. Den Stücken sind Klangbilder zugeordnet. Für "Lolita" baute sie aus Flaschen ein antikes Instrument nach. "Die wurden gefüllt und gestimmt, dann habe ich reingeblasen und die Töne gesamplet. Eine Flaschenorgel. Holzorgeln haben einen ähnlichen Klang, aber das Holz war mir zu lasch, nicht zickig genug."
Das filigrane Instrumentarium von singenden Sägen, diversen Bläsern, Spieluhren und Glasorgel wurde zu einem Stereopanorama arrangiert, in dem sich die Miniaturen szenisch entfalten. In diesem theatralen Klangraum wird die makabere Grundstimmung genüßlich dramatisiert.
Ob ihr die schattigen Geschichten in ihrem gegenwärtigen Zustand fortgeschrittener Schwangerschaft nicht etwas aufs Gemüt schlagen? Sie lacht: "Nein, Kinder mag ich am liebsten schön kroß durchgebraten."
Meret Becker: "Nachtmahr" (Philips)